Rückwärts statt vorwärts

Marc Moser. Kinder werden in die Armut getrieben und das beschlossene stufenlose Rentensystem ist nicht durchdacht – der Nationalrat hat es verpasst, der IV-Weiterentwicklung gerecht zu werden. Viele Menschen mit Behinderungen müssen um ihre Existenz kämpfen, besonders Familien mit Kindern würden finanziell bluten. Der Ständerat muss nun Gegensteuer geben.

Die Invalidenversicherung (IV) kostenneutral weiterentwickeln, dies war das erklärte Ziel des Bundesrates. Der Nationalrat machte eine Kehrtwende um 180 Grad und will erneut auf dem Buckel von Menschen mit Behinderungen sparen, namentlich auf Kosten von Kindern. Dies ist eine sehr kurzsichtige Politik, denn die Kosten würden so zu einem grossen Teil zu den Ergänzungsleistungen verlagert werden. Sparmassnahmen sind ohnehin nicht notwendig, denn die Sanierung der IV bis im Jahr 2030 ist auf Kurs, wie die Zahlen des Bundesamtes für Sozialversicherungen Jahr für Jahr beweisen. Grund dafür ist unter anderem, dass bei den bereits durchgeführten Revisionen massive Leistungseinschränkungen- und Kürzungen durchgesetzt wurden. Mit weiteren Einschnitte würden viele Menschen mit Behinderungen einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, das schon heute nachweislich besteht.

Keine Kinder für IV-Beziehende
Ausgerechnet auf dem Buckel von Familien will jetzt der Nationalrat sparen. Die Kinderrenten sollen grundlos von 40 Prozent auf 30 Prozent der Hauptrente gekürzt werden. Die gleiche Ratsmehrheit scheut sich aber nicht, erhebliche Kosten zu verursachen, indem sie die «Kinderrenten» in «Zulagen für die Eltern» umbenennt. Somit müssen sämtliche Formulare, Pensionskassereglemte, Informationsbroschüren etc. abgeändert werden. Diese Beschlüsse sind zynisch: Für Begrifflichkeiten wird Geld ausgegeben, aber bescheidene Kinderrenten werden gekürzt. Ein weiterer Beschluss des Nationalrats, das stufenlose Rentensystem, hält in der Form nicht, was es verspricht. So werden Personen mit schweren Beeinträchtigungen mit Kürzungen bestraft: Wer einen IV-Grad zwischen 60 und 69 Prozent aufweist, würde neu mit einer teilweise massiven Kürzung der Rente auskommen müssen. Heute bekommen sie eine Dreiviertelsrente, künftig sollen die IV-Renten dem IV-Grad entsprechen.
Das nun vorgeschlagene stufenlose Rentensystem kann in Kombination mit der Kürzung der Kinderrenten verheerende Folgen haben, wie folgendes Beispiel zeigt: Eine Mutter oder ein Vater mit einem IV-Grad von 62 Prozent und mit zwei Kindern kommt heute durchschnittlich auf eine Rente von total 2 295 Franken pro Monat (eine Haupt- plus zwei Kinderrenten). Mit dem Vorschlag des Nationalrats würden die Renten auf insgesamt 1 686 Franken und somit um 609 Franken – also mehr als einen Viertel – zusammengestrichen! Das Signal des Nationalrates ist unmissverständlich: IV-Beziehende sollen sich in Zukunft keine Kinder leisten dürfen.

Nicht zielführend
Die Befürworter*innen argumentieren, dies fördere die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und verhindere Schwelleneffekte. Diese Argumentation überzeugt nicht: Die Wahrscheinlichkeit, eine Stelle zu finden, ist umso schwieriger, je höher die Arbeitsunfähigkeit ist. Der Nationalrat will aber ausgerechnet die grösste Stufe beibehalten: Unter 40 Prozent IV-Grad soll es weiterhin keine Renten geben. Der politische Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap widersetzt sich nicht grundsätzlich dem stufenlosen Rentensystem und dessen Zielen, doch die nun beschlossene Form ist jedoch aus oben genannten Gründen nicht zielführend. Inclusion Handicap hatte ursprünglich gefordert, dass ein stufenloses Rentensystem ab 10 Prozent IV-Grad greifen soll – so wie es heute schon bei der Unfallversicherung der Fall ist. Zudem darf es nicht zu Lasten von Personen mit höheren IV-Graden gehen.

Echte Weiterentwicklung fördern
Die beschlossenen Kürzungen gefährden die gesamte IV-Weiterentwicklung, obwohl sie wichtige Verbesserungen im Bereich der beruflichen Eingliederung vorsieht. Der Bundesrat hat richtig erkannt, dass vor allem bei Jugendlichen mit psychischen Beeinträchtigungen das Eingliederungspotenzial noch nicht ausgeschöpft ist. Inclusion Handicap unterstützt die Stossrichtung dieser Massnahmen, die auch im Nationalrat weitgehend unbestritten waren. Denn IV-Beziehende wollen und können arbeiten; sie verfügen über Qualifikationen und Potenzial. Arbeit sorgt nicht nur für ein finanzielles Auskommen, sie fördert auch soziale Kontakte und ist sinnstiftend. Für Menschen mit Beeinträchtigungen, die überdurchschnittlich oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, ist eine Arbeitsstelle ein wichtiges Element zur gleichberechtigten Teilhabe und für ein selbstbestimmtes Leben.
Eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration bedingt aber auch, dass Eingliederungsmassnahmen nicht zu rasch abgebrochen werden, und unter Umständen ist mehr als ein Anlauf nötig. Ausserdem hat eine erfolgreiche Eingliederung zur Folge, dass Renten gespart und die IV finanziell entlastet wird. Dies ist eine echte und weitsichtige Weiterentwicklung. Schliesslich gilt es auch festzuhalten, dass alleine mit der IV die Eingliederungsziele nicht erreicht werden können. Die Arbeitgeber*innen müssen vermehrt in die Verantwortung genommen werden, da Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Die IV-Revision geht nun in den Ständerat. Inclusion Handicap wird sich mit aller Vehemenz gegen die Kürzungsvorschläge des Nationalrates zur Wehr setzen.

Marc Moser ist Kommunikationsverantwortlicher von Inclusion Handicap. Weitere Infos: www.inclusion-handicap.ch

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