Argentinien: Die Jagd beginnt

Dieter Drüssel. Seit Mitte Dezember 2023 wütet in Argentinien die Regierung des Präsidenten Javier Milei und kündigte den Beginn der Zerstörung des Sozialstaats an. Warum gewann Milei die Wahlen? Ein Rückblick und eine Einschätzung der Situation verbunden mit einer Frage, die die Zukunft betrifft.

7.Dezember 2023: In wenigen Tagen wird in Argentinien eine neoliberal-faschistische Regierung antreten. Deren Grausamkeit wird im Laufe der nächsten Zeit deutlich werden. Dies, auch wenn einige der von Javier Milei rumgebrüllten «Reformen» nicht so ohne weiteres umsetzbar sind. Wie etwa die «Totaldollarisierung». Aufgrund der jahrelang von Multifilialen und einheimischer Bourgeoisie betriebenen Dollarflucht fehlt es im Moment schlicht an genügend Greenbacks für die Zahlung aller unabdingbaren Staatsausgaben. Argentinischen Pressberichten zufolge war die diesbezügliche Betteltour der antretenden Regierung in der US-Hauptstadt Washington wenig erfolgreich. Der Internationale Währungsfonds (IWF), dem Milei eine Super-Strukturanpassung in Aussicht stellte, soll dafür, wenn überhaupt, nur einen Bruchteil der gewünschten 20 Milliarden US-Dollars locker machen wollen. Investmentfonds fordern erst die Schleifung des Sozialstaats als Garantie für eine Rückzahlungskapazität.

Zerstören ja, aber schrittweise
Natürlich hat man an den internationalen Börsen begeistert auf den Wahlsieg Mileis reagiert. Auch weil Luis Caputo der neue Wirtschaftsminister in Argentinien wird. Mit seiner Vergangenheit bei JP Morgan, Deutsche Bank und Weltbank gilt er als eine wichtige Figur für das zentrale Anliegen der Milei-Horde, die staatlichen «Geschäfte» direkt in die Hände des Marktes, also des transnationalen Kapitals, zu legen.
Aber warum sind die US-Regierung und deshalb auch der IWF der Milei-Delegation in Washington so knausrig gekommen? Grösseres Leiden für die Armen? Naturgesetz. Zertrümmerung des Sozialstaats? Was denn sonst? Das aber müsse, heisst es, sorgfältig geplant werden. Mileis als Instantlösung für alle Übel propagiertes Prinzip der «Motorsäge» – alles sofort kaputt machen – sei dafür wenig zweckdienlich. Denn das transnationale Kapital will Land und Leute schrittweise ausbeuten, nicht in einem sozialen Heizkessel manövrieren. Schrittweise meint: Eine dramatische Abwertung des Pesos wird kommen, die Armen werden sukzessive viel ärmer gemacht, der Repressionsapparat wird hochgefahren, möglichst begleitet von faschistischer Gewalt auf den Strassen, die feministischen Bewegungen werden angegriffen. Eine Ahnung von dem, was droht, gibt der ehemalige argentinische Staatspräsident (2015–2019) Mauricio Macri, wenn er nach dem ultrarechten Wahlsieg festhält: «Die Jungen (Milei-Wähler:innen) werden nicht zuhause bleiben, wenn diese Herrschaften anfangen, Tonnen von Steinen zu werfen, die Jungen werden ihre Gelegenheit nutzen und dann müssen es sich die Orks sehr gut überlegen, wenn sie auf der Strasse Ausschreitungen beginnen wollen» (Infobae, 21.November 2023). Orks ist ein Begriff aus der Trashliteratur für Kräfte des Bösen.

Ignoranz? Unterwürfigkeit?
Warum aber konnte ein Milei die Wahlen mit mehr als elf Prozent Vorsprung gewinnen? Wie Trump, Bukele oder etwa Bolsonaro mimte er den «Outsider gegen das Establishment», gegen die «Kaste». Viele Junge gerade auch aus Armutsklassen fanden das laut Wahlanalysen herrlich. Das ist das eine. Und das zog zum andern wohl deshalb, weil sich genau unter diesen Leuten viele verarscht fühlen. Im Gegensatz zu früheren Regierungen von Cristina Kirchner (2007–2015) hat die jetzt abtretende von Alberto Fernández eine unheilvolle Politik der Unterwerfung unter das transnationale Schuldendiktat betrieben. Ihre Rückzahlungen für den von Trump angeordneten rekordhohen IWF-Kredit (57 Milliarden US-Dollars) an die mafiöse Regierung von Macri, der sogar die IWF-internen Regeln bezüglich Schuldentragbarkeit krass verletzte, hat das von Macri hinterlassene soziale und wirtschaftliche Desaster noch verschärft. Grosse Teile des Kredits verschwanden in die transnationalen Multis mit Filialen im Land und in die Steueroasen der Reichen. Luis Caputo hatte den Deal auf argentinischer Seite eingefädelt.
Zusammen mit den massiven «marktkonformen» Wechselkursgeschenken an die Agroexportwirtschaft hat jede Schuldenzahlung an den Fonds dem Land immense Dollarmengen entzogen und damit den Peso inflationiert. Die transnationale Rechte, ihre Ökonom:innen und Medien verstecken diesen in Argentinien entscheidenden Inflationsmechanismus hinter der Dauerklage, dass der «ausufernde Sozialstaat staatliche Ausgabenfreude» verursache. Ignoranz? Unterwürfigkeit?
Vielleicht wenden sich mit der Zeit Teile der oft ge-nannten «subproletarischen» Jugend von Milei und seinem offenen Andocken an die zuvor verteufelte «Kaste» wutentbrannt ab. Oder werden dann einem faschistisch «geläuterten», sich über seine betrügerischen Technokrat:innen beklagenden Milei erst recht zur Verfügung stehen. Die Entwicklung hängen stark von der Fähigkeit der Linken zu einer praktischen und schmerzhaften Neuaufstellung ab.

Der IWF-Applaus
Am 12.Dezember legte Wirtschaftsminister Luis Caputo umrissartig einen 10-Punkte-Plan vor. Keine neuen öffentlichen Bauten, Nicht-Erneuerung einjähriger staatlicher Arbeitsverträge, Reduktion der Zahlungen an die Provinzen, Reduktion des Staatsapparates von Ministerien bis Subsekretariaten um ein Drittel, Kürzung der Subventionen und Preisverdoppelung von Energie und Transport, Abwertung des offiziellen Pesos um 118 Prozent, Abschaffung sozialer Steuerreformen, Einfrieren der Sozialpläne (Sozialüberweisungen an die Armen) auf Budgetniveau 2023 bei gleichzeitiger Streichung der unabdingbaren Partizipation der relevanten Basisorganisationen.
Am gleichen Tag das Plazet aus Washington. IWF-Kommunikationschefin Julie Kozack sagte: «Diese mutigen ersten Aktionen zielen auf eine deutliche Verbesserung der öffentlichen Finanzen auf eine Weise, die die Verletzbarsten der Gesellschaft schützt und das Wechselkursregime stärkt. Ihre entschlossene Umsetzung wird zur Stabilisierung der Wirtschaft beitragen und die Basis für ein nachhaltigeres und privatwirtschaftliches Wachstum bilden.» Kozack fügte hinzu: «Der IWF und die neuen argentinischen Behörden werden in der kommenden Zeit schnell zusammenarbeiten. Nach ernsten politischen Rückschlägen in den letzten Monaten stellt dieses neue Paket eine gute Grundlage für weitere Diskussionen dar, um das existierende, vom Fonds unterstützte Programm wieder aufzugleisen.»
Der Schlenker mit den «Verletzbarsten der Gesellschaft» ist IWF-typisch gelogen. Bestenfalls bleiben Sozialhilfen numerisch eingefroren, werden aber von einer eskalierenden Inflation weggefressen. Die Preiskontrollen für Artikel des Grundbedarfs Werden ganz im Sinn des Fonds abgeschafft. Die bisherige Anpassung der Sozialpläne und Renten alle drei Monate (je zur Hälfte an die Entwicklung der Einnahmen der Sozialversicherung und der Löhne) soll verschwinden, ganz im Sinn der Dauerforderung des IWF nach Kürzung der «ausufernden» Rentenausgaben. Angekündigt sind weiter auch Massnahmen, die unter anderem den Kündigungsschutz abbauen wollen.

«Señores, verlangen Sie, was Sie wollen»
Die Milei-Horde sagt es offen: Ihre Massnahmen zielen auf eine Stagflation (Inflation und gleichzeitig Rezession), damit dann der Markt übernehmen und Einkommen und Preise frei von «staatlichem Klientelismus» regulieren kann. Denn steigen die Preise erst ins Unerschwingliche und wird deshalb immer weniger gekauft, werde «marktautomatisch wirtschaftliche Vernunft einkehren» und gleichzeitig die weitere Inflation gestoppt sowie die «unrealistische Begehrlichkeit» der Unterklassen getilgt werden. Nicht-dollarisierte Einkommen werden noch massiv an Wert verlieren, dafür wird es einen extremen Reichtumstransfer an die Finanzgigant:innen, die Exportmultis und generell die transnationalisierte Bourgeoisie geben. Schon in diesen Tagen sind wegen des Wegfalls ihrer bisherigen Kontrolle die Preise etwa für Nahrungsmittel oder Benzin explodiert. Der Ökonom Horacio Rovelli schreibt zur Preisregulierung per Markt: «Sie bedeutet, dem Fuchs im Hühnerstall ein anständiges Benehmen zu empfehlen. Übertragen auf Argentinien: Der Hühnerstall ist der Markt für Mate-Tee, Zucker, Tomaten, Stahl und Aluminium. Die Preise werden von vier oder fünf Unternehmen bestimmt, sie sind somit der Fuchs. Zu sagen, dass die Märkte die Preise regulieren, heisst also zu sagen: ‹Señores, verlangen Sie, was Sie wollen›».
Einen weiteren zentralen Punkt trifft der «gemässigte» peronistische Gewerkschaftsbund CGT in einer Stellungnahme zu Caputos Punkten: «Wir sehen keinen Wirtschaftsplan; es gibt einzig eine Steuererhöhung für die Industrie. Das heisst, Rohstoffe zu exportieren wird steuerlich gleichgesetzt mit der Veredelung von Rohstoffen.» Genauer müsste der Gewerkschaftsbund von auf den Heimmarkt ausgerichteter Industrie sprechen, den auf Export (inklusive ÖL, Gas etc.) setzenden Industriemultis geht es unter Milei bestens. Das ist eine Kernausrichtung für Argentinien in der internationalen Arbeitsteilung, durchgesetzt seit Beginn der neoliberalen Ära. Erst von der Militärdiktatur und danach vom Rechtsperonismus unter Carlos Menem. Ganz nach dem Motto: «Soja, Rindsfleisch, Agrotreibstoffe, Lithium, Fracking-Gas – das ist gefragt. Den Rest kauft bei uns!» Kein Wunder, keimt in den reaktionären Wirtschaftsredaktionen hierzulande wieder Hoffnung auf.

Durchmarsch oder Erwachen
28.Dezember 2023: Keine 15 Minuten nachdem Caputo seine aggressiven Eckpunkte formuliert hatte, kam es in zahlreichen Städten zu Cacerolazos (Lärmprotesten) auf den Strassen und Balkonen – und zu grossen Demonstrationen in mehreren Städten. Der neoliberal-faschistische Regierungsblock eskalierte am 27.Dezem-ber mit einer leider nicht chancenlosen Vorlage im Parlament: Die bei transnationalen Finanzgigant:innen angestellte Regierung soll jahrelang an Verfassung und Parlament vorbei freie Hand für den kapitalistischen Kahlschlag inklusive massiver Repression bekommen. Auf den 25.Januar mobilisieren soziale Bewegungen und Gewerkschafsverbände für einen Kampftag inklusive Streik (siehe Rand) Dies bewog Generalstabchef Martin Paleo dazu, eine Aufstockung des Armeebudgets von 0.4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf zwei Prozent zu fordern.
In Argentinien soll ein Regime installiert werden, dass noch marktradikaler vorgehen will als die erst mal gescheiterte Liz Truss in England. Es weist viele Parallelen zum salvadorianischen Labor unter Bukele auf: Faktische, aber kaschierte Ausschaltung tradierter bürgerlicher Demokratie zugunsten eines diktatorischen Autoritarismus, Bauernfängerei mit Hasstiraden gegen das Establishment, massive strukturelle und bewaffnete Repression gegen unten, Lobhymnen auf den Markt, möglichst in seiner Kryptoform und ähnliches. Die fröhliche westliche Zustimmung zur sozialen Vernichtung vermischt sich mit etwas Bangen wegen der offenen Diktaturaffinität und somit der Frage: Was, wenn das nicht durchkommt und die Leute erwachen?

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