«Die humanitäre Hilfe wird selbst aktiver Teil einer genozidalen Kriegsführung»

sit. Unter dem Deckmantel der Hilfe wird in Gaza humanitäre Hilfe militarisiert: Versorgung als Kontrolle, Hunger als Waffe. Eine in Genf gegründete Stiftung spielt dabei eine zentrale Rolle – angeführt von Ex-Militärs und finanziert aus militärisch- industriellen US-Kreisen.

«Welche Zusammenstellung von Buchstaben kann eine Szene beschreiben, in der ausgehungerte Menschen erschossen werden, während sie für Essen anstehen? Eine Szene, die sich nicht einmal, sondern vielfach abgespielt hat», schreibt Radwa Khaled-Ibrahim. Sie ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit der NGO Medico International Deutschland. Auf ihrem Beitrag auf der Webseite von Medico ist weiter zu lesen: «Zivile Strukturen, die humanitäre Hilfe in Gaza leisteten, wurden angegriffen, die UNRWA delegitimiert und ihre finanziellen Mittel gestrichen, lokale und internationale Helfer:innen getötet, Institutionen und Strukturen der lokalen Zivilgesellschaft zerstört, Menschen auf der Suche nach Hilfe getötet oder durch vom Himmel fallende Hilfspakte erschlagen.»

Geplantes Verbrechen
In Gaza findet eine Militarisierung der Hilfe statt. Militarisierung in diesem Zusammenhang bedeute, «die Kontrolle darüber auszuüben, wem welche Hilfe an welchen Orten zugänglich gemacht und wem sie vorenthalten wird», erklärt Khaled-Ibrahim. Auf diese Weise werde die Hilfe zum «politischen und militärstrategischen Instrument, ohne dass global verpflichtende humanitäre Standards eingehalten werden».
Die Militarisierung der humanitären Hilfe erfolgte nach einem klaren Plan: Zuerst wurde die Einfuhr von Gütern durch willkürlichen Ausschluss und langwierige Kontrollen begrenzt – und so die Handlungsmöglichkeit ziviler Organisationen eingeschränkt. Dann wurden die Hilfslieferungen ganz gestoppt und die Menschen in Gaza ausgehungert. Nach elf Wochen Blockade wurden sie einer angeblichen humanitären Organisation ausgeliefert: der von Israel und den USA unterstützten und kontrollierten Gaza Humanitarian Foundation (GHF). Und an dieser Stelle kommt auch die Schweiz ins Spiel.

Die Schweiz als stille Komplizin
Die GHF wurde im Februar 2025 in Genf gegründet und hatte ihren Sitz an der Place de Longemalle 1. Als Stiftung mit dem erklärten Ziel, humanitäre Hilfe für vom Konflikt im Gazastreifen betroffene Menschen bereitzustellen, sollte die GHF vor allem Nahrung, Wasser, Medikamente, Unterkünfte sowie Wiederaufbaumassnahmen organisieren. Doch hinter dem humanitären Anspruch verbirgt sich eine enge Verflechtung mit ehemaligen US-Soldat:innen und Geheimdienstmitarbeiter:innen. Die Führung der Stiftung bestand aus Personen mit Verbindungen zu privaten US-Sicherheitsfirmen, die vor Ort in Gaza für die Logistik und die Sicherheit bei der Verteilung der Hilfsgüter verantwortlich sind.
Die Tatsache, dass eine Organisation mit derart offensichtlicher Nähe zur US-Rüstungsindustrie ausgerechnet in Genf, der angeblichen «Welthauptstadt der Humanität», eine Stiftung gründen konnte, wirft auch Fragen zur politischen Rolle der Schweiz auf. Diese steht längst im Widerspruch zur stillschweigenden Komplizenschaft mit westlicher Kriegsführung – sei es durch die Ansiedlung von Unternehmen, die militärisch-humanitäre Mischformen ermöglichen, sei es durch diplomatische Absicherung unter dem Deckmantel der «Neutralität». Die Schweiz bietet nicht nur juristische Infrastruktur, sondern auch politischen Schutz – durch Wegschauen.

Humanitär?
Das US-amerikanische Unternehmen Safe Reach Solutions (SRS) mit Sitz in Delaware übernahm die operative Planung und Logistik der GHF-Einsätze in Gaza. Gegründet wurde SRS vom ehemaligen CIA-Offizier Phillip F. Reilly, unterstützt wurde das Unternehmen finanziell von der Private-Equity-Firma McNally Capital aus Chicago. SRS betrieb die Verteilzentren und koordinierte die Sicherheitsmass-nahmen vor Ort.
UG Solutions, ein Sicherheitsunternehmen aus North Carolina, stellte bewaffnete Sicherheitskräfte für die GHF bereit. Das Unternehmen rekrutierte ehemalige US-Spezialkräfte, die für ihre Einsätze Tagesgehälter von bis zu 1250 US-Dollar erhielten und durch eine Unfallversicherung von bis zu 500000 US-Dollar abgesichert waren. Ihre Aufgabe bestand unter anderem in der Kontrolle von Fahrzeugen an Checkpoints und der Sicherung der Verteilzentren.
Zusätzlich arbeitete die GHF im Rahmen eines von den USA, Ägypten und Katar unterstützten Konsortiums mit ägyptischen Sicherheitsfirmen zusammen, die an bestimmten Kontrollpunkten die Sicherheitschecks übernahmen und eng mit den US-Firmen kooperierten.

Geopolitische Machtpolitik
Die GHF gibt an, über 100 Millionen US-Dollar an finanziellen Zusagen erhalten zu haben, um ihre Hilfsmassnahmen umzusetzen. Die Finanzierung der GHF erfolgte überwiegend durch Zuschüsse und Aufträge der US-Regierung sowie durch private Geldgeber aus dem US-amerikanischen Sicherheits- und Investmentsektor. Ein wesentlicher Anteil der Mittel stammte aus US-Bundesprogrammen, die zur Stabilisierung und Kontrolle von Konfliktregionen bereitgestellt wurden. Die US-Agentur für internationale Entwicklung (USAID) hat beispielsweise 2024 Mittel in Höhe von zwölf Millionen US-Dollar für «verschiedene ausländische Empfänger» im Westjordanland und Gazastreifen bereitgestellt. Private Investoren, darunter auch McNally Capital, unterstützten die Stiftung über ihre Beteiligungen an Partnerfirmen wie Safe Reach Solutions.
Kritiker:innen weisen darauf hin, dass die Finanzierung der GHF aus militärisch-industriellen Kreisen die Unabhängigkeit der Stiftung massiv beeinträchtigt. Der Menschenrechtsexperte Prof. Markus Bär vom
Institut für Friedensforschung kommentierte: «Wenn humanitäre Organisationen von Investoren aus dem militärisch-industriellen Komplex finanziert werden, besteht die Gefahr, dass die Hilfe zu einem Instrument geopolitischer Machtpolitik degradiert wird. Die Trennung zwischen humanitärer Fürsorge und strategischem Kalkül verwischt so vollständig.»

Ein krasser Bruch
Der Stiftungsrat der GHF bestand aus drei Mitgliedern mit Einzelzeichnungsberechtigung: David Kohler (Wohnsitz Schweiz), David Papazian (Präsident, Wohnsitz London) und Loik Samuel Marcel Henderson (Wohnsitz USA). Nach dem Rücktritt von Kohler fehlte ein Stiftungsratsmitglied mit Wohnsitz in der Schweiz, wodurch die Stiftung gegen gesetzliche Anforderungen verstiess. Zudem verfügte die GHF über keine Schweizer Bankverbindung. Dies führte zu einer Überprüfung durch die Eidgenössische Stiftungsaufsicht (ESA). Im Mai 2025 stellte die GHF daraufhin ihre Tätigkeit in Genf ein. Ob und wo die GHF ihren neuen Sitz hat, war bei Redaktionsschluss weiterhin unklar.
Klar hingegen ist, wie die GHF vor Ort in Gaza agiert. Die schrecklichen Bilder, wie Menschen zwischen Zäune gedrängt auf Essen warten, gingen um die Welt. Mithilfe von hochwertiger Technologie zur Gesichtserkennung wurden diese Menschen darauf überprüft, ob sie mit der Hamas verbunden seien, um sie dann von der Hilfe auszuschliessen. Es ist dies ein krasser Bruch mit dem Prinzip der humanitären Hilfe, unparteiisch zu agieren. «In Gaza bekommt die humanitäre Hilfe eine neue Qualität der Komplizenschaft, denn ihre Grundfesten werden nicht nur ignoriert, sie wird nicht nur ausgehöhlt, sondern sie wird selbst aktiver Teil einer genozidalen Kriegsführung», bringt Khaled-Ibrahim das Verbrechen auf den Punkt.

Tote pflastern den Weg
Klar sind auch die Absichten der ach so humanitären US-Stiftung. Khaled-Ibrahim von Medico schreibt dazu: «Die GHF umgeht gezielt die UNO und unterstützt durch den Aufbau der Verteilzentren ausschliesslich im Süden das israelische Ziel, den Norden Gazas weiter zu entvölkern.» Dies bestätigt auch UNICEF-Sprecher James Elder: «Israel hat deutlich gesagt, die Menschen in den Süden drängen zu wollen. (…) Humanitäre Hilfe wird zur Waffe, um Menschen in die Falle zu locken – Menschen, die am Ende ihrer Kräfte sind und keine andere Wahl haben.»
Leichen pflastern dabei den Weg der GHF. Bei mehreren Einsätzen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) im Jahr 2025 kam es zu tödlichen Zwischenfällen mit zahlreichen zivilen Opfern. Anfang Juni wurden über 80 Palästinenser:innen erschossen, als sie versuchten, an Hilfsgüter zu gelangen. Die Verteilzentren standen unter Bewachung durch israelische Soldaten und private US-Sicherheitsfirmen wie Safe Reach Solutions. Infolge der eskalierenden Lage stellte die Organisation ihre Aktivitäten im Gazastreifen vorübergehend ein. Bereits am 23.März hatte es einen weiteren tödlichen Vorfall gegeben: In Rafah wurden bei einem israelischen Angriff mindestens 15 Sanitäter getötet – unter ihnen Mitarbeitende des Palästinensischen Roten Halbmonds, der UNRWA und des Zivilschutzes. Es war einer der schwersten Angriffe auf humanitäre Einsatzkräfte seit Jahren.

Keine zufälligen Opfer
«Gleichzeitig hat die Instrumentalisierung der Hilfe entsprechend militärischen Bedürfnissen nicht in Gaza angefangen und wird nicht in Gaza aufhören», hält Khaled-Ibrahim weiter fest. Die sich etablierenden menschenfeindlichen Politiken auf globaler Ebene zeige dies deutlich. Dazu gehöre auch das politische Kalkulieren, wo «es sich lohnt, Menschen am Leben zu halten, wo es erforderlich ist, sie zu töten oder sterben zu lassen.» Sie fügt hinzu: «Die Entscheidung darüber, wessen Leben zählt, ist nicht willkürlich: Sie zieht sich als Color Line durch unsere Geschichte und Gegenwart.»
Was mit der Color Line (Farbgrenze) gemeint ist, formulierte der afroamerikanische Intellektuelle W.?E.?B. Du Bois vor über einem Jahrhundert sehr pointiert: «The problem of the twentieth century is the problem of the color line.» («Das Problem des zwanzigsten Jahrhunderts ist das Problem der Farbgrenze.») Mit diesem Satz machte er eine tiefe Trennlinie sichtbar, die Gesellschaften nicht nur in den USA, sondern weltweit prägt. Diese Color Line bezeichnet eine strukturelle Grenze, die
darüber entscheidet, wer geschützt wird und wer systematisch marginalisiert oder vernichtet wird. Was Du Bois vor über einem Jahrhundert als Trennlinie zwischen Schwarzen und Weissen beschrieb, verläuft bis heute durch globale Krisen, Kriege und Katastrophen. Die
Color Line entscheidet auch im 21.Jahrhundert darüber, wessen Leben zählt – und wessen nicht. Sie zieht sich durch die internationale Berichterstattung, durch politische Entscheidungen, durch den Zugang zu humanitärer Hilfe – und durch das Ausbleiben jeder Konsequenz, wenn Dutzende Menschen beim Versuch, einen Sack Mehl zu bekommen, erschossen werden.
Die Toten von Gaza sind keine zufälligen Opfer. Ihr Sterben folgt einer rassistisch strukturierten Weltordnung, in der koloniale Logiken fortbestehen – und in der angebliche humanitäre Organisationen wie die GHF zu Instrumenten dieser Ordnung werden.

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