Die Gunst der Stunde

dom. Eine weitere Lockerung des Schweizer Kriegsmaterialgesetzes steht an. Offiziell soll die Ausfuhrpolitik den «aussen- und sicherheitspolitischen Gegebenheiten» angepasst werden. Doch in Wahrheit geht es um die Sicherung der Profite der Rüstungsindustrie.

«Volle Auftragsbücher und steigende Aktienkurse: Die weltweite Aufrüstung im Zuge des Ukraine-Kriegs freut auch Waffenfirmen in der Schweiz», berichtete SRF vor rund einem Jahr. Im vergangenen Jahr hat die Schweiz mehr Kriegsmaterial exportiert denn je: Mit insgesamt 955 Millionen Franken steigerten die Schweizer Rüstungsfirmen 2022 ihren Umsatz gegenüber dem Vorjahr um satte 29 Prozent – aber scheinbar ist das nicht genug. Jetzt, wo gefühlt jede Woche ein neuer Krieg ausbricht, jetzt, wo die umliegenden Nato-Staaten ihre Militärbudgets erhöhen, darf dem Profit der Schweizer Rüstungsindustrie nichts mehr im Wege stehen.

Immer weiter lockern
Deshalb hat die Sicherheitspolitische Kommission dem Nationalrat empfohlen, dem Bundesrat künftig bei der Ausfuhrpolitik für Kriegsmaterial «mehr Flexibilität» zu geben, «um die Ausfuhrpolitik für Kriegsmaterial an sich ändernde aussen ? und sicherheitspolitische Gegebenheiten anpassen zu können». Der Bundesrat unterstützt die Motion, die voraussichtlich in der Wintersession vom Nationalrat behandelt wird. Der Ständerat gab seine Zustimmung zur Motion bereits im vergangenen September. Mit der Zustimmung des Nationalrats würde der Bundesrat künftig «in Ausnahmefällen von den Bewilligungskriterien für Kriegsmaterialausfuhren abweichen» können. Damit folgt der nächste Akt im politischen Theater um das Schweizer Kriegsmaterialgesetz.
Blicken wir kurz zurück: 2009 kommt es zur Abstimmung über eine von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) lancierte Initiative für ein Exportverbot von Kriegsmaterial. Sie wird abgelehnt, der Bundesrat versichert aber, an einer restriktiven Exportpraxis festzuhalten. Doch nur wenige Jahre später lockert er diese Praxis: Waffenexporte in Staaten, welche systematisch Menschenrechte verletzen, sind nur noch verboten, wenn diese Waffen auch tatsächlich für besagte Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden – man muss gelegentlich innehalten und sich bewusst machen, mit welchen absurden Konstruktionen hier gearbeitet wird, um gewinnbringend Waffen herumschieben zu können.
2018 dann will der Bundesrat das Kriegsmaterialgesetz weiter aufweichen und künftig auch Waffenexporte an Staaten ermöglichen, in denen Bürgerkrieg herrscht. Daraufhin lanciert die GSoA die sogenannte «Korrekturinitiative», welche diesen Schritt rückgängig machen will. In Rekordzeit sind die nötigen Unterschriften gesammelt, die Initiative wird eingereicht. Der Bundesrat wird nervös und legt einen Gegenvorschlag vor, der sich aber als schlechter Witz erweist, da er neben Verschärfungen des Kriegsmaterialgesetzes auch eine Ausnahmeklausel beinhaltet. Weil das Parlament diese Klausel aus dem Gegenvorschlag streicht, zieht die GSoA ihre Initiative zurück – heute
soll die Ausnahmeklausel nun doch wieder ins Gesetz.
Den Grund für dieses unsägliche Hin und Her sieht Evelyne Schmid, Professorin für Völkerrecht, in den Verschärfungen des Kriegsmaterialgesetzes von 2008. Im Gespräch mit der NZZ meint sie, damals habe der Bundesrat mit dem Ziel, die Annahme der Initiative gegen Kriegsmaterialexporte zu verhindern, quasi als Gegenvorschlag klare Kriterien definiert, die für den Kriegsmaterialexport gelten sollten. «Das stört die Industrie. Sie möchte Flexibilität», so Schmid. Und weil der Einfluss der mächtigen Rüstungsindustrie gross ist, weil ihre Lobby stark ist, versucht die Politik seit 2008 auf Umwegen und durch Gesetzeslücken an ihrem eigens geschaffenen Gesetz vorbeizukommen – und gewährleistet damit die gewünschte «Flexibilität».

Referendum angekündigt
Die Zunahme militärischer Auseinandersetzungen und die allseitige Aufrüstung sind Wasser auf die Mühlen der Rüstungsindustrie und all jener, die deren Interessen vertreten. Die Sicherheitspolitische Kommission meint, dass «angesichts der stark veränderten weltpolitischen Lage» mit der Gesetzesänderung insbesondere «der Aufrechterhaltung einer für die Schweizer Landesverteidigung zentralen industriellen Kapazität besser Rechnung getragen werden könne». Dabei sei wichtig, «dass die Schweiz international als zuverlässiger Partner wahrgenommen wird».
Dem widerspricht eine aus SP und Grünen zusammengesetzte Minderheit innerhalb der Kommission. Sie erachtet es als «undemokratisch», die Errungenschaft der Korrekturinitiative nach kurzer Zeit mittels Motion rückgängig zu machen. Auch Anja Gada, politische Sekretärin der GSoA, meint gegenüber dem Tagesanzeiger: «Das ist demokratiepolitisch höchst fragwürdig». Die Organisation prüft nun ein Referendum, ebenso beabsichtigen dies die Sozialdemokrat:innen und die Grünen.
Priska Seiler Graf, SP-Nationalrätin und Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission, sagt dazu: «Der Nationalrat muss diesen Entscheid jetzt korrigieren. Alles andere wäre ein fataler Entscheid unter dem Vorwand des Leids in der Ukraine, um einen Teil der Korrektur-Initiative zu umgehen. Die SP wird sich dezidiert gegen diese Motion einsetzen. Die vorliegende Motion würde den Menschen in der Ukraine nichts bringen, denn weiterhin wäre es der Schweiz völkerrechtlich nicht erlaubt, der Ukraine direkt Kriegsmaterial zu liefern».

Unterschiedliche Beweggründe
Die SP hat nicht nur Probleme mit dem undemokratischen Charakter der Motion – sie stört sich ebenso sehr daran, dass diese die Möglichkeiten zur Unterstützung des ukrainischen Staates nicht erweitert. Deshalb war die SP im Frühling dieses Jahres ja auch federführend beim Vorschlag, die Weitergabe von Schweizer Kriegsmaterial über Drittstaaten zu ermöglichen. Seiler Graf meint dazu im Gespräch mit der WOZ, sie habe sich zwar persönlich immer für Verschärfungen in Bezug auf die Kriegsmaterialausfuhr eingesetzt. «Aber in diesem Krieg Russlands gegen die Ukraine, in dem es einen klaren Aggressor und ein Opfer gibt, kann man sich nicht einfach neutral verhalten. Wir haben deshalb eine kleine, zurückhaltende Öffnung des Kriegsmaterialgesetzes formuliert, die der Ukraine helfen würde, und zwar auf Basis des Völkerrechts». So soll dem Bundesrat ermöglicht werden, die Wiederausfuhr von Schweizer Waffen zu bewilligen, sofern «der Uno-Sicherheitsrat oder zwei Drittel der Uno-Generalversammlung eine Verletzung des Gewaltverbots anerkennen». Der Vorschlag stütze sich damit auf die Uno-Charta und sei «gleichzeitig neutralitätskonform». Ob das stimmt, darf bezweifelt werden: Wie man hört, tut sich die zuständige Subkommission schwer, aus dem Vorschlag ein anwendbares Gesetz zu gestalten.
Die Grünen hingegen stören sich in erster Linie an der undemokratischen Vorgehensweise und dem Ausnutzen der angeblichen veränderten Sicherheitslage für weitere Rüstungsprofite. In ihrer Pressemitteilung ist zu lesen: «Dieser Entscheid ignoriert den Willen der Bevölkerung (…) Die Grünen erwarten nun vom Nationalrat, dass er den Volkswillen respektiert, dem Druck der Rüstungsindustrie standhält und die Motion ablehnt». Marionna Schlatter, Nationalrätin der Grünen und Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission meint auf Anfrage des vorwärts, sie halte es für «unredlich, die Gunst der Stunde und die Solidarität der Menschen mit der Ukraine auszunutzen, um eine Gesetzesänderung zu beantragen, die der Ukraine nicht hilft, dafür aber der Rüstungsindustrie, damit diese letztlich wieder einfacher Kriegsmaterial liefern kann».

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