Die westliche Unterstützung für die Ukraine bröckelt

dom. Die neusten Entwicklungen in Polen, der Slowakei und den USA zeigen: Im Westen wachsen die Zweifel an einer bedingungslosen Unterstützung des ukrainischen Staates. Weil dahinter kein Gesinnungswandel, sondern national-ökonomische Überlegungen stehen, ist dies gar kein Grund zur Freude.

Der Krieg in der Ukraine ist längst zum Abnutzungskrieg geworden: Das Gerede von mal mehr, mal weniger erfolgreichen Offensiven und Gegenoffensiven ändert nichts an der Tatsache, dass es seit vielen Monaten zu keinen nennenswerten Verschiebungen der Fronten mehr gekommen ist. Währenddessen reist Selenskyj durch die Staaten des Westens und sucht nach Unterstützung, Geld und Waffen. Doch er wird nicht mehr mit denselben offenen Armen empfangen wie noch vor einem Jahr. In den Regierungen und Parlamenten der EU und der USA wird die Kritik an den westlichen Sanktionen und der finanziellen Unterstützung des ukrainischen Staates lauter.

Bedrohung der heimischen Getreideproduktion in Polen
Zum Beispiel in Polen: Vor Ausbruch des Ukraine-Krieges wurde ukrainisches Getreide vorwiegend übers Schwarze Meer exportiert. Danach mussten die Exporte durch EU-Länder wie Polen, Ungarn, Rumänien oder Bulgarien umgeleitet werden, weshalb die Europäische Union Handelsbeschränkungen gegen die Ukraine erliess. Sie wollte sicherstellen, dass es auch tatsächlich bloss beim Transport durch die EU-Länder blieb und nicht zu ungewollten Verkäufen kam. Auf diese Weise sollten die einheimischen Landwirtschaftsbetriebe der Transitländer vor Verkäufen billigen ukrainischen Getreides geschützt werden. Nachdem kürzlich die EU-Handelsbeschränkungen ausgelaufen sind, wurden diese von Polen, Ungarn und der Slowakei auf eigene Faust verlängert.
Das sorgte für Spannungen innerhalb der Europäischen Union. Wie weit diese führen können, wurde innerhalb der vergangenen Wochen deutlich. So meinte etwa der polnische Landwirtschaftsminister Robert Telus: «Wenn wir heute keine Regelungen dafür finden, wird Polen mit Sicherheit keinem EU-Beitritt der Ukraine zustimmen. Wir müssen heute Regelungen finden, denn wir werden noch länger mit den ukrainischen Produkten leben müssen». Und Ministerpräsident Mateusz Morawiecki fügte hinzu: «Die Ukraine muss verstehen, dass die Sicherheit Polens genauso wichtig ist wie ihre Sicherheit».
Zwar wurde inzwischen ein Teil der Streitigkeiten beigelegt: Anfang Oktober einigte man sich gemeinsam mit Litauen auf eine Beschleunigung des Transitverkehrs ukrainischer Exporte in Märkte Afrikas und des Nahen Ostens. Wie Robert Telus gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP meldete, würden künftig Lieferungen für Drittmärkte, die über litauische Häfen verschifft werden, an der polnisch-ukrainischen Grenze nicht mehr kontrolliert.
Doch die Situation bleibt angespannt und offenbart die divergierenden Interessen innerhalb der EU. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Jakub Morawiecki hatte der Ukraine vorgeworfen, «mit unkontrollierten Exporten polnische Bauern in den Ruin» zu treiben. Er betonte ausserdem, «Polen könne der Ukraine keine weiteren Waffen mehr liefern, weil es ‹selbst kämpfe› und mit der eigenen Aufrüstung ausgelastet sei». Auch die Drohung bezüglich EU-Beitritt verweist auf künftige Interessenkonflikte im europäischen Raum.

Regierungswechsel in der Slowakei
In der Slowakei waren zeitgleich ähnliche Streitereien entbrannt – doch der slowakische Landwirtschaftsminister hatte sich nach wenigen Tagen mit der Ukraine darauf geeinigt, das Einfuhrverbot für ukrainisches Getreide aufzuheben. Allerdings zeichnet sich nun mit dem Wahlsieg von Robert Fico und seiner Partei «Smer» ein Kurswechsel in der slowakischen Aussenpolitik ab. Während die nach Wähler:innenstimmen zweitplatzierte «Progressive Slowakei» (PS) für eine vollumfängliche Weiterführung der Unterstützung der Ukraine plädiert, hatte Fico im Wahlkampf die gegenteilige Position stark gemacht. Er will die Aufrüstung der Ukraine stoppen und die Kriegsparteien so rasch wie möglich an den Verhandlungstisch bringen.
Inzwischen wurde Fico von der Präsidentin Zuzana Caputova beauftragt, eine Regierung zu bilden. Von der Wahl seiner Koalitionspartner hängt der weitere Verlauf der slowakischen Aussenpolitik ab. Zur Bildung einer mehrheitsfähigen Regierungskoalition ist Fico vor allem auf die Stimmen der drittplatzierten «Hlas» (eine Smer-Abspaltung) und der «Slowakischen Nationalpartei» (SNS) angewiesen. Aber bezüglich der Ukraine sind die drei Parteien sich uneinig: Im Gegensatz zu Fico befürworten die beiden anderen eine Fortführung der militärischen Unterstützung. So hatte Peter Pellegrini, Führer der «Hlas», den Vorteil von Munitionslieferungen für die slowakische Rüstungsindustrie betont.

USA
Aber nicht nur auf dem europäischen Kontinent scheint die umfassende Unterstützung des ukrainischen Staates zu bröckeln: Auch in den USA werden die Stimmen lauter, die sich gegen weitere Ausgaben für den nun bald zwei Jahre andauernden Stellvertreterkrieg äussern. Verglichen mit den politischen Verschiebungen in Europa dürfte diese Entwicklung Selenskyj aber echte Sorgen bereiten: Die ukrainische Armee ist auf Gedeih und Verderb auf Waffen und Informationen angewiesen, die von den USA und ihren Verbündeten geliefert werden. Das weiss inzwischen auch die NZZ: «Die Existenz des ukrainischen Staates hängt derweil nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich von den USA ab», schreibt sie. Und warnt: «Bleibt die Hilfe aus Washington am Ende jedoch aus, droht der Ukraine eine bittere Niederlage».
Der Umfang der westlichen Hilfe für die Ukraine entspricht dem, was die USA zwischen 2002 und 2020 im Durchschnitt jährlich in Afghanistan ausgaben, und (preisbereinigt) dem, was sie im Durchschnitt jährlich für die Fortsetzung des Vietnamkriegs bezahlten. Dem wollen nun vor allem (aber nicht nur) rechtsaussen stehende Republikaner:innen ein Ende bereiten. Anfang Oktober wären die USA beinahe in einen Shutdown geschlittert, weil sich die obersten Mandatsträger:innen nicht auf einen neuen Regierungshaushalt einigen konnten. Erst kurz vor Ablauf der Frist hatte Präsident Biden einen Kompromiss unterzeichnet, der Abstriche bei der finanziellen Unterstützung für die Ukraine machte. Biden hatte weitere 24 Milliarden US-Dollar für die Ukraine gefordert, die nun aber nicht gesprochen wurden. Freilich bedeutet diese nicht die Einstellung der US-amerikanischen Beteiligung am Krieg. 113 Milliarden US-Dollar waren zuvor bereits abgesegnet worden, die Aufrüstung geht in nach wie vor beeindruckendem Ausmass weiter.
Aber die Stimmung könnte kippen und die Republikaner haben, indem sie ihre Zustimmung zum Regierungshaushalt von der Streichung weiterer finanzieller Hilfe für die Ukraine abhängig gemacht haben, angedeutet, in welche Richtung sich die US-amerikanische Aussenpolitik im Falle eines republikanischen Wahlsiegs 2024 entwickeln könnte. Biden versucht zu beschwichtigen: An einer Telefonkonferenz wenige Tage nach dem Beinahe-Shutdown versammelte er seine wichtigsten Verbündeten, um weitere Unterstützung für die Ukraine zu koordinieren und positive Signale auszusenden. Neben Olaf Scholz, Ursula von der Leyen und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg waren auch die Staats- und Regierungschefs aus Grossbritannien, Frankreich, Italien, Kanada, Japan, Polen und Rumänien zugeschaltet.
Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Westen vor einer Zerreisprobe steht. So meinte etwa Max Bergmann, Direktor des Programms für Europa, Russland und Eurasien am Center for Strategic and International Studies, dass sich die politische Polarisierung auf den aussenpolitischen Konsens der USA ausgeweitet habe und dieser immer mehr zerbreche. Ein hochrangiger Kongressmitarbeiter sagte gegenüber der «Financial Times», die Unterstützung für die Ukraine unter den Republikanern, sei zwar, vor allem im Senat, nach wie vor gross – doch Biden werde künftig die Strategie hinter der militärischen Hilfe für Kiew besser erläutern müssen. Und ein ehemaliger Berater der Republikaner-Führung im Repräsentantenhaus warnte ebenfalls in der Financial Times: «Wenn Sie das Geld für die Ukraine mögen, sieht es nicht gut aus. Es könnte in Zukunft einen Weg zu einer Art von Abkommen geben, aber der Preis dafür wird bei den Republikanern im Repräsentantenhaus ziemlich hoch sein».

Vorerst bleibt alles beim Alten
Angesichts dieser Entwicklungen sahen eifrige Unterstützer:innen des ukrainischen Staates schon das Ende der «humanen Weltordnung» hereinbrechen und Europa unter dem Joch von «Putin-Faschisten» stehen. In der ehemals linken TAZ war zu lesen, das Votum für einen US-Übergangshaushalt ohne Ukraine sei «Washingtons Einstieg in den Ausstieg aus einer humanen Weltordnung». Die Ablehnung weiterer finanzieller Mittel entspreche einem «Fallenlassen der Ukraine samt all ihren Menschen, die sich seit anderthalb Jahren todesmutig gegen Putins Angriffskrieg stemmen, und freier Hand für die Putin-Faschisten, die von der Unterwerfung Europas träumen». Wem an «Menschenwürde» etwas liege, müsse «jetzt alles in den Sieg gegen Russland
investieren».
Den Erhalt der «Menschenwürde» an den Sieg des ukrainischen Staates zu knüpfen, ist angesichts dessen Verfasstheit schon ziemlich abwegig. Selbstverständlich gilt es die Würde des Menschen in alle Richtungen zu verteidigen (oder erst zu erkämpfen) – gegen Putin ebenso wie gegen Selenskyj oder die US-amerikanische Führung. Aber wer die von USA angeführte, kapitalistische Weltordnung als «human» versteht, hat linke Standpunkte ohnehin meilenweit hinter sich gelassen.
Allerdings sollten im Umkehrschluss die Anzeichen für eine schwindende Unterstützung des ukrainischen Widerstands auch nicht als Erfolg gefeiert werden. Die bröckelnde Unterstützung für den ukrainischen Staat bedeutet keine politische Wende hin zum Einsatz für eine rasche Friedenslösung. Sie bedeutet ganz einfach, dass den einzelnen Nationalstaaten die Kosten für den Krieg zu hoch werden. Abgesehen davon bleibt vorerst alles beim
Alten.

 

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