Alles andere ist Quark

flo. Der Verlust des PdA-Sitzes in der Romandie hat weh getan. Dennoch bietet uns die Situation eine gute Gelegenheit, sich mit den Fragen des Parlamenta-rismus, des Reformismus und der Revolution eingehender auseinanderzusetzen. Glücklicherweise stehen wir in diesen Bereichen auf den Schultern einer Gigantin.

Ein Schock war es wohl nicht, der Sitz der Partei der Arbeit in Neuenburg wurde vor acht Jahren nach einer Legislaturperiode ganz ohne Kommunist:innen im Schweizer Parlament zurückerobert, der Solidarités-Sitz in Genf vor vier Jahren. In Neuenburg von einem Verlust eines «Wackelsitzes» zu sprechen, wäre verfehlt. Er war das Resultat der konsequenten Arbeit unzähliger Genoss:innen im Kanton, sowie auch in der gesamten Romandie. Und diese Arbeit ist auch nicht einfach mit dem Verlust im Nationalrat verloren gegangen.
Für viele – gerade auch in der reformistischen Linken – scheint jedoch die Arbeit im Parlament direkt die Definition von Politik zu sein. Und auch in der kommunistischen Bewegung gab es, so in Italien oder Frankreich, Flügel, die ihren Fokus viel stärker auf das Gewinnen von Mandaten legten, als es noch die Bolschewiki taten. Doch, wie mit dem Verlust des einzigen Parlamentsmandates auf nationaler Ebene umgehen? Sollten wir alles auf die Karte «Revolution» setzen und die Abwahl damit quittieren, dass Parlamente (erst recht in der aktuellen Krisensituation) zu keinen nennenswerten Verbesserungen führen? Ist ein antireformistischer Fatalismus die richtige Antwort auf die Situation? Oder eine kollektive Anstrengung, um in vier Jahren wieder eines, vielleicht sogar zwei Mandate zurückzuerobern, um im Parlament für graduelle Verbesserungen zu kämpfen?

Ein zweischneidiges Schwert
Glücklicherweise hängen wir bei der Frage nach dem besten Vorgehen als proletarische Organisation nicht irgendwo im luftleeren Raum. Zahlreiche Genos-s:innen haben sich eben jener Frage immer wieder gestellt. Und auch manche, die wir lieber nicht zu unseren Genoss:innen zählen möchten. So der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein, der ab 1896 «Marx‘ Zusammenbruchstheorie» revidieren wollte. Bernstein meinte dazu, dass der von Marx angekündigte, baldige Zusammenbruch des Kapitalismus Humbug sei, da das kapitalistische System durch Trusts und Aktiengesellschaften verfestigt worden sei. Da also der Untergang des Kapitalismus ausgeblieben sei, mache es auch keinen Sinn, revolutionäre Ziele im Programm der SPD zu halten. Bernstein brachte seine Linie mit dem Spruch «das Ziel ist mir nichts, die Bewegung ist mir alles» auf den Punkt. Er degradierte die Sozialdemokratie damit von der Geburtshelferin einer neuen Welt zur Verwalterin gradueller Fortschritte – und eben diese schrittweise Verbesserung der Lebensbedingungen sei die einzige Aufgabe einer SPD. Dumm nur, dass Marx nie konkret etwas zu einem «nahenden Zusammenbruch» des Kapitalismus geschrieben hat. Die Möglichkeit wurde von ihm und Engels erwogen (vor allem in den Frühwerken wie in Marx Grundrisse), aber nie im Sinne einer Glaskugelschau angekündigt. Es ist seltsam, wie Bernstein gegen eine Position anschrieb, die niemand in der Debatte so auch vertrat. Fast so, als hätte er seinen Diskurs nicht in der SPD-Presse des späten 19.Jahrhunderts, sondern heute auf Twitter angestossen.
Diese Sichtweise ist auf zynische Art und Weise fatalistisch. Sie entspricht aber in vielem der Geisteshaltung, die auch heute noch in grossen Teilen der Sozialdemokratie vorherrscht. Nicht weniger fatalistisch, ist aber eine Haltung, die beispielsweise in Lenins Schrift «Der linke Radikalismus – die Kinderkrankheiten im Kommunismus» kritisiert wurde. Eine Haltung, die eine positive Wirkung von Reformen ausschliesst (wenn man in die Untiefen der Theoretiker:innen der Verelendungstheorie abtaucht). Ihr teils gar eine negative Wirkung andichtet, da es den Werktätigen bei zu vielen Reformen zu gut für den Umsturz ginge. Zu unserm Glück gab es aber eine Theoretikerin des Marxismus, die ihn ihrer Antwort auf Bernsteins Revisionismus eine Herangehensweise an die Frage «Sozialreform oder Revolution» formulierte, die heute noch für uns gültig ist: Rosa Luxemburg.

Die rote Rosa
Luxemburgs Broschüre «Sozialreform oder Revolution» war eine direkte Antwort auf Bernsteins Thesen von der Bewegung, die alles bedeutet. Sie analysierte, dass Trusts und AGs keine Form der Selbstkontrolle des Kapitals, sondern im Gegenteil, eine Form seiner wuchernden Akkumulation, seiner unbegrenzten Anhäufung von Werten sei. Auch an das Ende der Krisen, wie Bernstein es angekündigt hatte, wollte Luxemburg nicht glauben. Auch wenn sich damals das Deutsche Reich in einer Konjunktur und im Frieden befand, die nächsten Krisen würden kommen. Und auch die Gewerkschaften würden trotz teils beeindruckender Erfolge in ihren Kämpfen für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen die Ausbeutung letztlich nie ganz mit dem Mittel des Arbeitskampfs und des Tarifstreits überwinden können. Es sei daher auch bei einer scheinbaren Stabilisierung des Systems nötig, «den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft», also für eine soziale Revolution, aufrechtzuerhalten.
In ihrer Schrift entwickelte Luxemburg denn auch erste Ansätze ihrer Imperialismustheorie, nach der (wie schon bei Marx angetönt), das Kapital auf der Suche nach neuen Profitmöglichkeiten über den ganzen Erdball getrieben werde. Der Kapitalismus zwingt – stets bedroht durch Konkurs oder Konkurrenzkampf – die ganze Welt bis in die entlegensten Winkel in die Marktwirtschaft. Die vermeintliche Demokratisierung des Kapitalismus über Kartelle und Trusts ist am Ende nicht mehr als die Entfesselung von Akkumulation, die Durchsetzung der kapitalistischen Diktatur auf dem ganzen Erdenrund.

Kein dritter Weg
Obwohl Luxemburg (ebenso wie Gramsci) teils für die seltsamsten reformistischen Vereinnahmungsversuche herhalten muss, war sie keinesfalls für einen dritten Weg. Sie war durch und durch Revolutionärin. Aus Warschau schrieb sie 1906: «Die Revolution ist grossartig, alles andere ist Quark». Zentral war für Luxemburg ein Ineinandergreifen von Reform und Revolution. Der Alltagskampf für bessere Lebensbedingungen war für sie eine der wichtigsten Pfeiler der revolutionären Arbeit. In diesen Kämpfen schmiedet das Proletariat ein Bewusstsein, wird sich ihrer Stärken bewusst und schafft sich die Bedingungen für den weiteren Kampf. Wer 16 Stunden in der Fabrik stehen musste, ging am Abend vielleicht nicht noch unbedingt – oft schwach vor Hunger – an eine Sitzung. Doch ein Selbstzweck dürfte diese «revolutionäre Realpolitik» nie sein. Der Umsturz der herrschenden Ordnung müsse für solche konkreten Verbesserungen der Lebensbedingungen stets das oberste Prinzip sein.
Verabschiedet man sich nämlich vom Ziel einer sozialistischen Revolution, um bessere Wahlergebnisse zu ermöglichen – so wie es die Sozialdemokratie in Deutschland spätestens mit dem Sündenfall der Kriegskredite wenige Jahre nach der Debatte zwischen Luxemburg und Bernstein getan hatte – und sich beim Bürgertum als potenzielle realpolitische Partnerin zu präsentieren, so verabschiedet man sich auch vom Ziel des Sozialismus.

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