Eine andere Ordnung ist möglich

Cyril Schäublin

Lea Fäh. Wie prägt die Epoche der 1870er-Jahre die Gegenwart? Und wie können wir heute unsere Zukunft neugestalten? Der Film «UNRUEH» regt zum Denken an über unsere gegenwärtige Organisation von Arbeit und Zeit. Der vorwärts sprach mit Regisseur Cyril Schäublin.

Die Uhrenfabrikarbeiterin Josephine und der intellektuelle Revolutionär Pyotr trotzen im Film «UNRUEH» dem industriellen Kapitalismus zu ihrer Zeit. Regisseur Cyril Schäublin sagt auf Anfrage des vorwärts: «Ich interessierte mich vor allem für den Arbeitsalltag in einer Uhrenfabrik und dafür, wie er die Wahrnehmung der Zeit bei der Belegeschaft prägte.» Er wünschte sich, die Werktage, die seine Vorfahrinnen in den Fabriken verbracht haben, in einem Film portraitieren und für die Nachwelt festhalten zu können. «Während den Recherchen zum Film wurde mir bewusst, dass fast nur Informationen zu männlichen oder bürgerlichen Personen des 19.Jahrhunderts in den Archiven zu finden sind. Deshalb entstand die Idee, die Arbeit der Regleusen-Arbeiterinnen filmisch in den Fokus zu stellen.»

Kapitalistisches Konstrukt
«UNRUEH» lädt ein, sich unserer Gegenwart bewusst zu werden. «Die Auswirkungen der neuen Technologien von damals sind auch heute noch deutlich spürbar», erklärt Schäublin. Die ständige Zeitmessung durch die Verbreitung von Uhren organisierte Arbeit und Alltag nach festgelegten Zeitplänen. Der Telegraf ermöglichte die Fernkommunikation und schliesslich, wie wir heute über die verschiedensten Kanäle wie Telefon, Brief, E-Mail, SMS oder Social Media kommunizieren. Film und Fotografie veränderten das politische Bewusstsein und deren Repräsentation. Die Presse trug den in dieser Zeit aufkommenden Nationalismus und dessen Geschichtsnarrative in die Welt. «Welche Bausteine wurden in dieser Epoche noch gelegt, um unsere Gegenwart zu konstruieren?», wirft der Filmschaffende als Frage in den Raum.
Sein Werk will neue mögliche Entwürfe der heutigen Ordnung beleuchten. «Handelt es sich bei den Definitionen von Arbeit und Zeit, die im frühen industriellen Kapitalismus entwickelt und etabliert wurden, vielleicht nur um Fiktionen? Gibt es so etwas wie eine kapitalistische Mythologie, die unser tägliches Leben unterschwellig mitbestimmt? Und welche anderen Erzählungen wären möglich?», holt Schäublin aus.
In seinem Film wolle er eine internationalistisch agierende, anarchistische Gemeinschaft erzeugen, welche neue Ordnungen und Organisationsformen vorschlägt. Er nennt als Beispiel: «Statt nationalistische Grenzen und Strukturen von Staaten als festgesetzte Territorien zu verstehen, kann auch die Arbeiter*innenklasse als Raum, in dem man sich begegnet, wahrgenommen werden. So wie dies im 19.Jahrhundert von Teilen der anarchistischen Bewegung suggeriert wurde.»

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Wie in den 1870er-Jahren sind wir auch heute mit neuen Technologien konfrontiert, die umstrukturieren, wie wir uns organisieren. «Indem wir unsere eigene Zukunft mit neuen Technologien gestalten, bauen wir aber weiterhin auf unserer eigenen Vergangenheit auf», sagt Schäublin. Darüber sollen die Zuschauer*innen seines Films sinnieren. Geschichtsschreibung sei immer eine Auswahl und Zusammensetzung von Informationen und gebe deshalb mehr Einblick in die Gegenwart als in die Vergangenheit. In diesem Sinne interessiere sich der Film dafür, wie die Interpretation der Vergangenheit die Zusammensetzung unserer Gegenwart bestimmt, führt er aus.
Das ist für Schäublin zentral: «Mich beschäftigt, wie wir unsere eigene Geschichte in Beziehung zu unserer Gegenwart setzen, und wie wir sie möglicherweise umschreiben, wie wir Geschichte definieren und welche Informationen wir ihr entnehmen, um neue politische Strukturen in unserer Ge-genwart aufzubauen.»
Regisseur Schäublin garantiert Gesprächsstoff nach dem Film und gibt im Austausch mit dem vorwärts sein Denkanstoss: «Welche Elemente des historischen Gedächtnisses werden heute nachgespielt und wie wird das unsere Zukunft prägen?»

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