In der vorwärts-Ausgabe vom 2. Dezember klärten wir über den NGO-Schwarm in Haiti auf. Nun erschien im «Tagesanzeiger» ein Bericht über die obskure Spendenpolitik Schweizerischer NGOs. In der eigenen Finanzpolitik geben sich die «wohltätigen» Organisationen reichlich unreflektiert – und deuten damit auf ganz andere Interessen als die der Menschenfreundlichkeit hin.
Sie sammeln für die Wohltätigkeit, aber letztlich ist die Wohltat für sie das Sammeln. Wir sprechen von den NGOs der Schweiz, von jenen Wohltätigkeitsvereinen wie der «Glückskette» oder der «Berghilfe». Schon in der letzten Ausgabe des vorwärts nahmen wir uns dem tatsächlichen Charakter von NGOs in Haiti und ihrer Rolle als «Vorboten des Neoliberalismus» an. Nun berichtet auch der Tagesanzeiger über die Organisationen, die innerhalb der Schweiz agieren. Für uns ist das der Anlass, weitere Überlegungen bezüglich des Wesens von NGOs anzustellen.
Der Tagesanzeiger scheint einem Skandal auf der Spur: Da gibt es doch tatsächlich Organisationen, die auf Geldbergen sitzen und für sich die Wohltätigkeit beanspruchen. So stellte sich heraus, dass NGOs wie Glückskette oder Heilsarmee nicht nur über Millioneneinnahmen verfügen, sondern dass diese Millionen auch beim Eingenommenen bleiben – sie werden eben nicht weitergereicht. Die Glückskette verfügt beispielsweise über 140 Millionen Franken an Kapital, die Heilsarmee über 226 Millionen. Ein Grossteil der Millionen sind dabei in Fonds angelegt. Die Organisationen selbst begründen diese unausgezahlten Gewinne mit dem Reservebedarf einer Wohltätigkeitsorganisation, denn man wolle unabhängig vom schwankenden Spendenmarkt sein und auch in Zeiten der Not nichts an Liquidität einbüssen. Tatsächlich verfügen die genannten NGOs allerdings über Geldberge, die einem vielfachen der ausgegebenen Jahresbeträge entsprechen. Und so kommt auch der Tagesanzeiger zur Frage: «Wozu also braucht die Berghilfe 129 Millionen Reserven, mehr als fünfmal den Gesamtaufwand?»
Der Spendenmarkt
Spendenorganisationen wollen Wohltäter sein; wohltätig ist man auch mit ihnen: Sie sind von Steuern oder zu zahlenden Dividenden befreit. Darin, das erkennt auch der Tagesanzeiger, liegt «wohl mit ein Grund, warum erfolgreiche Spendensammler solche Überschüsse anhäufen können». Was aber versäumt, weil nicht offen benannt wird, dem wollen wir hier nachgehen. Nähern wir uns also der Frage, die der Tagesanzeiger stellte. Wozu brauchen NGOs Reserven in Millionen und Abermillionenhöhe? Zuerst erscheint diese Tatsache zutiefst widersprüchlich. So sagt der ehemalige Wirtschaftsprofessor Max Boemle: «Der Spendenmarkt ist viel stabiler als die Wirtschaft mit ihren Umsatzschwankungen.» Und es heisst im Tagesanzeiger auch: «Die Gesamteinnahmen der Branche stiegen im 2009 um 8,3 Prozent auf 2,8 Milliarden Franken.» Wozu also gewaltige Reserven aufbauen?
Die Antwort ist bereits gegeben. Der stabile Spendenmarkt setzt eines voraus: Einen Markt um und für Spenden. Wachsende Einnahmen einer Branche beruhen auf der Existenz einer Branche – der Spendenbranche. Allerdings folgt der Markt seinen und nicht den Gesetzen der Menschlichkeit. Eben weil NGOs wie die Glückskette oder die Berghilfe Unternehmen sind, die ein Feld – den Spendenmarkt – bewirtschaften, folgt es ihrer inneren Logik, die Ausgaben zu senken und den Profit zu steigern. Die Ausgaben, das sind natürlich die tatsächlichen Aktivitäten, etwa die Unterstützungsleistungen der Berghilfe. Und in der gleichen Zeit, in der die Spenden stiegen, kürzte man die Ausgaben auf 20 Millionen. Der Profit, das ist jener magische «Reservenberg», den der Tagesanzeiger überrascht und bewundernd beim Wachsen betrachtet.
Die wohltätige Leistung ist eine Ware; die NGO ihr Produzent. Wie jeder Betrieb verschenkt die NGO ihre Ware nicht, sondern tauscht sie – gegen die Spende. Da ist es ganz gleich, ob es die Hilfe für in Bergnot geratene ist oder der renaturalisierte Bach; das Schema von NGOs in der letzten Etappe ihrer Entwicklung ist immer das selbe. Wir sind weit davon entfernt, zu sagen, dass jede NGO zu jedem Zeitpunkt diesem Muster entspricht. Wir sagen aber, dass ihre Entwicklung auf diesen Zustand zuläuft. Und notwendig auf ihn zulaufen muss.
Von der Entwicklungsgeschichte der NGOs
Die meisten NGOs werden mit dem guten Willen ihrer AktivistInnen gegründet. Es gibt die Idee, nach der man sich richtet. Allein: Die Idee – Hilfe für Menschen in Haiti, bessere Bedingungen für Tiere im Zoo – verändert die Welt noch nicht, sie muss in Taten übersetzt werden. Diese Übersetzung bedarf; wo man Reisen muss, Geräte braucht und derlei mehr; der Vermittlung. Das Instrument der Vermittlung, welches den schönen Gedanken auch Wirklichkeit werden lässt, ist Geld. Die harte Währung – für NGOs tritt sie in Form der Spende auf. Und während die meisten NGOs wohl anfangs von der guten Idee beseelt sein dürften, ist die Spende doch zu jedem Zeitpunkt ihr materieller Kern, ihre Grundlage. Und wie sie ihre Grundlage ist, bringt die Spende die NGO in ihre Abhängigkeit. Es ergibt sich die Erkenntnis, dass, will ich mehr tun, ich auch mehr Geld, also mehr Spenden brauche. Noch ist die Spende Mittel zum Zweck. Je weiter aber die NGO wächst, je mehr die Abhängigkeit vom Spendengeld hervortritt (weil nämlich die Aktivität engagierter AktivistInnen nicht mehr reicht, um immer grössere Projekte zu leisten, um auch noch die notwendige Medienarbeit zu machen), desto mehr tritt die Spende selbst in den Vordergrund. Das Mittel entwickelt sich zum Zweck, der Zweck wird zum Mittel herabgewürdigt: Die gute Tat vollbringt man noch, aber um der Spende willen.
Dieser Wechsel der Prioritäten schlägt sich in die innere Struktur der NGO durch. Wo anfangs AktivistInnen die notwendige Arbeit selbst und handwerklerisch verrichten, «profressionalisiert» sich die Arbeit der NGO mit ihrer zunehmenden Grösse. Die Arbeitsteilung, die Anfangs noch wenig ausgeprägt ist, setzt sich durch. Es gibt Abteilungen für das Generieren neuer Mitglieder, Medienabteilungen etc. Zuletzt werden gewisse Arbeiten ausgelagert; «outsourcing» macht auf vor wohltätiger Arbeit nicht halt. Deutlich wird das in der Schweiz etwa daran, dass diejenigen, die neue Mitglieder werben, oftmals gar nicht mehr bei oder in der Organisation selbst arbeiten. Ein ganz neuer Dienstleistungsbereich hat sich entwickelt: das Fundraising. So gibt es etwa «Corris», die für beliebige Organisationen die mühsame Mitgliedersuche übernehmen – natürlich gegen Bezahlung. Und wie die innere Arbeitsteilung wächst, so wächst auch die innere Hierarchie der NGO, die Administration. Wir wissen es: die Administration erhält sich selbst und ist gleichzeitig nicht kostenlos erhältlich. Deutschland hat seine Skandale in dieser Hinsicht schon seit längerem; etwa Porsche-fahrende Chefs der Wohltätigkeit; in der Schweiz ist zumindest die Berichterstattung über sie noch nicht weit ausgeprägt.
Zum Angriff auf die Gesellschaft
Aber warum entwickeln sich die NGOs so und nicht anders? Weil es kein richtiges Leben im falschen gibt. Oder länger: Weil die NGOs der Versuch sind, die Verhältnisse nicht gegen den, sondern im Kapitalismus zu verbessern. Sie arbeiten in einem Gesellschaftssystem, dessen Mechanik sie nicht oder selten reflektiert haben und bei dem sie sich, bestenfalls, gegen einige Äusserungen seiner selbst richten. Die NGOs wollen nicht die Gesellschaft ändern, sondern nur ihre Auswüchse – also ändert die Gesellschaft sie. Selbst zum Auswuchs geworden, nehmen sie die Mechanik der schlechten Gesellschaft an. Wohl notwendig, denn wo die NGO davon lebt und profitiert, steuerbefreit zu sein, da ist die Gesellschaft, die sie von den Steuern befreite, bereits zu ihrer Voraussetzung geworden. Und wie die NGO die kapitalistische Gesellschaft zu ihren Voraussetzungen zählt, zählt sie auch deren Logik, die profitorientierte Logik des Kapitalismus, zu ihren Bedingungen. So verkommt der Umgang mit Geld im Kapitalismus zum kapitalistischen Umgang mit Geld.
Für uns folgt aus all dem vor alle dem die Erkenntnis, dass die Spende an den wohltätigen Verein nicht das Mittel ist, die Gesellschaft zu verändern. Und das sagen wir auch in dem Bewusstsein, dass der vorwärts selbst auf die Spenden seiner Leser angewiesen ist – aber ihm wird man zu Gute halten müssen, dass er einerseits die Gesellschaft gesamtheitlich angreift und dass er andererseits eine Einsicht in die Notwendigkeit besitzt.