Löhne rauf!

dom. Rund 1500 Arbeiter*innen des öffentlichen Dienstes versammelten sich am 18.November in Bern, um gegen Reallohnverluste im Zuge der Inflation zu protestieren. Im Vorfeld hatte der Berner Regierungsrat einen Teuerungsausgleich von lächerlichen 0,5 Prozent vorgeschlagen.

Im August dieses Jahres konnte der Kanton Bern einen erfreulichen Überschuss für das Budget 2023 vermelden. In der Berner Zeitung war zu lesen: «Der Kanton budgetiert fürs kommende Jahr einen Überschuss von 114 Millionen Franken. Dabei setzt er auf eine hohe Gewinnausschüttung der Schweizerischen Nationalbank.»

Lächerlicher Vorschlag
Wer darauf gehofft hatte, dass davon etwas bei den Lohnabhängigen ankommen würde, wurde enttäuscht. Im November hat der Regierungsrat dem Parlament (Grossen Rat) vorgeschlagen, die aktuelle Inflation von drei Prozent mit lächerlichen 0,5 Prozent auszugleichen. Gelegentlich ist der Einwand zu vernehmen, dass für die kantonalen Angestellten und Lehrkräfte ein zusätzlicher Lohnanstieg von 1,5 Prozent vorgesehen sei. Aber erstens würden auch zwei Prozent Lohnsteigerung immer noch einen Kaufkraftverlust bedeuten. Und zweitens wird ein grosser Teil der Arbeiter*innen bei diesen zusätzlichen 1,5 Prozent Lohnsteigerung nicht einbezogen. Die Gewerkschaft VPOD hat darauf hingewiesen, dass «für die zahlreichen vom Kanton Bern ausgelagerten Betriebe des Sozialbereichs wie Institutionen der Langzeitpflege oder Werkstätten für Menschen mit einer Beeinträchtigung» seitens des Kantons nur 0,7 Prozent Lohnsummenwachstum und die 0,5 Prozent Teuerungsausgleich zur Verfügung stehen.

Prekäre Arbeitsbedingungen
Aufgerufen zur Demo hatte ein breites Bündnis von Gewerkschaften wie Bildung Bern, VPOD, GKB und die beiden Parteien SP und Grüne. Erschienen sind zahlreiche Arbeiter*innen aus Arbeitsumfeldern, die sich gerade innerhalb der letzten Jahre nochmals prekarisiert haben. Die Zustände in den Spitälern und den Schulen haben im Zuge der Pandemie gelitten – genauso wie das dort eingesetzte Personal. Dass gerade dort, wo unter widrigen Bedingungen die Aufrechterhaltung des Alltags gewährleistet wurde, nicht einmal der volle Teuerungsausgleich gewährleistet werden soll, ist ein Schlag ins Gesicht. «Ich überlege mir, im Kanton Fribourg oder vielleicht irgendwo im Aargau nach einer Stelle zu suchen», meint ein junger Lehrer an der Demo. Dort wären die Löhne wenigstens ok. Andere beklagen die Last des übermässigen administrativen Aufwandes, den mangelnden Schutz vor der Pandemie oder die fehlenden Ressourcen zur angemessenen Bewältigung des Schulalltags. Dasselbe Bild in der Pflege: Eine 61-jährige Demonstrantin meint, sie erwäge seit Jahren, aus dem Beruf auszusteigen. In den 16 Jahren, in denen sie nun als Pflegefachfrau arbeite, hätten sich die Arbeitsumstände kontinuierlich verschlechtert: «Personalmangel, unmögliche Dienstpläne, Stress.» Sie gelange regelmässig an ihre physischen und psychischen Grenzen.
Ein Artikel aus dem Beobachter gibt einen eindrücklichen Einblick in den Arbeitsalltag des Pflegepersonals und stellt fest, dass sich auch ein Jahr nach Annahme der Pflegeinitiative nichts zum Besseren gewendet hat: «Der Branche laufen jeden Monat 300 Leute davon. Diejenigen, die bleiben, sind am Anschlag.»

Ein altbekannter Mythos
Die bürgerliche Presse reagierte prompt: Der Bund warnt vor der Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale und holt sich dazu Rückendeckung vom liberalen Ökonomen Aymo Brunetti. «Die Löhne sollten nicht überproportional steigen», meint er. Dies, weil die Unternehmen dann zur Erhaltung ihrer Gewinne die Preise erhöhen würden, was die gewonnene Kaufkraft wiederum auffressen würde. Es ist ein altbekanntes Muster: Wenn die Lohnabhängigen einen Teuerungsausgleich fordern, wird von bürgerlicher Seite die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale heraufbeschworen. Bereits 1865 stritten Karl Marx und John Weston um die Frage des Zusammenhangs zwischen Lohn, Preis und Arbeitslosigkeit. Marx argumentierte, dass die Preise nicht von der Lohnentwicklung, sondern von einer Reihe anderer Faktoren abhängig seien: Etwa dem Produktivitätswachstum, dem Geldmengenwachstum oder den verschiedenen Phasen des industriellen Zyklus.
In der Folge wurden Marx’ Argumente mehrfach empirisch gestützt. Eine soeben veröffentlichte Analyse des Internationalen Währungsfonds (IWF) hat die Lohn-Preis-Spirale operationalisiert und diese auf eine Datenbank vergangener Episoden in fortgeschrittenen Volkswirtschaften angewendet, die bis in die 1960er-Jahre zurückreicht. In nur acht von 79 untersuchten Episoden sind Lohn- und Preissteigerungen über längere Zeit hinweg parallel aufgetreten. Besonders selten tritt dieser Zusammenhang in Episoden auf, die dem jüngsten Muster sinkender Reallöhne und angespannter Arbeitsmärkte entsprechen. Der IWF, nicht gerade als Verbreiter sozialistischer Propaganda bekannt, hält fest: «Wir kommen zu dem Schluss, dass eine Beschleunigung nicht unbedingt als Anzeichen für das Einsetzen einer Lohn-Preis-Spirale angesehen werden sollte.»

Auf die Strasse!
Bereits zu Beginn der inflationären Entwicklung dieses Jahres wurden die Lohnabhängigen allseitig zur Lohnzurückhaltung gemahnt. Bürgerliche Presse und liberale Ökonomen halten entgegen allen empirischen Befunden hartnäckig am Mythos der Lohn-Preis-Spirale fest – allerdings nicht, weil sie durch Lohnsteigerungen einen weiteren Anstieg der Inflation befürchten. Sie predigen den Lohnabhängigen Verzicht, um den Unternehmen die Profite zu sichern. Weitere Veranstaltungen aus den verschiedensten Branchen sind angekündigt, um gegen diese Frechheit zu protestieren: Löhne rauf!

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