Der Charakter des russischen Imperialismus

Russland ilustracion by Juan Atacho

dom. Russlands Entscheid, im Februar 2022 in die Ukraine einzumarschieren, ist weder das Resultat von Putins grossrussischen Allmachtsfantasien, noch eine blosse Reaktion auf die Nato-Osterweiterung. Auch Russland verfolgt eigene imperiale Absichten, denen ökonomische Ursachen zugrundeliegen.

In den letzten Jahren hat das russische Regime mittels einer Reihe militärischer Interventionen seine hegemoniale Position im postsowjetischen Raum zu erhalten versucht: Die Eingriffe in Georgien, Kasachstan und zuletzt in der Ukraine sind Ausdruck einer zunehmend expansiven russischen Aussenpolitik, die leider in gängigen Erklärungen allzu oft auf «Putins grossrussische Allmachtsfantasien» zurückgeführt wird. Und in etwas weniger individualpsychologischen Erklärungen wird Russlands Aussenpolitik oftmals nur als abhängige Variable des westlichen Imperialismus aufgeführt – ganz so, als würde Putin «bloss» auf die Nato-Osterweiterung reagieren und nicht auch eigene imperiale Absichten verfolgen.
Doch wie jede andere, liegt auch Putins Aussenpolitik in materiellen Interessen begründet und stellt den Versuch dar, die kollektiven Interessen der herrschenden Klasse Russlands zu schützen. Die Gründung einer eurasischen Union, politischer Druck und militärische Interventionen werden nur als Reaktion des russischen Machtblocks auf die vielfältigen Krisenprozesse im postsowjetischen Raum verständlich – einem Raum, in dem Konflikte zunehmend offen aufbrechen, in dem sich Spannungen in Form von Protesten, Repression, und offenen Kriegshandlungen entladen.

Zerfall Sowjetunion und Konsolidierung des heutigen Russlands
Die Häufung der Konflikte ist Resultat sich überlagernder Krisen, die in der Auflösung der Sowjetunion wurzeln. In den meisten postsowjetischen Staaten setzte nach 1991 ein (bis heute) umkämpfter Prozess der Staatsbildung ein. Russland erlebte eine autoritäre Wende, welche im Übergang zu marktwirtschaftlicher Ordnung einen Demokratisierungsprozess verhinderte. In diese Zeit fallen der Krieg gegen die abtrünnige Provinz Teschetschenien und die gegen den Widerstand des Parlaments durchgesetzte Privatisierung staatlicher Konzerne. Daraus gingen die Oligarchen hervor, die von ihrer Nähe zum Staat profitierten und sich wesentliche Teile des Öl- und Gassektors aneignen konnten.
Die periphere Integration der postsowjetischen Staaten in den Weltmarkt hatte nicht nur die Herausbildung einer Klasse von Oligarchen zur Folge, sondern stellte den gesamten Raum in eine starke Abhängigkeit von den kapitalistischen Zentren. Die meisten Staaten hatten mit einem drastischen wirtschaftlichen Niedergang, starker sozialer Ungleichheit und einer weitgehenden Deindustrialisierung zu kämpfen. Rohstoffreiche Staaten wie Russland konnten diese Entwicklung zwar etwas dämpfen, allerdings vertiefte die einseitige Ausrichtung auf den Rohstoffexport deren Abhängigkeit von den kapitalistischen Zentrumsstaaten.
Eine Weile ging das ganz gut: Ab 2000 erlebte Russland unter Putins ersten beiden Amtszeiten als Präsident einen wirtschaftlichen Aufschwung, der wesentlich vom hohen Ölpreis und Putins Stabilitätsversprechen getragen wurde. Der Inhalt dieses Versprechens lautete: Wirtschaftswachstum gegen politische Passivität. Voraussetzungen dafür waren gemäss Felix Jaitner (Autor des Buches «Russlands Kapitalismus») die Zerschlagung separatistischer Bestrebungen und die Integration der aus dem Transformationsprozess der 1990er-Jahre hervorgegangenen Bourgeoisie. Putin stellte so einen «oligarchisch-etatistischen Konsens» her und ermöglichte «eine partielle Modernisierung» des russischen Kapitalismus. «Er reagierte mit einem verstärkten wirtschaftlichen Dirigismus und der Zentralisierung von Entscheidungsprozessen in der Exekutive auf die Dysfunktionalitäten des unregulierten Neoliberalismus der 1990er-Jahre».
Aussenpolitisch war Russland während dieser Jahre nur schwach aufgetreten. Das änderte sich, nachdem Putin das Land konsolidiert hatte. Er versuchte, die Stellung Russlands im postsowjetischen Raum zu festigen, indem er die vielfältigen Krisen und Konflikte für eigene Zwecke ausnutzte. In diesem Zusammenhang steht auch die ab Mitte der 2000er-Jahre forcierte Expansion russischer Unternehmen aus dem Rohstoffsektor. So gerieten viele postsowjetische Staaten in Abhängigkeit von russischen Energieträgern, was das Putin-Regime als Druckmittel zu nutzen wusste, um den Einfluss in der Region auszudehnen. Die Annäherung einzelner postsowjetischer Staaten an die EU, die USA oder an China muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.

Die Krise
Die Krise von 2008 traf den postsowjetischen Raum sehr stark, aber in unterschiedlichem Ausmass. Autoritär geführte Staaten erwiesen sich als handlungsfähiger. Zum einen konnten rohstoffreiche Staaten im Vorfeld der Krise über den Rohstoffexport Handelsüberschüsse erzielen und dadurch Devisenreserven aufbauen, was ihren wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum vergrösserte. Zweitens ermöglichten die engen Verbindungen zwischen Regime und Kapital eine wirksame Krisenpolitik im Interesse des herrschenden Blocks. Im Gegensatz dazu wurden Staaten wie die Ukraine oder Georgien infolge ihrer IWF-Kredite als Schuldner ins internationale Finanzsystem eingebunden.
Die krisenhafte Entwicklung im postsowjetischen Raum hat Bruchlinien vertieft und sichtbar gemacht. Russland als Handelspartner verliert in der Region an Bedeutung und wird insbesondere durch die EU, inzwischen auch zunehmend durch China abgelöst. Felix Jaitner schreibt: «Vor dem Hintergrund der belasteten bilateralen Beziehungen zu Russland haben viele kleinere postsowjetische Staaten diese Entwicklung zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen versucht, um im Rahmen einer balancierten Politik zwischen Russland und dem Westen ihre eigene Position zu stärken». Für Russland stellen diese Entwicklungen eine existenzielle Bedrohung dar.

Russlands «politische Kapitalisten»
Die russische Interventionspolitik kämpft also in erster Linie gegen den Bedeutungsverlust Russlands im postsowjetischen Raum. Unter diesem Gesichtspunkt stellten die Nato-Osterweiterung und das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine eine Bedrohung dar und waren für die Entscheidung des Angriffs auf die Ukraine sicherlich mitbestimmend. Das Bedürfnis nach einer starken Rolle im postsowjetischen Raum ist teilweise bereits im «oligarchisch-etatistischen Konsens» Russlands angelegt. Die aus dem Transformationsprozess der 1990er-Jahre hervorgegangenen Oligarchen nutzen bis heute politische Ämter (über enge Kontakte oder indem sie diese selber besetzen) zur privaten Bereicherung. Über Gesetzeslücken und Steuerhinterziehung verschaffen sich die «politischen Kapitalisten», wie Wolodymyr Ischtschenko sie nennt, eine «Insiderrente», wodurch sie darauf angewiesen sind, «das Territorium abzuzäunen, über das sie monopolistische Kontrolle ausüben, die sie nicht mit den anderen Fraktionen der kapitalistischen Klasse teilen wollen».
Während das transnationale westliche Kapital seine Standorte fast beliebig verschieben kann, sind die «politischen Kapitalisten» auf ein klar definiertes Territorium angewiesen, auf dem sie zum eigenen Vorteil die Kontrolle über die politischen Ämter ausüben. Ischtschenko schreibt, die Integration der Ukraine in die westliche Einflusssphäre wird für Russland auch deshalb zur existenziellen Bedrohung, weil es die die Überreste der postsowjetischen Wirtschaft in der Ukraine leicht in den russischen «politischen Kapitalismus» hätte integrieren können – «wie es in den prorussischen Marionettenstaaten in Donezk und Lugansk bereits geschehen ist».

Das ressourcen-extraktivistische Modell
In ökonomischer Hinsicht entscheidender für den starken Fokus auf den postsowjetischen Raum scheint aber der ressourcen-extraktivistischen Charakter der russischen Ökonomie. Russlands Abhängigkeit von der Petrogas-Rente ist ein Problem, das Julien Vercueil in seinem Aufsatz «Die Herausbildung des rentenbasierten Akkumulationsregimes in Russland» verdeutlicht: Etwa die Hälfte der russischen Einkommen hängt vom Staat und staatlichen Transfers ab. Und auch die öffentlichen Einnahmen speisen sich rund zur Hälfte aus dem Öl- und Gassektor. Das stark rentenbasierte Akkumulationsmodell hat «zu einer Polarisierung der Wirtschaftssektoren geführt: Die Konzentration der Wertschöpfung in wenigen Branchen, die direkt oder indirekt von Rohstoffrenten abhängen». Davon will Putin wegkommen: Ökonom Lutz Brangsch sieht als Resultante aus allen Verlautbarungen und Massnahmen des letzten Jahres die wirtschaftspolitischen Ziele von «technologischer Autonomie, Importablösung, Stabilität der Währung, Stabilität der sozialen Verhältnisse, Schaffung neuer Richtungen der Aussenwirtschaft und Schaffung eines alternativen Weltfinanzsystems».
Gerade die nach 2014 ergriffenen Sanktionen steigern das Bedürfnis des russischen Regimes, Abhängigkeiten gegenüber dem Westen zu reduzieren, ein binnenorientiertes Wirtschaftsmodell zu etablieren und damit auch verstärkt auf den postsowjetischen Raum zu orientieren. Die Gründung der Eurasischen Union, welche mit Belarus, Kasachstan, Russland und der Ukraine die industriell und finanziell stärksten Staaten der Region umfasst, sollte dieses Ziel erreichen – und es sollte ein Raum geschaffen werden, in dem Russland auf dem kapitalistischen Weltmarkt zum ernsthaften Konkurrenten aufsteigen kann. Dieses Bedürfnis dürfte schwerer wiegen als der Wunsch, die Insiderrenten der «politischen Kapitalisten» zu sichern – auch wenn dies ein günstiger Nebeneffekt einer gelungenen Expansion gewesen wäre.

Russland Stellung in der kapitalistischen Staatenwelt
Vieles spricht dafür, dass die Entscheidung zum Krieg ohne Beteiligung der ökonomischen Eliten gefällt wurde und dass zwischen diesen keine Einigkeit betreffend der Kriegsfrage besteht. Die Interessen der verschiedenen Kapitale (westlich orientiertes Kapital, binnenorientiertes Kapital, etc.) divergieren zu stark, als dass Putin sie hätte unter einen Hut bringen können. Was er aber im Interesse des Gesamtkapitals erreichen will: Seine Bedeutung als ökonomische und Ordnungsmacht stärken, sich vom ressourcen-extraktivistischen Akkumulationsmodell ablösen und über einen eurasischen Wirtschaftsraum international konkurrenzfähig werden. Auf politischem und ökonomischem Wege gescheitert, versucht es das russische Regime nun mit militärischer Gewalt – und handelt damit entsprechend seiner Stellung in der kapitalistischen Staatenordnung. Mit militärischer Übermacht und ökonomischer Dominanz hat die USA ein imperialistisches Herrschaftsverhältnis durchgesetzt, dem Russland nichts Gleichartiges entgegenzusetzen hat. Innerhalb dieses Verhältnisses haben sich Hierarchien verfestigt, welche den kapitalistischen Staaten ihre je eigene Staatsräson aufzwingt.
Als Finanzplatz, Exporteur und Handelspartner hat sich Russland in der Konkurrenz der Staaten um kapitalistischen Reichtum etabliert. Wie die Zeitschrift «Gegenstandpunkt» treffend formuliert, nimmt es nun «mit den Geschäftsmitteln, die es hat, und den wirtschaftspolitischen Überzeugungsmitteln, über die es verfügt, […] in der Nomenklatur des Imperialismus den Status und hierarchischen Rang eines besonders potenten Schwellenlandes ein und konkurriert um Reichtum und Einfluss». Weil es dabei auf das militärische Erbe der Sowjetunion zurückgreifen kann, ist seine Teilnahme an dieser Staatenkonkurrenz von anderer Qualität als jene von anderen Schwellenländern. Als Staat, der die US-amerikanische Dominanz militärisch hin und wieder ernsthaft in Frage stellen kann, macht Russland deshalb wiederholt Bekanntschaft mit der militärischen Seite des US-amerikanischen Imperialismus.

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