Nur eine Antwort möglich: Streik!

sit. Als der Weltkonzern Amazon seinen Angestellten in Italien mitteilte, die
Zuschläge für Sonn- und Feiertage zu streichen, platzte den Arbeiter*innen der Kragen. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde die Lieferkette von Amazon unterbrochen. Ein Arbeitskampf, der weltweit Schule machen muss.

«Wir alle haben eine Flasche zum Pinkeln im Wagen, um keine Zeit zu verschwenden, auch wenn man immer hofft, dass man sie nicht benutzen muss», erzählen sie fast im Refrain. Natascia, Andrei, Marco und Dario sind »Driver» (Fahrer*innen). Angestellt sind sie bei der Transportfirma Unicotras, ein Subunternehmen des Weltkonzerns Amazon. Sie liefern täglich Pakete in der Stadt Rom und Umgebung aus. «Als uns mitgeteilt wurde, Amazon wolle Sonn- und Feiertage als normale Arbeitstage vergüten, um so Lohnkosten zu sparen, platzte uns der Kragen. Streik ist die einzige mögliche Antwort darauf», sagen sie der Kollegin der kommunistischen Tageszeitung «il manifesto».
Es ist der erste Streik der drei Arbeitskolleg*innen. Und es ist gleich ein historischer: Am 22.März fand der erste nationale Arbeitskampf beim US-Onlinehändler Amazon in Italien und somit weltweit statt. Die für den Konzern so wichtige Lieferkette wurde unterbrochen. Die «Driver» und die Arbeiter*innen in den sogenannten «Hubs» (Magazine) verschränkten die Arme für 24 Stunden und forderten Rechte, Schutz und Garantien.

Lohnbonus für den Müll
Die Arbeitsbedingungen sind nett ausgedrückt beschissen. Auf dem Papier betragen die Schichten neun Stunden. «Wir müssen eine Stunde vor Beginn der Tour auf dem Parkplatz des Magazins sein und vor der Übernahme des Lieferwagens die Checkliste unterschreiben», erklärt Natascia. Eine Stunde, die nicht bezahlt wird. Denn offizieller, heisst bezahlter Arbeitsbeginn ist dann, wenn die «Driver» losfahren. Ein Algorithmus legt die Anzahl der Lieferungen fest. «Der Algorithmus kümmert sich einen Dreck um den Verkehr, um die Staus, um die Tatsache, dass es keine Parkplätze gibt, um die Stosszeiten», sagt Natascia. Die Strafzettel müssen selbst bezahlt werden. Der Selbstbehalt bei Schäden beträgt 500 Euro, obwohl die Lieferwagen der Firma gehören.
«Wir reisen mit einer Geschwindigkeit von 380 Paketen pro Tag», erklärt die 31-jährige weiter. Sie fügt hinzu: «Willst du in zehn Stunden durch sein, bedeutet es 38 Pakete pro Stunde, den Transporter vollstopfen und viele Pakete auf den Beifahrersitz legen». Und der Lohn? Die Verträge sehen drei bis fünf Arbeitstage pro Woche vor. «Wenn du fünf Tage zugeteilt bekommst, liegen 1500 Euro im Monat drin. Aber auch nur dann, wenn du alle Lieferungen schaffst. Die Anzahl wurde im letzten Jahr fast verdoppelt», erzählt Andrei. Und was ist mit dem Lohnbonus, der Amazon so gerne in den Vordergrund stellt? Den gibt es tatsächlich. «Die/der beste Fahrer*in des Monats bekommt eine Anstecknadel. Wir nennen sie ‹die Anstecknadel des Idioten›. Ich habe eine Menge davon zu Hause, aber jetzt werfe ich sie in den Müll», sagt Marco.

Menschliche Roboter
Im Magazin Fc01 in Passo Croese rund 40 Kilometer nördlich der italienischen Hauptstadt ist alles robotisiert. Rund 2600 Personen arbeiten hier. Die eine Hälfte hat eine Festanstellung, die andere ist im Temporärverhältnis angestellt mit den entsprechend schlechteren Arbeitsbedingungen. Die meisten Ar-beiter*innen erledigen ihre Aufgaben in Kabinen aus Plexiglas ohne direkten Kontakt zueinander – menschliche Roboter. Der 49-jährige Rosario arbeitet seit Oktober 2017 im Fc01. Zuerst elf Monate als temporäre Arbeitskraft, dann bekam er eine Festanstellung. «Ich bin ein ‹Picker› und fertige 1500 Pakete am Tag ab. Zwar alles mithilfe des Roboters, aber die Arbeit bleibt trotzdem körperlich sehr anstrengend», berichtet Rosario, der sich in der Gewerkschaft engagiert. Tag- und Nachtschicht (von 22.30 bis 6 Uhr) wechseln jede Woche ab. Er verdient 1280 Euro netto im Monat. «Wir halten es nicht mehr aus. Der psychologische Stress, unter dem wir stehen, ist enorm. Und dann hast du einen Vorgesetzten, der dich jeden Tag bewertet und dir ständig sagt: ‹Du kannst mehr tun›».
65 Prozent der Festangestellten haben sich am Streik beim Magazin Fc01 beteiligt. Von den Arbei-ter*innen mit einem zeitlich begrenzten Arbeitsvertrag haben sich nur ganz wenige für die Arbeitsniederlegung entschieden. «Ich verstehe sie sehr gut. Ich weiss aus eigener Erfahrung, was es heisst, temporär angestellt zu sein bei Amazon», sagt Rosario. Temporärangestellte werden permanent dazu aufgefordert, so viel wie möglich zu arbeiten. Ihnen wird so Hoffnung gemacht, eine Festanstellung zu bekommen. Eine Hoffnung, die sich trotz des Booms durch Pandemie zuletzt als vergeblich erwiesen hat: «Von den 2000 Aushilfen, die zu Weihnachten eingestellt wurden, wurde keine fest übernommen», hält Rosario fest .
Auch die beiden «Driver» Andrei und Marco haben nur einen Temporärvertrag. «Wir sind bei der sechsten und letztmöglichen Verlängerung des befristeten Vertrags. Am Ende des Monats stellen sie uns entweder fest ein oder sie schicken uns nach Hause. Aber wir kämpfen lieber, als dass wir nachgeben», sagen sie stolz unisono.

Je grösser die Ausbeutung…
Die Forderungen der Amazon-Beschäftigten sind einfach: Verkürzung der Arbeitszeit, eine Obergrenze für Lieferungen, Anerkennung von Überstunden, höhere Bezahlung an Feiertagen. Zum Streik aufgerufen hatten verschiedene Gewerkschaften, darunter auch die Cgil. Sie verlangt nun «eine rasche Aufnahme von Verhandlungen», um ein Abkommen im Sinne der Arbeiter*innen zu unterzeichnen. Bisher hat der multinationale Konzern dies immer verweigert.
Einfach zur Erinnerung: Der Online-Anbieter Amazon ist einer der ganz grossen Gewinner der Pandemie. Der Gewinn im Jahr 2020 verdreifachte sich und betrug knappe acht Milliarden Dollar. Es ist eben so, wie es Karl Marx erklärte: je grösser die Ausbeutung, desto höher der Profit.

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