Nach Nestlés Diktat

Die Warnhinweise, die Nestlé in Rage brachten und dazu führten, dass der Weltkonzern sich beim Seco meldete. Bild. zVg

lmt. Um eine weitere Eskalation der Gesundheitsprobleme in Mexiko zu verhindern, wurde eine neue Gesetzesvorlage entworfen. Sie sieht schwarze Stoppschilder für hoch verarbeitete Produkte vor. Nestlé, als führender Konzern in dieser Branche, sieht eine Bedrohung darin und fordert Hilfe vom Schweizer Staat. Recherchen der NGO Public Eye bringen den Skandal ans Tageslicht.

Am 15.November 2019 bekommt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) eine Mail von niemand geringeren als dem Weltkonzern Nestlé. Im Anhang der Mail befinden sich «eine Zusammenfassung und Kernaussagen zu den beiden dringenden Problemen, mit denen wir es in Mexiko zu tun haben». Das hier nennenswerte Problem: die NOM-051. «Wir würden uns über Ihre Hilfe und Ihre Empfehlungen für unsere Lobbyarbeit freuen», steht im Schreiben weiter.
Das Seco antwortet rasch: «Darf ich Sie fragen, an wen in Mexiko sich die in Erwägung gezogene Intervention richten muss, da Sie diese Entwicklungen genauer verfolgt haben als wir.» Bevor interveniert werde, würde man sich mit Nestlé in Verbindung setzen und Rücksprache halten. Was steckt hinter der NOM-051, welche Nestlé so beschäftigte, dass sie die Hilfe der Schweizer Behörden benötigt?

Hoch verarbeitet
Im November 2016 rief die mexikanische Regierung angesichts des Ausmasses und der Tragweite der Fälle von Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) einen nationalen epidemiologischen Notstand aus. Die aktuellsten Zahlen zur Problematik stammen aus der nationalen Gesundheitsstudie von 2020. Sie sind erschreckend: Unter den fünf- bis elfjährigen Kindern sind 38 Prozent übergewichtig oder gar fettleibig. Und unter den Mexikaner*innen ab 20 Jahren leiden gar 74 Prozent daran.
Einer der Hauptgründe liegt in der exponentiellen Zunahme an hoch verarbeiteten Lebensmitteln und Getränken. Das sind industriell hergestellte Produkte und bestehen hauptsächlich aus Fetten, Öle, Stärken, Zucker ergänzt mit künstlichen Farb- und Aromastoffen oder Stabilisatoren. Nestlé ist einer der führenden Konzerne, was hoch verarbeitete Lebensmittel anbelangt. Der Zusammenhang zwischen dem Konsum solcher Produkte und Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs ist wissenschaftlich hinreichend belegt.

NOM-051
Um der immer grösser werdenden Bedrohung Herr zu werden, sprach sich im Sommer 2019 in Mexiko der Gesundheitsausschuss der Abgeordnetenkammer für «einfache und verständliche», «wahrheitsgemässe» und «sichtbare» Warnhinweise auf der Vorderseite von verpackten Lebensmitteln aus. Die «Norma Oficial Mexicana 051», kurz NOM-051, ist geboren. «Sie sieht fünf schwarze Stoppschilder vor, mit dem Schriftzug «Exceso», also Übermass an gesättigten Fetten, Kalorien, an Salz, an Transfetten und an Zucker vor», berichtet Public Eye in ihrer Recherche. Zudem soll – nach dem Vorbild Chiles – verboten werden, für solche Produkte mit Comicfiguren oder Berühmtheiten zu werben. Für Nestlé geht es nun ans Eingemachte, so wie Public Eye berichtet: «In Mexiko erzielte Nestlé im Jahr 2019 fast drei Milliarden Franken Umsatz.» Der Einzelhandel-Verkaufswert von Nestlé-Produkten, denen ein oder mehrere Warnhinweise drohen, belief sich auf über eine Milliarde Franken.

Seco, der beste Freund von Nestlé
Nestlé schreibt im Memorandum ans Seco Anfang November 2019 eine klare Stellungnahme zur NOM-051 und legt damit auch gleich den Standpunkt des Seco fest. Die von Mexiko vorgesehene Norm sei «viel restriktiver» als das chilenische Gesetz, weil es die achteckigen Warnhinweise mit einem restriktiveren Nährwertprofil verbindet. Zudem sieht der mexikanische Vorschlag grössere Einschränkungen für die Bewerbung und den Verkauf von mit Label übersäten Produkten vor. Zu guter Letzt sollten Warnhinweise, wie sie Mexiko vorsehe, grundsätzlich «vermieden» werden. Nestlé zu Folge würden diese bei den Käufer*innen nur «unnötige Ängste» hervorrufen.
Das Seco nimmt die Beschwerden Nestlés sehr ernst. Das Memorandum wird intern weiter verschickt und es wird nach Anhaltspunkten gesucht, welche die Sichtweise Nestlés unterstützen. Dabei kommt das Seco zu folgenden Schlüssen: Den von Mexiko festgelegten Schwellenwerte fehle es an «einer wissenschaftlichen Begründung». Die Schweiz solle zusätzlich auf den sogenannten «Codex Alimentarius» hinweisen, eine Sammlung von Normen für Lebensmittelsicherheit und -qualität, herausgegeben von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Der Codex legt jedoch keine Höchstwerte für bestimmte Nährstoffe fest. Und vor allem: Die Länder haben das Recht, Massnahmen zu ergreifen, die «über die Codex-Leitlinien hinausgehen», um die Gesundheit ihres Volkes zu schützen.
Allerdings hat das Seco noch eine weitere Ausrede im Ärmel: Die Einführung eines Labels auf freiwilliger Basis, so wie es in der Schweiz gemacht wird. Damit meint es den Nutri-Score, ein ganz besonderes und heimtückisches Nährwertkennzeichnungssystem, das ein Lebensmittel in Bereiche zwischen rot (schlecht) bis grün (gut) einteilt, bei dem allerdings getrickst werden kann. Durch die Zugabe von positiv bewerteten Nährstoffen wie Ballaststoffe oder Proteine kann ein ungesundes und für den Körper schädliches Produkt in den grünen Bereich gedrückt werden und so den Anschein eines «gesunden» Produktes erwecken. Über 60 Prozent der Nestlé-Produkte sind ungesund. Welches Kennzeichnungssystem wird Nestlé wohl eher in den Kragen passen?

Staatliche Lobbyarbeit für Nestlé
Die PAHO, der amerikanische Ableger der WHO, verglich Ende 2020 die schwarzen Warnhinweise mit fünf weiteren Labelling-Systemen, unter anderem mit dem Nutri-Score. Sie kam zum unmissverständlichen Schluss: «Eindeutige Warnungen auf der Vorderseite der Verpackung von Lebensmitteln, die zu viel Fett, Zucker und Natrium enthalten, sind der beste Weg, um Menschen dabei zu helfen, die ungesundesten Einkäufe zu vermeiden.»
Dessen ist sich auch das Seco bewusst. In seinem Schreiben vom 9.Dezember 2019 an die mexikanischen Behörden erinnert die Schweiz dennoch daran, dass sich hierzulande «grosse Lebensmittelhersteller – und importeure» bereit erklärt hätten, auf «rein freiwilliger Basis» den Nutri-Score einzuführen. Man möchte Mexiko «höflich fragen», ob auch «weniger handelseinschränkende Massnahmen» in Betracht gezogen worden seien. Ansonsten repetiert das Schreiben im Wesentlichen die Punkte, die Nestlé per Memorandum an das Seco übermittelt hat. Im Februar 2020 interveniert der Seco-Mitarbeiter am TBT-Treffen an der Seite der EU und der USA und erklärt, dass man bei der NOM-051 «spezifische Handelsprobleme» sehe. «TBT» steht für «Technical Barriers to Trade», deutsch: technische Handelshemmnisse. Das Abkommen wurde von der Welthandelsorganisation WTO ins Leben gerufen, um zu verhindern, «dass technische Vorschriften den Handel negativ und unverhältnismässig beeinträchtigen».

Der Sieg Mexikos
Trotz aller Interventionen des Seco und der Lobbyarbeit Nestlés lässt sich Mexiko nicht in die Knie zwingen. Am 1. Oktober 2020 trat die NOM-051 in Kraft. Die PAHO bezeichnet die Norm als «die fortschrittlichste und umfassendste Regelung weltweit». Und die mexikanischen Behörden meinen es ernst mit der neuen Gesundheitsregelung: Über 10000 Produkte von 80 Marken, die nicht korrekt beschriftet waren, wurden aus dem Verkehr gezogen – darunter zwei Sorten Cornflakes von Nestlé.

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