Endlich!

sit. Roger Nzoy wurde 2021 von der Polizei erschossen. Vier Jahre lang kämpfte seine Familie, um das Grundrecht auf ein faires Verfahren zu erhalten – nun muss die Justiz die Ermittlungen wieder aufnehmen. Der Fall offenbart, wie Polizeigewalt durch die Justiz gedeckt wird.

Vorweg die gute Nachricht: Am 27.Mai wurde Nzoys Familie vom Entscheid der Beschwerdekammer für Strafsachen des Kantonsgerichts des Kantons Waadt in Kenntnis gesetzt. Das Gericht heisst die Beschwerde der Familie gut und weist die Staatsanwaltschaft an, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Wir erinnern uns: Ende August 2021 wurde Roger Nzoy Wilhelm (38) auf dem Bahnhof in Morges von der Polizei mit drei Schüssen erschossen.

Grundrechte eklatant verletzt
«Nzoys Familie erhält nach vierjährigem Kampf endlich Zugang zur Justiz», informiert am 28. Mai die Unabhängige Kommission zur Aufklärung der Wahrheit im Fall Nzoy in ihrer Medienmitteilung. Richtig gelesen: Vier Jahre lang ein juristischer Kampf, um Zugang zur Justiz zu bekommen. Also nicht etwa, um die Wahrheit über den Familienangehörigen zu erfahren, sondern um das Grundrecht auf ein faires Verfahren zu erhalten. Diese Tatsache unterstreicht auch die Unabhängige Kommission in ihrer Stellungnahme. Der Entscheid des Kantonsgerichts sei zwar «in vielerlei Hinsicht eine gute Nachricht». Er sei aber auch Beweis dafür, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in den letzten Jahren «eklatant verletzt» wurde. Auch hätten die Angehörigen keinerlei Unterstützung von der Justiz erhalten.
Und dies alles «wirft die Frage nach dem Zugang zur Justiz für People of Color und im weiteren Sinne für prekarisierte sowie marginalisierte Menschen auf», bringt die Unabhängige Kommission die Sache auf den Punkt. Denn ohne die Solidaritätsbewegung im Fall Nzoy und die so entstandene enorme Hilfsbereitschaft hätte die Familie niemals die finanziellen (aber nicht nur) Mittel gehabt, diesen jahrelangen Justizkampf zu führen – und wäre so niemals zu ihrem Recht gekommen. «Dass diese Last von den Angehörigen und Opfern getragen werden muss, ist in einem Rechtsstaat inakzeptabel», hält die Unabhängige Kommission fest. So viel zum angeblichen Rechtsstaat, in dem wir leben.

Roger Nzoy bleibt liegen. Für immer!
Blicken wir zurück, 30.August 2021: Auf dem Rückweg von Genf nach Zürich steigt Nzoy um 16.42 Uhr am Bahnhof Morges aus dem Zug. Es geht ihm nicht gut. Er ist in einer Krise. Nzoy kauert sich zwischen stillgelegten Zügen nieder. Ein Gleisarbeiter bittet ihn, die Gleise zu verlassen. Anschliessend ruft er die Polizei und berichtet von einem verwirrten Mann. Nach ihrem Eintreffen
gehen zwei Polizisten auf Nzoy zu. Nzoy bleibt ruhig, wartet ab. Plötzlich stürmen zwei weitere Polizisten auf ihn zu – einer davon mit gezogener Waffe. Nzoy fühlt sich bedroht, möchte sich wehren, sich verteidigen, und geht auf den Polizisten zu. Der Polizist gibt zwei Schüsse ab – Nzoy geht zu Boden. Doch Nzoy richtet sich auf und versucht, sich erneut gegen die Übermacht der bewaffneten Polizisten zu verteidigen. Dabei sucht er hinter seiner Tasche Schutz. Der Polizist schiesst erneut – Roger Nzoy bleibt liegen. Für immer!

Skandalöse Parteilichkeit
Die Polizei gibt an, Nzoy habe ein Messer gezogen und sei auf einen Beamten zugelaufen, was den Schusswaffeneinsatz rechtfertige. Einige Zeugenaussagen und Videoaufnahmen bestätigen, dass Nzoy auf die Beamten zuging, jedoch ist das Messer auf den Aufnahmen nicht sichtbar. Die Ermittlungen dauern über zwei Jahre. Im November 2024 erlässt Staatsanwalt Laurent Maye eine Einstellungsverfügung für den Fall der Tötung von Roger Nzoy Wilhelm. Der Staatsanwalt begründet dies mit Notwehr seitens des Polizisten, der die tödlichen Schüsse abgegeben hatte. Gleichzeitig erlässt er eine Nichteintretensverfügung bezüglich des Antrags des Anwalts von Nzoys Familie, die drei anderen Polizisten wegen unterlassener Hilfeleistung anzuklagen.
Für die Unabhängige Kommission kam die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft «wenig überraschend, so schockierend sie auch ist», schreibt sie in ihrer Stellungnahme Anfang Dezember 2024. Und: «Die Kommission sieht darin einen Ausdruck struktureller Gewalt und skandalöser Parteilichkeit, wie sie in solchen Verfahren regelmässig zu beobachten sind.»
So ein Verfahren war jenes im Fall von Mike Ben Peter. Der 39-Jährige aus Nigeria starb im März 2018 nach einer Polizeikontrolle in Lausanne. Mehrmals hatten die Polizist:innen Ben Peter das Knie in die Genitalien gerammt, ihm Pfefferspray ins Gesicht gesprüht und ihn minutenlang in Bauchlage auf den Boden gedrückt. Sie wurden freigesprochen. Begründung: Es sei unmöglich, mit Sicherheit festzustellen, dass Mike Ben Peter aufgrund des Polizeieinsatzes und insbesondere aufgrund des Festhaltens in Bauchlage gestorben sei.

Die Wende
Die Familie von Nzoy legte Berufung ein – und bekam nun recht. Das Urteil des Kantonsgerichts vom Mai dieses Jahrs hebt die beiden Verfügungen des Staatsanwalts auf, insbesondere wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Richter:innen der Beschwerdekammer sind der Ansicht, dass der Staatsanwalt dem Grundsatz in dubio pro duriore (im Zweifel für die Anklageerhebung) nicht nachgekommen sei, wonach im Zweifelsfall zwingend eine Anklage und gerichtliche Beurteilung erfolgen muss. Sie stellen insgesamt in ihrem Urteil fest, dass es der bisherigen Untersuchung an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit mangelt. Und: Mindestens zwei Funkverbindungen wurden nicht dokumentiert. Dies sei eine schwerwiegende Lücke, die nun Gegenstand einer unabhängigen Untersuchung sein müsse.
Der Kampf für die Aufklärung der Wahrheit im Fall Nzoy geht weiter – aber auch weit darüber hinaus, denn er ist kein Einzelfall. So starb vor wenigen Wochen, am 25.Mai, in Lausanne erneut ein Mann afrikanischer
Herkunft auf der Wache, nachdem er bei einer Polizeikontrolle festgenommen worden war. Es ist der Kampf gegen staatliche Gewalt, die von einer rassistischen Klassenjustiz gedeckt wird.

 

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