Die Idee allein reicht nicht aus!

Matin Baraki. Ein deutscher Philosoph vertrat im 19. Jahrhundert die These, dass die Philosophen die Welt unterschiedlich interpretieren, es käme jedoch darauf an, sie zu verändern. Was sagt uns ein deutscher Philosoph im 21. Jahrhundert dazu? Julian Nida-Rümelin versucht in seinem Buch: «Eine Ethik der Migration» eine Brücke zwischen Philosophie und Politik zu bauen.

Nida-Rümelin plädiert in der Migrations-Frage für einen humanitären politischen Handel. Denn nur dadurch sieht er eine verantwortungsbewusste und perspektivvolle Entscheidung möglich. Er weist darauf hin, dass die Fluchtursachen immer noch weiter fortbestehen, die durch «eines vom Westen mit zu verantwortenden politischen Chaos in Nordafrika und im Nahen Osten» (Seite 10) verursacht worden sei. Der völkerrechtswidrige Krieg gegen Irak und die Unterstützung der syrischen islamistischen, zum Teil terroristischen Opposition, waren u.a. weitere Faktoren, die eine ökonomisch und strategisch wichtige Region in zuvor nie dagewesene Kriege stürzte.
«Eine Welt mit offenen Grenzen und freier Migration würde zu gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen führen» (S. 11f). Ob autochthone Völker so unkontrollierte Migration ertragen, kann bezweifelt werden. Man dürfte sich von den «Gutmenschen» und der «Willkommenskultur» nicht täuschen lassen. Die schweigsame Mehrheit der Deutschen denke anders. Der Aufstieg der Partei, Die Alternative für Deutschland (AFD), die in Folge der Grenzöffnung durch die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Herbst 2015 ihren unerwarteten Aufschwung erlebte, deute auf eine politische Kräfteverschiebung mit unabsehbaren Folgen über die Grenzen Deutschlands hinaus. So eine Feststellung zu treffen und sich «von politischen Stereotypen» zu lösen, die sowohl bei den Linken als auch bei den Rechten sogar unter den Wissenschaftlern aller Couleur verbreitet seien, «erfordert geistige und politische Unabhängigkeit, es zu vertreten gelegentlich Zivilcourage» (S. 13), hebt der Autor hervor.

Braindrain am Hindukusch
Das zentrale Argument seines Buches sieht Nida-Rümelin darin, dass «die Aufnahme von Armutsflüchtlingen (…) kein vernünftiger Beitrag zur Bekämpfung von Weltarmut und Elend» (S.24) sein könne. Er spricht sich «aus kosmopolitischen und humanitären Erwägungen gegen eine Politik der offenen Grenzen» aus (S. 24). Allein aus den elf osteuropäischen EU-Staaten kamen bis Mitte November 2018 ca. 1,3 Millionen Fachkräfte nach Deutschland. Dieser «Braindrain» führe zu einem «massiven Verlust an Innovationskraft in den Ländern, aus denen die hoch qualifizierten Einwanderer kommen» (S. 26). Diese geistigen, kulturellen und ökonomischen Schäden seien nicht mehr reparabel. Das betrifft vor allem die Länder des globalen Südens, wo höchster Bedarf an Fachkräften besteht. Bis zum Februar 2018 waren insgesamt 220000 afghanische Asylbewerber*innen Deutschland registriert. Das sind zumeist arbeitsmotivierte und zum Teil ausgebildete junge Männer aus der Mittelschicht. Würde diese Fluchtwelle so weitergehen, dann blieben am Hindukusch Alte, Arme, Kriminelle, Warlords, Drogen- und Waffenhändler*innen. Von einem Wiederaufbau, geschweige denn einer Perspektive für das Land und das Volk könne keine Rede mehr sein, die in den globalen Norden migrierten Menschen gehörten «in ihren Heimatregionen in der Regel nicht zu den am meisten Hilfsbedürftigen» (S.103), stellt der Autor zu Recht fest.
Ohne dies genauer zu definieren, möchte Nida-Rümelin die Aufnahmeländer des Nordens, die von der Einwanderung profitieren, verpflichtet sehen, die Länder des Südens für den Nachteil und Verlust ihrer Manpower «vollständig zu kompensieren» (S. 152).
Hier wird nun der Philosoph zum Politiker. Es sei seit über einem halben Jahrhundert von der sogenannten Entwicklungshilfe bekannt, dass nicht projektegebundene Hilfe fast ausschliesslich den Eliten der Länder, aus denen die Migranten gerade jetzt kommen, zu Gute kämen. Die Kompensationszahlungen, von denen Nida-Rümelin schreibt, werden das gleiche Schicksal erleiden wie die Entwicklungshilfe. Den «Braindrain» kann man selbst mit viel Geld nicht kompensieren.
«Aus einer kosmopolitischen Perspektive ist Armutsmigration in der Regel die schlechteste Form der globalen Armutsbekämpfung» (S. 99). Denn Untersuchungen zeigten, dass selbst bei den «integrierten» Migranten die «immensen psychischen, kulturellen und sozialen Belastungen» (S. 99) enorm seien. Es könne sein, dass einige der Migranten sich im Westen «etablieren», aber von einer echten Integration, selbst nach über 70 Jahren (Gastarbeiter-Generation) könne kaum die Rede sein.

Machtasymmetrie beheben!
Damit eine etwaige gerechte internationale Ordnung gewährleitet werden kann, müsse die herrschende «Machtasymmetrie behoben werden» (S. 185). Wenn «nur die Potentaten machtloser Länder, besonders auf den afrikanischen Kontinent, international zur Rechenschaft gezogen werden, aber der eklatante «Bruch des Völkerrechts durch mächtige Länder ungesühnt bleiben» (S. 185), existiert die Asymmetrie fort. Der Polit-Philosoph Nida-Rümelin legt den Finger an die Wunde. Ihm ist nur beizupflichten. Ich hoffe, er wird mit seinen Thesen eine sachliche Diskussion im Gange bringen. Seinem Buch wünsche ich viele kritische Leser.

Nida-Rümelin, Julian: Über Grenzen denken: Eine Ethik der Migration, Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2017, 241 Seiten, 20 Euro.

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