Der Sieg der Taliban im globalen Kontext

Der Abzug der Nato-Soldat*in-nen aus Afghanistan besiegelt das Fiasko der Westmächte. Bild: crimethinc.com

Redaktion. Ein Veteran der US-Besatzung Afghanistans analysiert die Niederlage der USA. Er stellt dabei die Taliban, die Besatzung und ihre Folgen in den Kontext einer weltweiten Welle des Faschismus und Fundamentalismus, die auch in den Vereinigten Staaten an Boden gewinnt.

Ich bin ein Veteran der Besatzung von Afghanistan. Alles, was ich jetzt erzähle, stammt aus meiner Erfahrung aus erster Hand, als ich dem Imperium zehn Jahre lang diente. Als Geheimdienstanalyst und Unteroffizier habe ich Teams, Trupps und Einheiten von Soldat*innen geleitet und geführt. Aufgrund meiner Erfahrung mit Luftüberwachung und Aufklärung wurde ich für ein Rüstungsunternehmen rekrutiert. Zu den Verteidigungsunternehmen, für die ich arbeitete, gehörten L3, Boeing und Lockheed Martin. Ich trainierte über drei Jahre lang Einheiten in den USA und in Afghanistan und war für diese Firmen dreimal in Afghanistan im Einsatz. Ich war auch Teil des Einsatzteams einer Einheit, die eine der grössten Basen im Süden Afghanistans verwaltete.
Es musste erst einer meiner Soldaten sterben, um das alles in die richtige Perspektive zu rücken. Danach begann ich unter den Auswirkungen der CPTSD (Complex Post-Traumatic Stress Disorder – komplexe posttraumatische Belastungsstörung) zu leiden. Die klassischen Merkmale: Alkohol- und Drogenkonsum, der Verlust von Beziehungen, Depressionen, Selbstmordgedanken. Ich suchte aber auch Hilfe. Ich schloss mich dann den «Iraq Veterans Against the War» an und verband mich mit aktuellen und ehemaligen Soldat*innen, die gegen den US-Imperialismus kämpfen. Ich begann so einen Prozess der Politisierung, in dem ich über Militarismus, Imperialismus, Kolonialismus und weisse Vorherrschaft lernte.

Ressourcen für das US-Imperium sichern
Während ich dies schreibe, haben die Taliban die Kontrolle über Kabul und damit über das gesamte Land Afghanistan übernommen. Der von den USA unterstützte Präsident Ashraf Ghani ist nach Tadschikistan geflohen, während Mitglieder der afghanischen Armee in Nachbarländer fliehen oder sich den Taliban-Kämpfern ergeben.
Ich kann den Sieg der Taliban nicht feiern. Während sie gegen eine imperialistische, kapitalistische Besatzung gekämpft haben, repräsentieren sie das Schlimmste von religiösem Fundamentalismus, Patriarchat und Hierarchie. Dennoch ist es beeindruckend zu sehen, wie der Vorhang herunter gerissen wird und den amerikanischen militärischen Sonderfall als das entlarvt, was er ist: zwanzig Jahre verschwendetes Geld, Jugend und Blut.
Nach dem, was ich gesehen habe, geht es bei den sogenannten Antiterror-Operationen der USA vor allem darum, Märkte für US-Militärtechnologien und -produkte zu schaffen und Ressourcen für das US-Imperium zu sichern. 20 Jahre lang haben wir lokale und regionale Warlords gestützt und ihnen Waffen, Geld und Rüstung gegeben, damit sie unsere Streitkräfte nicht angreifen würden. Wir gaben ihren Todesschwadronen grünes Licht und nannten sie die lokale afghanische Polizei. Von Syrien und dem Irak bis hin zum Jemen und ganz Afrika, in unseren 800 Militärbasen, kenne ich keine einzige militärische Mission, die hauptsächlich darauf ausgerichtet ist, Frieden und Stabilität zu schaffen.

Zermürbungskrieg
Die Legitimität der Taliban ist in ihrer Fähigkeit verwurzelt, Schutz und religiöse Führung zu bieten, lange vor der US-Invasion. Während meiner Zeit in Afghanistan haben wir nie ein Gebiet ausserhalb unserer Basen und Aussenposten kontrolliert. Die Taliban führten zwanzig Jahre lang eine erfolgreiche Aufstandsbekämpfung durch. Sie unterhielten eine Schattenregierung, trieben Steuern ein, schlichteten soziale, kulturelle und wirtschaftliche Streitigkeiten, kontrollierten die Landwirtschaft und warteten die ganze Zeit ab. Sie führten auch Akte extremer Gewalt aus, wodurch sie in Gebieten Fuss fassen konnten, die sie vor dem Krieg nicht kontrolliert hatten.
Am Ende waren die Taliban in der Lage, die Kontrolle zu übernehmen, weil sie verstanden haben, dass es in einem Kampf gegen koloniale Besatzung wesentlich darauf ankommt, einen Zermürbungskrieg zu überleben. Zwanzig Jahre lang, in denen sie die Ineffektivität einer korrupten, von der Nato unterstützten Regierung demonstrierten, hielten sie die normativen und hierarchischen Kontrollsysteme aufrecht, die sie vor der US-Invasion errichtet hatten.

Auf beiden Seiten der Grenze
Die Taliban profitierten von den Stammes- und ethnischen Strukturen Afghanistans, einem komplexen Geflecht aus Loyalitäten und sozialen und kulturellen Bindungen, das die US/Nato-Truppen nie ganz verstehen konnten. Afghanistan wurde, wie andere Nationalstaaten des ehemaligen Britischen Imperiums, ohne Rücksicht auf ethnische und religiöse Demographien geschaffen. Das Ergebnis war eine Bevölkerung, die sich aus Paschtun*innen, Tadschik*innen, Hazara, Usbek*innen, Aimak, Turkmen*innen und Belutsch*innen zusammensetzte — Gruppen mit einer grossen Bandbreite an Kulturen und Bräuchen. Einigen fiel es leicht, sich mit der Nato zu verbünden, während andere sie strikt ablehnten.
Die Taliban waren fast ausschliesslich Paschtunen – die dominierende ethnische Gruppe Afghanistans, die 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Die Paschtun*innen leben auf beiden Seiten der afghanischen Grenze zu Pakistan und entlang des südlichen Teils des Landes. Ihre sozialen Verbindungen und Traditionen reichen über die kolonialen Grenzen des Landes hinaus. Dies machte es ihnen leicht, sich zwischen sicheren Zufluchtsorten in Pakistan zu bewegen und dabei eine Lücke in der militärischen Kontrolle der Nato auszunutzen.

Loyalitätsverhältnisse
Wenn ich über die vielen Momente nachdenke, die verdeutlichten, warum der Krieg sinnlos war, erinnere ich mich an meine Zeit auf dem Kandahar Airfield. Eine Basis, die mindestens 22 000 Soldat*innen, Dienstleister*innen und Zivilist*innen beherbergte. Dort erfuhr ich, dass der Schattenbezirkskommandeur der Taliban der Schwager des amtierenden Generals der afghanischen Luftwaffe war. In Anbetracht der Bedeutung von Stammes- und Familienbeziehungen in der paschtunischen Kultur war es offensichtlich, dass die Loyalität des Generals gegenüber der von der Nato unterstützten Regierung niemals Vorrang vor dieser familiären Beziehung haben würde. Die Verbindungen zwischen diesen beiden Warlords, auch wenn sie formell als befeindete Kämpfer galten, stellten sicher, dass keiner den anderen zu besiegen versuchen würde. Diese Art der Verbindung zwischen vermeintlichen Feinden ist mir mehrfach begegnet, von meinen Interaktionen mit normalen Bürger*innen bis hin zum damals amtierenden afghanischen Präsidenten Hamid Karzai.
Die US-Besatzung hat es zwanzig Jahre nicht geschafft, den Widerstand der Taliban zu schwächen, weil es nie eine Zeit gab, in der die Mehrheit der Bevölkerung die Besatzungstruppen als legitim ansah. Bomben und Kugeln allein sind nicht in der Lage, einen Krieg gegen eine entschlossene Bevölkerung zu gewinnen. Im Gegensatz dazu waren die von den USA unterstützte Regierung und das Militär durch und durch eigennützig und korrupt. Hauptsächlich durch persönlichen Gewinn motiviert, kämpften die Nato-Truppen ihre Schlachten.
Da sie nur relativ kurze Zeit im Land verbrachten, waren sie nie in der Lage, Vertrauen oder Respekt aufzubauen. Ständig tauchten neue Einheiten und neue Leute auf, die keine Ahnung hatten, wo sie sich befanden oder was vorher gemacht worden war. Dieser Mangel an Respekt war essentiell für den Aufstand.

Nicht weit von den Taliban entfernt
Der Fundamentalismus der Taliban ist nicht wesentlich für ihren Erfolg. Imperien zerbröckeln von ihren Extremitäten nach innen: Der US-Rückzug aus Afghanistan ist Teil eines grösseren Prozesses, in dem der geopolitische Einfluss der USA auf der ganzen Welt erodiert. Der chinesische Staat könnte in der Region an Macht gewinnen; wir könnten eskalierende Machtkämpfe zwischen Indien und Pakistan erleben. Die Frage ist, was als nächstes kommen wird – in Afghanistan und auf der ganzen Welt.
In diesem Moment der Geschichte sehe ich im Kern des amerikanischen Imperiums eine aufstrebende konservative Bewegung. In deren Politik und Ideen charakterisieren sich der gleiche Fundamentalismus, das Patriarchat und die Hierarchie, die auch die Taliban widerspiegeln. Die Meinungen, die ich von konservativen Kreisen in den USA höre in Bezug auf Frauen*körper, LGBTQIA+-Gemeinschaften, Migrant*innen und allen, die als Aussenseiter*innen angesehen werden, stimmen mit der gewalttätigen Weltsicht überein, die durch die religiösen Lehren der Taliban gerechtfertigt wird. In den USA verbreitet die autoritäre Rechte einen Mythos der Schande um den amerikanischen Mann – eine Mythologie über Feminisierung, Niederlage, Kontroll- und Machtverlust. Sie haben diese Mythologie seit Jahren entwickelt, und die Niederlage in Afghanistan wird nur Öl ihn ihr Feuer giessen. Die Gewalt und der Hass, den wir in den Strassen durch jahrelange faschistische Mobilisierungen erlebt haben, ist die direkte Folge einer Nation, die die Lügen eines verlorenen Krieges verherrlicht hat. «Patrioten» und Proud Boys, die «Right Wing Death Squad»-Patchs («Todesschwadron des rechten Flügels»-Aufnäher) tragen, sind nicht weit von den Todesschwadronen des Taliban-Fundamentalismus entfernt.

Permanenten Widerstand
Wenn der Sieg der Taliban etwas zeigt, dann, dass das amerikanische Imperium ein Kartenhaus ist, das darauf wartet zu fallen. Es ist zu extremer Gewalt fähig, zum Töten auf die technologisch fortschrittlichste Weise, die der Menschheit bekannt ist. Es ist zu extremer Grausamkeit fähig. Aber es ist dennoch ein Papiertiger, unfähig, die Herzen und Köpfe der Menschen zu erobern, unabhängig von der Intensität der Intervention oder der Länge der Besatzung.
Aber was wird als nächstes kommen? Wenn der Sieg der Taliban in Afghanistan ein Hinweis darauf ist, könnte das, was auf das US-Imperium folgt, unterdrückender Fundamentalismus oder Nationalismus sein. Wir sollten uns fragen, wie wir vorgehen können, um die herrschende Ordnung so zu bekämpfen, dass sie nicht durch das Äquivalent der Taliban ersetzt wird, wenn sie anderswo zusammenbricht.
Der Klimawandel, die politische Polarisierung, die Wirtschaftskrise, der Zerfall des amerikanischen Imperiums und die schwelenden sozialen Unruhen stehen nicht als einzelne Phänomene vor uns, sondern als verflechtende Herausforderung, die aus sich gegenseitig verschärfenden Katastrophen besteht. Wir können uns von den Niederlagen unserer Gegner*innen in der US-Regierung inspirieren lassen und von den Erfolgen derer lernen, die sich ihnen überall widersetzen. Dies während wir einen permanenten Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung aufrechterhalten.

Denkweisen entwickeln
Mein Herz zerbricht an dem Gedanken an die afghanische Bevölkerung, das nun schon seit Generationen unter den Traumata des Krieges leidet. Ich hoffe, dass sie die Kraft finden, weiterzumachen und letztendlich echte Befreiung, echte Sicherheit zu erreichen. Jetzt ist es an der Zeit, den Menschen aus Afghanistan zuzuhören, Geflüchtete und Hilfsorganisationen zu unterstützen und diejenigen zu benennen, die für die Katastrophe der letzten zwanzig Jahre verantwortlich sind. Und wir müssen unsere Herzen für neue Möglichkeiten und neue potentielle Mitstreiter*innen öffnen, die Fähigkeiten und Denkweisen entwickeln, die uns sicher machen, wenn wir ins Unbekannte vorstossen.

Gekürzte Fassung des textes, der auf crimethinc.com veröffentlicht wurde.

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