Eingefressene Zustände

flo. Die Verbindlichkeit von Menschenrechten für Schweizer Konzerne hätte die Welt nicht grundlegend verändert. Dass die Volksabstimmung von Ende November verloren ging, darf Sozialist*innen dennoch nicht kalt lassen.

Die Linke in der Schweiz musste sich ein dickes Fell wachsen. Wer hierzulande für fortschrittliche Politik kämpft, hat sich ans Verlieren an der Urne gewöhnen müssen. Doch mit dem grossen Abstimmungssonntag von September schien es so, als könnte man auch bei linken Vorlagen gewinnen, wenn genug Leute an die Urnen mobilisiert werden. So liessen die Umfragen für die Abstimmung vom 29.November gut hoffen. Doch es kam bekanntlich anders: Auch die Konzernverantwortungsinitiative (KVI), deren Umfragewerte Anlass zu ungewohntem Optimismus gaben, scheiterte auf unbefriedigende Weise: Trotz Volksmehr fiel das Volksanliegen durch. Es konnte nicht die nötige Zahl an Standesstimmen erreicht werden.
Die Initiative scheiterte an der geforderten doppelten Mehrheit. An einem Anachronismus des Schweizer Politsystems, den wir nur mit einer einzigen – ebenfalls mässig demokratischen – Institution, der EU, teilen. Einem Anachronismus, der einzig dem Erhalt des Status quo dient. Er benötigt einzig ein einfaches Mehr von Bevölkerung oder Ständen, um weiter zu grassieren. Fatal wäre für uns aber jetzt vor allem eines: In Klagen zu verfallen, dass es halt so kommen müsse, in der ach so rechten Schweiz. Defätismus ist fehl am Platz. Denn: Die letzten Monate zeigen, dass sich das Land nach links bewegt.

Immer weiter vorwärts!
Mit dem Frauen*streik und dem Klimastreik haben sich letztes Jahr politische Kräfte zu formieren begonnen, die zwei der schärfsten Widersprüche des modernen Kapitalismus unmissverständlich offenlegen. Vielleicht merkt man es noch nicht so offen, doch diese Bewegungen haben die gesellschaftliche Entwicklung in der Schweiz nachhaltig mitgeprägt. Generationen politisch erwachter und erwachender Menschen nahmen sich mit einem uralten Mittel aus dem Schoss der Arbeiter*innenklassen, dem Streik, die Strasse und kämpften für ihre Rechte. Diese Bewegungen verstanden es, sich punktuell mit anderen Bewegungen, wie der gegen rassistische Polizeigewalt oder auf internationalem Niveau den Protesten gegen das Abtreibungsverbot in Polen, zu verbinden.
Dass solche Erhebungen von der Strasse aus in immer kürzeren Intervallen und immer heftiger ihre jeweiligen politischen Establishments in Furcht versetzen, ist kein Zufall. Die herrschende Ordnung steckt in ihrer organischen Krise. In einem Malstrom, in dem jeder Versuch, die Krise mit den Mitteln des Kapitals zu lösen, die Katastrophe nur verschlimmert. Damit wird für immer mehr Menschen Folgendes klar: Es ist nicht in Stein gemeisselt, dass wir im Kapitalismus sterben müssen, einfach weil wir in ihm geboren wurden.

Kerngeschäft Heuchelei
Am Abstimmungssonntag von Ende November haben wir praktisch alles verloren, was man verlieren konnte. Dennoch leben wir in seltenen Zeiten, in denen für Kommunist*innen revolutionäre Zuversicht zur Abwechslung angebracht wäre. Die Debatten um das Ständemehr, das die Initiative den Sieg kostete, sind insofern vor allem Spiegelfechtereien und keine gesellschaftlich relevanten Diskussionen über drängende Fragen. Auch wenn die Existenz eben jenes Ständemehrs nicht mehr als eine rückständige Hinterlassenschaft aus der Tagsatzung ist. Zur Erinnerung: Die Tagsatzung war in der Schweiz bis 1848 die Versammlung der Abgesandten der Orte (Kantone) der Alten Eidgenossenschaft. Wir sollten uns eher die Frage stellen, wie wir dieses System stürzen können. Dies statt technisch-legalistische Fragen zu besprechen, wie wir die eine oder andere Abstimmung gewinnen könnten. Dies nicht zuletzt deswegen, weil der letzte Abstimmungssonntag ein gutes Lehrstück in Sachen Vorgehen des bürgerlichen Staats darstellt. Denn: Auch wenn der Selbstanspruch der Schweiz jener wäre, dass die Menschenrechte unveräusserlich sind, laut Verfassung gar «für alle Menschen» gelten – ergo nicht auf die Schweiz begrenzt sind – war die Praxis des Bundes klar. Er kämpfte gegen die Ausweitung eben jener Rechte auf alle Menschen.
Und auch der Charakter des Ständemehrs wurde mit der Abstimmung, beziehungsweise der Strategie der Gegner*innen klar. Es scheint nämlich so, als habe man bewusst versucht, die Initiative an den Ständestimmen scheitern zu lassen. Das vermutet zumindest Andreas Missbach, Vorstandsmitglied bei der KVI, wie er im Gespräch mit dem vorwärts erklärt: «Ganz ehrlich: Ich hatte den Eindruck, dass die Gegner*innenschaft die Städte aufgegeben hatten. Ich sah in den Städten praktisch kein Plakat von ihnen.» Stattdessen konzentrierte sich das Nein-Lager auf die ländlichen deutschschweizer Kantone, um das Scheitern der Initiative sicherzustellen. «Da wurden über lokale Gewerbekammern Interviews mit KMU-Inhaber*innen organisiert, die man dann in die Lokalmedien brachte.» In der Deutschschweiz habe sich daher eine toxische Stimmung entwickelt.

Der Kampf geht weiter
Tatsächlich ist bemerkenswert, welchen Bemühungen die Gegner*innen der Vorlage in den Schlussmonaten noch entwickelten. Vor allem seitens der Regierung. Das sieht auch Missbach so, der vor allem bei der Vorsteherin des Justizdepartements, Bundesrätin Karin Keller-Sutter, eine etwas gar grosse Beteiligung im Abstimmungskampf sah: «Sie ging so stark und so viel gegen die Initiative vor, dass ich mich fragte, wann sie überhaupt noch die Zeit fand, ihrer Arbeit als Justizministerin nachzugehen.» Für die Aktivist*innen der KVI ist der Kampf dennoch nicht vorbei. Man wolle nun diskutieren, sich politische Ziele zu setzen und Strategien zu besprechen. Ausserhalb der Schweiz bewegt sich auch etwas. In der EU wurde eine Direktive vorgeschlagen, die Rechenschaft von EU-Konzernen verlangt, eine Vorlage ganz ähnlich wie die KVI also.

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