Bolivien und die nötige Selbstkritik

Alina Duarte. Nach dem Sieg der MAS bei den Präsidentschaftswahlen in Bolivien führen die Partei und die sozialen Bewegungen eine selbstkritische Analyse durch. Eine der Erkenntnisse dabei ist: Es reicht nicht, an der Regierung zu sein, man muss die Volksmacht haben. Denn nicht die Regierung macht die Revolution, sondern die organisierten Völker.

Obwohl die Ultrarechte und ihre paramilitärischen Gruppen nach ihrem Putsch im November 2019 alles darangesetzt hatten, es zu verhindern, übernahm Luis Arce Catacora die Präsidentschaft in Bolivien und Evo Morales kam aus dem Exil zurück nach Hause. Mit dem Sieg der sozialistischen MAS (Movimento al Socialismo) wurde der Weg frei für Debatten und Handlungsvorschläge, um den sogenannten Prozess des Wandels wieder aufzunehmen und zu verstärken, der im Jahre 2006 mit der Übernahme der Präsidentschaft durch Morales eingeläutet wurde.

Nötig ist ein Instrument für die Revolution
Doch, trotz den überwältigenden 55,11 Prozent an den Urnen bei den Wahlen vom 18.Oktober 2020, muss auf Folgendes hingewiesen werden: In Bolivien wehen nicht «Winde der Fortsetzung», sondern eben des Wandels. Nach den Dutzenden Toten, politisch Verfolgten und Exilant*innen, haben die Widerständigen, die sozialen Organisationen und Bewegungen, Sauerstoff getankt, sich erneuert und an Kraft gewonnen.
Die MAS, formell MAS-IPSP (Movimiento al Socialismo – Instrumento Político por la Soberanía de los Pueblos; Bewegung zum Sozialismus – Politisches Instrument für die Souveränität der Völker) kehrt an die Macht zurück. Und sie sieht sich nun der grossen Herausforderung gegenüber, zu den Ursprüngen zurückzukehren. Das heisst konkret, dem «politischen Instrument» Vorrang einzuräumen. «Wir brauchen ein Instrument, das uns beim Kampf für die Revolution und für die Macht hilft», sagt der Soziologe Juan Carlos Pinto Quintanilla in einem Interview mit der Autorin in La Paz kurz nach dem Sieg von Luis Arce. Pinto Quintanilla war Beauftragter für staatsbürgerliche Bildung bei der Vizepräsidentschaft des plurinationalen Staates. Er fügt hinzu: «Es ist bekannt, was wir nicht mehr wollen: Rassismus, Oligarchen, Marginalisierung, aber wir müssen mit den Menschen den kommunitären Sozialismus aufbauen und deshalb muss man weiterkämpfen.»

Volksmacht als wichtige Achse
Eine Konstante im Gespräch ist die Selbstkritik und die Anerkennung von Fehlern, die es möglich machten, einen Staatsstreich zu entfesseln. Und dies trotz der Solidität, die man institutionell zu haben glaubte. Die Selbstkritik ist wesentlich für eine Analyse der Rolle der Bevölkerung.«Wir brauchen nicht nur den Willen des Volkes, um den Prozess am Laufen zu halten, sondern auch seine erneute Politisierung. (…) Man dachte immer, dass es ausreicht, dass wir an der Regierung sind. Es wurde jedoch klar, dass es eben nicht ausreicht, wichtige Infrastrukturvorhaben auszuführen, wenn bei den Leuten das Bewusstsein dafür nicht vorhanden ist, was sie zu verteidigen haben», erklärt Pinto Quintanilla. Und: «Um eine Sache zu verteidigen, müssen sie eine Vorstellung des politischen Horizonts und davon haben, was mit ihnen gemeinsam erarbeitet und geschaffen werden soll. Auch deshalb legen wir so viel Wert auf das Thema der Volksmacht als wichtige Achse, die errichtet werden muss, denn es reicht nicht aus, an der Regierung zu sein. Man muss sehen, wie wir eine Dezentralisierung erreichen, damit die reale Macht bei den Menschen liegt.» Die Komplexität, der man sich gegenübersieht, ist ganz offensichtlich.

Perspektiven über den Kapitalismus hinaus entwickeln
Die Bewegung zum Sozialismus erblickte das Licht der Welt nicht als Partei. Hinsichtlich des Innenlebens äussert sich das durch die Vielfältigkeit der politischen Haltungen. Wenngleich dies zum Sieg, zur Entstehung und zur Herausbildung des Prozesses des Wandels beitrugen, so «hat gerade dieses Vielseitigsein zu der Schwäche geführt, dass Diskussionen nicht verstärkt geführt wurden», meint Pinto Quintanilla. Er präzisiert: «Alle haben aus ihrer jeweiligen Perspektive aus mit ihrer Sichtweise daran teilgenommen, eine alternative Welt zum Neoliberalismus aufzubauen. Aber manchmal ist dieser Aufbau nicht ausreichend, wie bei dieser fortschrittlichen Regierung, die wir schon hatten. Die Hauptlinien waren wieder der kapitalistische Markt und die Befriedigung der grundsätzlichen Bedürfnisse der Leute, aber nichts, was über den Kapitalismus hinausgeht.»
Dieser Analyse stimmt auch América Maceda Llanque zu. Sie ist die Teil des kommunitären Feminismus Abya Yala und sagt: «Die Selbstkritik ist das, was wir vor allem anzubieten haben.» Maceda fügt an: «Wir müssen innerhalb des Prozesses des Wandels kritisch und selbstkritisch sein. Zwar wurden die materiellen Bedingungen der Bevölkerung verbessert, aber das wurde nicht von einem Prozess der politischen Bildung, der Bewusstseinsbildung, des Selbstbewusstseins und der Selbstkritik begleitet. Und darauf sind auch die Fehler zurückzuführen, für die wir als bolivianisches Volk teuer bezahlen mussten».
Es sei angemerkt, dass, Bolivien in den letzten zehn Jahren eins der Länder mit dem grössten Wirtschaftswachstum in der Region war mit einem jährlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 4,9 Prozent zwischen 2006 und 2019.

Aufgaben und Herausforderungen
Um mit wissenschaftlicher Genauigkeit und mit scharfem Skalpell zu entschlüsseln, was in Bolivien einen Putsch dieser Grössenordnung zuliess, ist keine leichte Aufgabe. América Maceda skizziert einige der Faktoren: die Demobilisierung der sozialen Bewegungen, die Bürokratisierung und sogar das Abdriften gewisser Sektoren innerhalb der Regierung nach rechts.
«Die 14 Jahre haben uns, die sozialen Organisationen, demobilisiert. Dies, obwohl wir hier in Bolivien eine Geschichte, ein sehr ausgeprägtes gewerkschaftliches Gedächtnis und speziell einen Kampf gegen diejenigen geführt haben, die die Macht innehatten. Gegen eine herrschende gesellschaftliche Klasse, eine politische Klasse, die für eine koloniale, kapitalistische Realität stand – die Elite des Landes. Einige wenige, die regierten und die praktisch den grössten Teil der indigenen originär-bäuerlichen Bevölkerung ausschlossen. Physisch hatten wir den Feind im Staat an der Macht. Du hast physisch erkannt, wo dein Feind war, er war derjenige, der die Macht besass», erklärt Maceda. Doch als «einer von uns, ein Bruder, ein indigener Bauernführer», durch eine demokratisch-kulturelle Revolution die Macht übernahm, war der «Feind physisch nicht mehr da», so Maceda weiter. «Wir demobilisierten uns, während in Wirklichkeit der Feind nach wie vor der Kapitalismus, das Patriarchat, der Kolonialismus immer noch vorhanden war, wir ihn aber physisch nicht identifizieren konnten.» Sie fügt hinzu: «Und das führte auch zu einer Bürokratisierung der sozialen Organisationen.»
Ein Jahr nach dem Putsch befeuern die Irrtümer die Kritiken an den Szenarien davor und danach eine neue Diskussion. Eine Debatte über die Aufgaben und Herausforderungen, denen man sich nach Wahlen gegenübersieht, die der MAS einen überwältigenden Sieg bescherten. Und so lautet eine der Erkenntnisse der Aktivistin Maceda: «Die Aufgabe der sozialen Organisationen besteht in der ständigen Vertiefung des Prozesses des Wandels, das Fortführen der die demokratisch-kulturelle Revolution. Sie ist der Weg, den wir als bolivianischen Prozess des Wandels gewählt haben, weil wir wissen, dass nicht die Regierungen die Revolutionen machen; die Revolutionen machen wir Völker, die organisierten Völker.»

Versuchter Anschlag auf den Präsidenten
Ihr Widerstand gegen einen Staatsstreich hat die MAS gestärkt angesichts von Fragen, die vor allem in den sozialen Netzwerken auftauchten, wie zum Beispiel: Wird die neue Regierung von Präsident Arce und Vizepräsident Choquehuanca eine reaktionäre Regierung wie die von Lenin Moreno in Ecuador werden? Das Gelächter derjenigen, die an den Barrikaden standen, liess nicht auf sich warten. MAS-intern, auf den Strassen und unter den Mitgliedern scheint es nicht einmal einen Hauch einer solchen Befürchtung zu geben. Denn der Prozess des Wandels sucht sich zu dezentralisieren. Zwar hat er einerseits Parteiführeri*innen, andererseits aber auch die mobilisierte Basis. Nichtsdestoweniger gibt es sehr wohl Risiken. Die ultrarechten Gruppen sind weiterhin organisiert. Mit Gebeten, Drohungen, Blockaden und/oder Waffen versuchten sie, den Sieg des Volkes zu neutralisieren und sich an einen in jeglicher Hinsicht besiegten Staatsstreich zu klammern.
Mit Nazi-Symbolen und Hassreden standen das Bürgerkomitee Santa Cruz und die Cochala-Jugend an der Spitze bei der Verteidigung des Putsches. Sie behaupten, wie vor einem Jahr, ohne Beweise zu präsentieren, dass es sich am 18.Oktober 2020 um einen konzertierten Betrug handle. Und obwohl selbst das Oberste Wahlgericht, die Organisation Amerikanischer Staaten und selbst das US-Aussenministerium ihnen den Rücken kehrte, zetern sie lauthals weiter über Unregelmässigkeiten bei der Wahl.
Die Aktionen der ultrarechten Gruppen beschränken sich nicht auf Erklärungen, Blockaden oder Gebete. Noch sind die Täter*innen nicht bekannt, aber am Abend des 5.November, das heisst eine Woche nach den Wahlen, kam es zu einer Explosion vor dem Kampagnensitz der Bewegung zum Sozialismus, in dem sich der gewählte Präsident Luis Arce aufhielt. Eine Beendigung der Straflosigkeit, die diese paramilitärischen Gruppen genossen, steht ebenfalls auf der Tagesordnung der neuen Regierung.

Nachtrag für die Gegenwart und die Zukunft
Bei seiner Rückkehr nach Bolivien am 9. November 2020 fasste Evo vor Hunderten von Menschen, die ihn an der argentinisch-bolivianischen Grenze erwarteten, die anstehenden Herausforderungen zusammen: «Wir werden weiterarbeiten. Was wir jetzt tun müssen, ist, auf Präsident Lucho (Luis Arce) achtgeben, unseren Prozess des Wandels verteidigen. Die Rechte stirbt nicht, schläft nicht. Das Imperium hat immer unsere Naturreichtümer im Visier, aber mit dieser Erfahrung, mit mehr Kraft sind die Zeiten der Tränen, ohne uns zu organisieren, vorbei. Wie immer werden wir neue Sozialprogramme, neue Wirtschaftsmassnahmen auflegen, wir werden mit Lucho unsere Wirtschaft voranbringen, eine Wirtschaft, die grundsätzlich in den Diensten der Ärmsten steht.»

Quellen: albatv, amerika21.de
(Übersetzung aus dem Spanischen)

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