Meist ohne politische Bezüge


dab. Zum ersten Mal waren die 56.Solothurner Filmtage («Home Edition») vollständig online. Filme konnten unterbrochen und zwei Mal geschaut werden. Festivalatmosphäre konnte nicht wirklich aufkommen, das kollektive Filmerlebnis und
der Austausch danach fehlten. Das einheimische Filmschaffen kann sich dadurch weniger unmittelbar öffentlich feiern als bisher.

Wie jedes Jahr wurde eine schwer zu überschauende Menge von Spiel-, Dok-, Kurz- und Trickfilmen, Werkschauen und Retrospektiven sowie Filmgesprächen, Podien und Workshops zu einer Fülle von Themen vorgeführt – und Preise in verschiedenen Kategorien vergeben. Die meisten Filme beschäftigen sich mit Liebe, Beziehungen, Lebenskrisen, Familiengeschichten, Krankheiten, tüchtigen Frauen* und Männern* und dem (Swiss) American Dream.
Auseinandersetzungen mit politischen und wirtschaftlichen Realitäten wie Flüchtlingspolitik, Transgender oder der Dokfilm «Der Ast, auf dem ich sitze» von Luzia Schmid über «Zug, Steueroase und einer der grössten Rohstoffhandelsplätze der Welt», kommen vor, bleiben aber Randerscheinungen. Die unter dem Titel «Lockdown Collection» gezeigten Kurzfilme werfen einen oberflächlichen, humorvollen, ästhetisierten Blick auf das Leben mit den Pandemiemassnahmen. Kritik wird gestreift, verwischt, aufgelöst – die Probleme und die körperlichen, psychischen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen der Massnahmen werden dadurch verharmlost.

Emotionen und Identifikation

Im auch auf SF, RSI und RTS im O-Ton mit Untertiteln gezeigten Filmtage-Eröffnungsfilm «Atlas» (Schweiz/Belgien/Italien) klettern zwei Paare im Atlasgebirge. Gewaltige Bergbilder, schöne Ferienerlebnisse – bis zur Explosion in einem Strassencafé (der das Etikett «Terroranschlag» aufgeklebt wird). Die Hauptfigur Allegra überlebt als einzige der Gruppe. Wieder zu Hause im Tessin ist sie damit beschäftigt, das Trauma zu verdauen und zu überwinden. Der Tessiner Regisseur Niccolò Castelli will mit dem Spielfilm grosses Kino machen in schönen professionellen Bildern, Schnitten und mit vielen Zeitsprüngen, Emotionen wecken und Identifikation herstellen. Der italienischsprachige Film ist auf die Hauptdarstellerin Matilda De Angelis zugeschnitten, die daran ist, eine internationale Karriere einzuschlagen. Da der Film formal ein hohes Qualitätsniveau hat, im privaten Raum erzählt und verbildlicht und keine politischen Bezüge und Zusammenhänge aufzeigt, erfüllte er die wichtigsten Kriterien als Eröffnungsfilm.
«Atlas» frönt dem mainstreamigen Zeitgeist der entpolitisierten Innerlichkeit. Doch Villi Hermann kann auch anders. In seinem Film «Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)» von 1980 war er stark politisch. Politische Filme waren damals beliebt. Villi Hermann, Regisseur und Produzent, dem an diesen Filmtagen eine Werkschau («Rencontre») gewidmet war, ist Produzent von «Atlas». Hermann inszenierte Spielfilme wie «Innocenza» (1986) über Kindheit, Familie, Dorf und Liebe, «Bankomatt» (1989) über die Rache eines früheren Bankdirektors oder Dokumentarfilme wie «Per un raggio di gloria» (1996) über Helden und Antihelden des Radzirkus’ an der Rad-WM 1996 in Lugano.

Neoliberale und faschistische Kälte

«Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)» von Villi Hermann, Niklaus Meienberg und Hans Stürm mit dem Schauspieler Roger Jendly erzählt die Geschichte von Maurice Bavaud, dem 22-jährigen katholischen Seminaristen aus Neuchâtel, der 1938 ein Attentat auf Adolf Hitler machen wollte. Mehrere Versuche, ihn zu erschiessen, scheiterten. Bavaud wurde verhaftet und – toleriert von den Schweizer Behörden – 1941 in Berlin hingerichtet. Mit seiner Tat wollte Bavaud «der Christenheit und der ganzen Menschheit einen Dienst erweisen».

Aufgrund von Stimmungsbildern, Gesprächen mit Familienmitgliedern, Briefen an die Familie, der gründlichen Beschreibung in Akten der deutschen Untersuchungsbehörden und Recherchen auf der Strasse, an Veranstaltungen und Demonstrationen, entwirft der Dokumentarfilm ein stimmiges Ganzes. Der Titel «Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)» erinnert an die 1980er-Bewegung und an Eisbär-, Pinguin- und Packeismetaphern, die auch im radikal-experimentellen Film «Züri brännt» von 1980 oder in Songtexten aus dieser Zeit vorkommen. Der schwarzweisse Dokumentarfilm mit seinen Recherchen vor Ort und düsteren Wolkenbildern, Kamerafahrten auf Autobahnen und durch Städte gibt einen Eindruck, der von vielen als kalt und brutal empfundene Atmosphäre des Neoliberalismus von 1980 und des Faschismus von 1938.

Tod, Schmerz und Abschied

Der Dokfilm «Suot tschêl blau» von Ivo Zen wurde fälschlicherweise als Film über die 1880er-Bewegung angekündigt: «Oberengadin 1980: Inspiriert von den Zürcher Unruhen lehnt sich die Jugend gegen die traditionellen Regeln auf.» Es ist aber kein Film über lustvolle anarchistische Rebellion im Bergtal. Sondern eine Betrachtung über den tiefblauen Oberengadiner Himmel, verschneite Berge, Landschaften, Dörfer und Friedhöfe mit Gräbern Herointoter. Über Jugendliche, die in den 1980er- und 1990er-Jahren die heimatliche Enge verliessen, ins anonyme Zürich gingen und dann in ihrer Heimat als grosses Problem wahrgenommen wurden. Über Verständnis und Unverständnis im Dorf, über Tod, Schmerz und Abschiednehmen der Überlebenden.

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