Heuchelei im Tiefschnee

Die goldene Zeit des WEF könnte vorbei sein. Bild: Evangeline Shaw auf unsplash

flo. Zum 53.Mal trafen sich Kapitalist:innen und Regierungsvertreter:innen in Davos zum Weltwirtschaftsforum. Die erste Reihe imperialistischer Staaten schickt aber nur kleine Fische in den Schnee. Denn daheim droht nämlich oft Ungemach.

Was das Weltwirtschaftsforum (WEF) jedes Jahr mit Davos macht, ist eine Metapher auf das System, in dem wir leben, die man sich kaum schöner, aber auch kaum deprimierender ausmalen könnte. Das Stelldichein der Macht schafft sich für vier Tage eine abstruse Parallelgesellschaft im höchstgelegenen Städtchen Europas. Auf über 1500 Meter über Meer, abgeschirmt durch einen Festungsring aus Polizei und Armee, explodieren plötzlich die Immobilienpreise für eine Woche. Ein Airbnb-Zimmer mit einem Bett kostet mit einem Schlag 20000 Franken. Überall sind Bewaffnete in Uniform unterwegs. Kapitalist:innen, Staatsfunktionär:innen, NGO-Kader, genehme Presseleute und sogar einige wenige handverlesene Akti-vist:innen bilden ein ungewöhnliches Amalgam, das da durch Davos netzwerkt. 

Vertrauen schmilzt dahin
Es bräuchte den Blick ins Programm dieses Anlasses wohl gar nicht, um zu verstehen, dass das WEF die Antworten auf die Mehrfachkrise des Kapitalismus nicht geben kann – es hilft aber. Unter dem Motto «Zusammenarbeit in einer fragmentierten Welt» trafen sich die oberen Dreitausend. Doch auffällig viele der ganz grossen Namen fehlten auf der Liste der Teilnehmer:innen. Aus den USA nahmen weder Joe Biden noch Kamala Harris teil. Von den Staatschefs der G7-Staaten war einzig der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz vor Ort. Und selbst einige Kapitalisten, wie die Milliardäre Zuckerberg und Musk, schlossen eine Teilnahme aus. Ebenfalls fehlten Lula da Silva aus Brasilien und Xi Jinping aus China.
Und viele der ganz Grossen fehlten nicht ohne Grund: Der britische Premier Rishi Sunak muss sich aktuell daheim der Presse stellen, nachdem er in einem Social-Media-Video ohne Sicherheitsgurt in einem Auto zu sehen war. Er wurde dafür von der Polizei gebüsst. Und dass in einem Land, das seine letzten beiden Premiers in Rekordkadenz wegen Skandalen, einer Attitüde über dem Gesetz zu stehen und Inkompetenz abgeschossen hat. Der französische Staatschef Macron hat gar noch üblere Sorgen. Mit seinen Plänen einer Rentenreform, welche die Erhöhung des Rentenalters vorsieht, hat er Streiks und Demonstrationen mit zwei Millionen Teilnehmenden im ganzen Land provoziert (siehe dazu auch Seite 8).
In den USA dürfte Joe Biden einer unfassbar schweren Prüfung bevorstehen, denn seit Kurzem wurde das durch den Kongress auferlegte Schuldendach erreicht. Wenn es den Republikanern gelingt, das Haus zu blockieren, könnte der Biden-Administration schon im Juni das Geld ausgehen. Und dies während der aktivsten Beteiligung der USA in Sachen Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland. Das geopolitische Primat, die Vorherrschaft der Aussenpolitik vor allen anderen Finanzentscheiden bei einer Weltmacht wie den USA könnte zu massivem Sozialabbau führen, zu nicht bezahlten und stagnierenden Löhnen bei der öffentlichen Hand und zu Verwerfungen gesellschaftlichen Ausmasses.

Die Lückenfüller
Es ist deutlich: Wir befinden uns in einer organischen Krise des Kapitalismus. In einem Zustand, in dem «das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann», um es mit den Worten von Antonio Gramsci zu beschreiben. Die Welt hat sich von der Gesundheitskrise, die Covid darstellte, in keiner Weise erholt. Die Teuerungskrise zeigt sich in manchen (auch industrialisierten) Staaten mit schmerzhaften Preisexplosionen bei Waren des Grundbedarfs. Zum Beispiel bei den Eiern in den USA, wo als Folge davon der Schmuggel floriert. Oder in Österreich, wo der Preis für ein Kilogramm Butter von 5,98 Euro im September 2021 auf 10,36 im Dezember 2022 explodierte.
Doch, da sich immer noch enorm viel Marktmacht und Kapital jährlich am WEF ballt, wäre es verfrüht, viel zu verfrüht, das Ende des Treffens der «fat cats» im Schnee zu verkünden. Die Bresche, die beispielsweise China hinterlässt, wird bereitwillig von anderen Akteur:innen besetzt. So bespricht der amerikanische Sender CNBC das Engagement des indischen Kapitals am Anlass als «overwhelming presence» (überwältigende Anwesenheit). Ins selbe Horn stösst die Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Sie attestiert den indischen Geschäftsleuten gar, mit ihrem Engagement das Ziel zu haben, «eine Wirtschaftsmacht» werden zu wollen und China abzulösen. Wobei unklar bleibt, inwiefern Indien, immerhin aktuell auf Platz 6 in der Welt in Sachen Bruttoinlandprodukt, noch keine Wirtschaftsmacht wäre. 

WEF bleibt gefährlich
Das WEF hat immer noch seine Funktion als Bühne für politische Inszenierung von geheuchelter Suche nach Lösungen und zum Netzwerken zwischen Politik und Kapital. Doch es scheint mit einem Mal durchaus möglich, dass die goldene Zeit des Forums in Davos vorbei ist. Und dass es zu einem Treffpunkt des Kapitals in den Bergen wird, einfach viel weniger exklusiv als bisher. Weiter kann sich das Ausbleiben der zentralsten Entscheidungsträger:innen aus der Politik in den nächsten Jahren auf das privatwirtschaftliche Engagement am Anlass auswirken. Auch ein WEF, bestehend aus der zweiten Reihe der weltweiten Akteur:innen der Herrschaft des Kapitals, ist gefährlich. Es handelt sich immer noch um einen Anlass, der eine gewisse Wichtigkeit für das Kapital besitzt. Jedoch auch ein Anlass, der angesichts der Probleme und Krisen zu Hause, für viele Staaten keine wirkliche Priorität mehr hat. Es hat schon fast etwas Beruhigendes: Mit dem Kapitalismus scheint auch das WEF zu erodieren.

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