Bosniens Müllhalde

In Vucjak bei Bihac wurde auf einer ehemaligen Mülldeponie ein Lager eingerichtet – nicht das erste dieser Art. Bild: Klaus Petrus

Klaus Petrus. Seit sich die Balkanroute von Serbien und Ungarn nach Westen verschoben hat, wird Bosnien zur Anlaufstelle der Migrant*innen. Dort versuchen derzeit Tausende über die Grenze nach Kroatien zu gelangen. Viele von ihnen leben auf einer ehemaligen Müllhalde.

Es sei, als würde man Strassenhunde einsammeln, sagt die Polizistin mit der dunklen Sonnenbrille, und man weiss nicht recht, ob sie das lustig findet. Sie schliesst die Heckklappe des Polizeibusses, darin sitzt, dicht an dicht, ein Dutzend Flüchtlinge aus Pakistan. Einer von ihnen trägt eine Tarnhose, er ist Mitte zwanzig, kräftig gebaut und nennt sich Yassin. Eigentlich wollte er in Bihac einkaufen und sich im Stadtpark ein wenig ausruhen, doch jetzt wird er nach Vujak abtransportiert, in ein Camp zehn Kilometer ausserhalb von Bihac. Den Entschluss, möglichst alle Flüchtlinge aus dem Zentrum der beschaulichen Kleinstadt am Flüsschen Una zu entfernen, hatte Bürgermeister Šuhret Fazlic unlängst gefasst, als es zu Schlägereien unter Migrant*innen kam und angeblich auch Polizisten attackiert wurden.
Schon letzten Herbst gab es vereinzelte Proteste aus der Bevölkerung, man klagte über Dreck und Müll überall und fürchtete sich vor «kriminellen» Migrant*innen. Seit sich die Balkanroute im Frühjahr 2018 von Serbien nach Bosnien-Herzegowina verschoben hat, ist Bihac mit seinen gut 50000 Einwohner*innen im Nordwesten des Landes zu einer Anlaufstelle geworden. Inzwischen haben 36000 Flüchtlinge Bosnien durchquert. Die meisten sammeln sich im mehrheitlich von muslimischen Bosniaken besiedelten Kanton Una Sana, dessen Verwaltungssitz Bihac ist. Derzeit sollen sich 6000 Migrant*innen in der Region aufhalten, die Aufnahmezentren in Bihac und Umgebung aber bieten bloss Platz für die Hälfte.

«Nicht einmal Hunde leben hier»
Die Fahrt nach Vujcak führt einen Hang hinauf vorbei an kleinen Dörfern, Hecken und Wäldern bis zu einem Feld am Fusse des Plješevica-Gebirgzugs nahe der kroatischen Grenze. Ein Schild warnt vor Minenfeldern aus der Zeit des Bosnienkrieges 1992 bis 1995, der 100 000 Tote forderte und zwei Millionen Menschen in die Flucht trieb. Bis vor kurzem stand hier eine Mülldeponie. Anfang Juni wurde sie dann, sozusagen über Nacht und im Auftrag der Stadt Bihac, mit Schotter und Kies zugeschüttet, um Platz zu schaffen für die weissen Zelte des türkischen Roten Halbmonds. Jetzt leben hier zwischen 400 und 800 Männer, die meisten kommen aus Pakistan, Afghanistan, Syrien oder Nordafrika.
Der Polizeibus wendet auf dem Platz mitten im Camp, die Geflüchteten steigen aus, dann macht er sich auf den Weg zurück nach Bihac. In wenigen Stunden wird er wieder hier sein und ein weiteres Dutzend Flüchtlinge abladen. «Wie Abfallsäcke werfen sie uns auf diese Müllhalde», sagt Yassin, der aufgekratzt wirkt und müde zugleich. Seit einem Jahr steckt er in Bosnien fest. Davor war er in Serbien, wo fast kein Durchkommen mehr ist, zu viele Zäune versperren den Weg nach Ungarn. Und so kehrte Yassin, der im Herbst 2017 wegen der Taliban aus seiner Heimat fliehen musste, über Belgrad zurück in den Süden, wählte die Route über die albanischen Alpen quer durch Montenegro nach Sarajewo und von dort weiter in den Nordwesten nach Bihac, meist zu Fuss. In Vucjak war Yassin bereits, dreimal hatte die Polizei ihn dort hingebracht und dreimal kehrte er wieder nach Bihac zurück. «Nicht einmal Hunde leben hier.» Yassin führt durchs Camp, bis zu zehn Männer hausen in einem einzigen Zelt, sie schlafen auf Kartons oder dünnen Decken, draussen türmt sich der Müll. Im «Zentrum» des Lagers verkauft ein Pakistani Cola, ein anderer Chai und Fladenbrot. Inzwischen gibt es vier Wassertanks, je zwei Dusch- und Toilettencontainer sowie ein Generator, um Mobiltelefone aufzuladen.

Niemand verantwortlich, alle überfordert
Doch die Lage ist prekär, das räumt auch Bihacs Bürgermeister Fazlic ein. «Vucjak ist keine dauerhafte Lösung, wir sind selber unzufrieden mit dem Lager», lässt sein Pressesprecher ausrichten. Yassin rollt mit den Augen. Er kennt solche Camps aus Velika Kladuša, der zweiten grösseren Stadt im Kanton Una Sana nördlich von Bihac und nur wenige Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt. Auch dort lebten vor gut einem Jahr hunderte Flüchtlinge unter schlimmen Bedingungen. Die Regierung habe bloss Versprechen gemacht, aber nichts getan, sagt Yassin. «Nur die Bevölkerung hat uns geholfen. Dabei haben die Leute hier doch selber nichts.» Erst als der Winter sich ankündigte, wuchs der Druck auf die Behörden, das Lager bei Velika Kladuša zu schliessen. Daraufhin richtete die Internationale Organisation für Migration IOM an den Stadträndern von Bihac mit EU-Geldern zwei Auffangzentren für 3000 Flüchtlinge ein, Borici und Bira. Schon damals sagte Amira Hadzimehmedovic, Koordinatorin beim IOM: «Wir hinken immer einen Schritt hinterher. Niemand fühlt sich verantwortlich, alle sind überfordert. Am meisten unsere Regierung.»
Daran hat sich bis heute kaum etwas verändert. Inzwischen sind die beiden Auffanglager überfüllt, der Winter naht, Vucjak wird zum Problem – und niemand weiss weiter. Der Logik der bisherigen bosnischen Flüchtlingspolitik zufolge müsste das Lager Vucjak demnächst aufgelöst und stattdessen behelfsmässig ein weiteres Auffangzentrum eingerichtet werden – bis auch dieses überfüllt ist und die restlichen Migrant*innen, die nicht weniger werden, erneut in provisorischen «Dschungelcamps» Unterschlupf finden.

Komplizierteste Politik der Welt
Dass Bosnien praktisch unregierbar geworden ist, hat auch mit dem Friedensabkommen von Dayton aus dem Jahre 1995 zu tun. Weil man es allen Fraktionen recht machen wollte, wurde das Land damals in zwei Entitäten unterteilt: in die Föderation Bosnien-Herzegowina mit heute 2.3 Millionen Einwohner*innen, bestehend aus mehrheitlich katholischen Kroat*innen sowie aus Bosniak*innen, den muslimischen Bosnier*innen. Und in die Republika Srpska, die von 1.3 Millionen überwiegend orthodoxen Serb*innen bewohnt wird und fast die Hälfte der Fläche des Landes ausmacht. Beide Entitäten wurden zudem nach dem Schweizer Modell in Kantone aufgeteilt und alle wichtigen politischen Ämter paritätisch mit je einem Vertreter der Bosniaken, Kroaten und Serben besetzt – und zwar vom Präsidium über die Ministerien bis oft zum Gemeinderat.
Das ist bis heute so, was dazu führt, dass Bosnien über 14 Parlamente verfügt, 136 Minister und drei Präsidenten, die sich in einem Turnus von acht Monaten im Amt des Staatspräsidenten abwechseln. Ausufernde Dezentralisierung, Korruption und eine überdimensionierte Bürokratie sind die Folgen dieses «kompliziertesten politischen Systems der Welt», wie Bosniens Staatsmodell auch genannt wird. So oder so scheinen die unterschiedlichen Parteien weitgehend ihre eigenen, partikularen Interessen zu verfolgen. Weil der Wille zur Zusammenarbeit oft fehlt, jedoch alle wichtigen Entscheide im Konsens gefällt werden müssen, werden kaum Gesetze erlassen und viele dringliche Probleme auf unbestimmte Zeit vertagt. Die Flüchtlingskrise ist ein solches Problem. Sie geht alle Parteien etwas an, einen gemeinsamen Plan aber gibt es bis heute nicht.

Was tun?
In die Regierung, die seit 2018 von der EU 24 Millionen Euro für die Migrationskontrolle erhalten hat, setzt auch Selam Midžic kaum noch Hoffnungen. Er ist Chef des Roten Kreuzes von Bihac und organisiert mit seinen Leuten in Vucjak einmal täglich Essen für 600 Geflüchtete. Ohne Spenden aus der Bevölkerung sei er aufgeschmissen, sagt der 52-Jährige. Für erste Hilfe sorgt eine Handvoll Freiwillige, sie behandeln Krätze, Entzündungen und offene Wunden. Midžic kritisiert auch Organisation wie IOM oder UNHCR, die sich weigern, in Vucjak zu helfen. Für sie sind solche Lager illegal und die dortigen Bedingungen untragbar. Er weiss um die Kritik, das Rote Kreuz würde mit seinem Engagement in Vucjak den Status Quo aufrechterhalten, statt dafür zu sorgen, dass dieses Camp per sofort evakuiert wird. Doch der Rotkreuzchef schüttelt den Kopf. «Was sollen wir denn tun? Die Menschen einfach sich selbst überlassen? Auf uns lastet Europas Migrationsproblem.»

Für 3000 Euro in die EU
Dass Lager wie Vucjak die Migrant*innen davor abschrecken, die Route über Bosnien-Herzegowina zu nehmen, dürfte sich als Irrtum erweisen. Noch immer kommen viele. Hierbleiben will kaum jemand, das Land ist arm, die Arbeitslosigkeit liegt bei über zwanzig Prozent. Doch ein Weiterkommen wird immer schwieriger, für viele könnte Bosnien, wie vor zwei Jahren Serbien, zur Sackgasse werden. Wer das nötige Geld für die Schleuser nicht aufbringen kann – bis 3000 Euro pro Person –, wird die Grenze auf eigene Faust überqueren.
Auch Yassin, der junge Mann aus Pakistan, hat dieses «Game» schon viele Male mitgemacht, wie die Geflüchteten ihren Versuch nennen, über die Grenze zu kommen. Oft ziehen sie in Gruppen von zehn oder zwanzig Männern los, doch meist werden sie von den kroatischen Grenzwächter*innen aufgespürt und direkt nach Bosnien zurückgebracht – ein völkerrechtswidriges Prozedere, bei dem offenbar systematisch Gewalt im Spiel ist (siehe Artikel «Mit ein bisschen Gewalt»). Yassin kennt das aus eigener Erfahrung, auch er wurde von kroatischen Grenzwächtern geschlagen und gedemütigt. Darüber reden mag er nicht, vielmehr möchte er, so gut es geht, in die Zukunft blicken. Denn in sein Land zurückkehren, das ist für ihn ausgeschlossen – nicht allein wegen der Taliban, sondern auch aus Scham. Zuviel hat die Familie bereits in seine Flucht investiert, als dass er jetzt mit leeren Händen heimkehren könnte.
Vorerst geht der junge Mann zurück nach Bihac. Von dort will er aufs Neue die Grenze nach Kroatien überqueren. Wenn er nicht davor, wieder einmal, von der Polizei aufgegriffen und nach Vucjak gebracht wird. Versuchen wird es Yassin, so oder so.

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