Der Staat und seine Gewaltexzesse

flo. Vor zehn Jahren wurde in Winterthur eine Demonstration für Freiräume von der Polizei mit brutaler Gewalt und Härte zusammengeschossen. Was am Ende der Nacht blieb, waren zahlreiche Verletzte – und noch mehr Radikalisierte.

Ich will hier eine Geschichte erzählen. Die Geschichte der Nacht vom 21.September 2013 in Winterthur. Es gibt keinen Grund für mich, diese Geschichte objektiv oder gar unparteiisch zu erzählen. Deshalb werde ich es gar nicht erst versuchen. In dieser Nacht wurde ich am Rücken und an den Waden viermal von Gummischrot getroffen. Ein weiteres Geschoss traf meine Nase und brach sie. Es fühlte sich an, als sei mir ein Hammer ins Gesicht geschlagen worden. Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, spürte ich, wie ein Genosse mich über den Boden weiter nach hinten zog. Es dürfte eine der traumatischsten Nächte meines Lebens gewesen sein.

Einen kaputten Sinn für Humor
Und dabei habe ich im Vergleich zu den anderen, die mit mir in dieser Nacht in der Unteren Vogelsang-strasse eingekesselt worden sind, nicht besonders viel einstecken müssen. Eine junge Frau wurde am Auge getroffen und schwer verletzt. Ein junger Mann, der sich mit mir hinter einem Auto vor den Gummischrotsalven duckte, wurde trotzdem irgendwie an der Stirn getroffen (vermutlich war das Gummigeschoss irgendwo abgeprallt). Wegen seiner Rissquetschwunde war sein ganzes Gesicht über und über mit Blut besudelt. Der Moment, in dem ich meine Hände hinter einem Auto hervorstrecken musste und der Polizeireihe «nicht schiessen, hier braucht jemand medizinische Versorgung!» zurief, wird meine Haltung zu diesem bourgeoisen Klassenstaat wohl bis zu meinem letzten Tag prägen. Als ich darauf beharrte, dass die Polizei den Verletzten aus dem Kessel lassen sollte, war ihre erste Reaktion: Mir wurden ein Mehrfachwerfer und ein Pfefferspray drohend ins Gesicht gehalten und mitgeteilt, ich solle mich verpissen. Und dies, während ich in einem Kessel gefangen war, den die Polizei immer enger machte, fast so, als würde man eine Schlinge zu ziehen – Polizist:innen haben einen kaputten Sinn für Humor…

Ein politischer Friedhof
Aber was war der Anlass für diese exzessive Gewalt-orgie der Polizei in Winti? Schon im Jahr zuvor hatten in Schweizer Städten, so in Bern, Tanzdemos stattgefunden. Die Demonstrationen lockten in mindestens einem Fall 10’000 Aktivist:innen und Jugendliche an. Es wurde getanzt, getrunken, gefeiert, aber auch politisiert: Die Tanzdemos standen für Freiräume, in denen man sich entfalten kann, ohne dass man dafür irgendwelchen Kapitalist:innen Geld in den Rachen werfen muss. Die Lösung: Ihr kommerzialisiert immer mehr vom öffentlichen Raum? Viel Spass, dann nehmen wir uns den Raum eben mit einigen tausend Leuten für heute Nacht zurück. Man kämpfte gegen Konsumzwang, Verdrängung, Gentrifizierung.
Zu Beginn schien der Staat nicht so recht zu wissen, wie mit dieser Bewegung umzugehen. Zehntausende, die in unterschiedlichen Schweizer Städten ohne Erlaubnis durch die Strassen tanzten und dabei nicht einmal Geld ausgaben? Das durfte natürlich nicht sein. Die Antwort auf die in Bewegung geratene Jugend? Repression: Am
25.Mai 2013 nahm die Berner Polizei Sachbeschädigungen durch einzelne Demonstrationsteilnehmende zum Vorwand, die Demonstration mit Wasserwerfern, Gummischrot und Reizgas anzugreifen.

Standortfucktor
In Winterthur liess man sich von diesem Repressionsexzess nicht einschüchtern. Am 21.September 2013 wollten sich die Bewegung und die Jugend in Winterthur die Strassen nehmen. Ebenso wie in den anderen Grossstädten des Landes wurden auch in der Eulachstadt kollektive Räume eingestampft und durch Konsumtempel und praktisch unbezahlbare Luxuswohnungen ersetzt. So auch im Fall des Winterthurer Volkshauses, das abgerissen wurde, um Platz für ein mässig erfolgreiches Einkaufszentrum zu machen. Gekrönt wurde das Gentrifizierungsprojekt von protzigen Wohnungen, deren Mieten sich heute bis auf fast 4200 Franken im Monat belaufen.
Es sollte ein Fanal werden, gegen diese Logik der Standortoptimierung. Passend taufte sich die Bewegung denn auch «Standortfucktor». Doch die Stadtpolizei in Winterthur, wie auch die Zürcher Kantonspolizei, beschlossen eine massive Eskalationsstrategie. Wie schon in der Vergangenheit (etwa bei der beispiellosen Repression gegen die Winterthurer Bewegung im Jahr 1984) schien man in der damaligen Polizeihauptstelle im alten Badehaus beim Obertor vor allem eines zu wollen: Verhältnisse wie in Zürich oder Bern sollten verhindert werden. Die Logik war so klar, wie einfach: Die politische Friedhofsruhe musste gewahrt werden. Auch wenn man dafür eine Nacht lang Menschen zusammenschiessen musste, die nichts weiter taten, als ihr Recht auf freie Versammlung wahrzunehmen.

Vom Kessel in den Kessel
In dieser Nacht wirkte das Vorgehen der Polizei direkt orchestriert, um zum gewünschten Ergebnis, dem Gewaltexzess, der dann später in der Nacht entfesselt wurde, zu führen. Die Demonstrant:innen versammelten sich am Winterthurer Bahnhofplatz. Innert kürzester Zeit wurde der Sack zugemacht. Rasch wurde klar: So wie geplant, würde man in dieser Nacht nicht laufen können. Über Megafon wurde die Demonstration aufgefordert, sich aufzulösen, den Bahnhofsplatz zu räumen. Einen Weg hinaus gab es freilich länger nicht. Dann tat sich kurz eine Lücke auf. Einige hundert Personen verliessen den Kesseln in Richtung Untere Vogelsangstrasse. Die Strasse neben den alten Lagergebäuden am Winterthurer Bahnhof, an der heute vor allem Clubs stehen, sollte für die Demonstrierenden aber nicht zur Möglichkeit zu entkommen, sondern zur Falle werden. Als sich die Gruppe in der Strasse befand, wurden rasch Zu- und Ausgang gesperrt.
Für diejenigen, die im Kessel gefangen waren, begann so eine mehrstündige Tortur. Sie wurden mit Gummischrot und Wasserwerfern beschossen, sie wurden Reizgas ausgesetzt, man wurde sie bedrohen, drangsalieren. Und als sei die physische Gewalt in dieser Nacht nicht schon exzessiv genug gewesen, würde die Staatsmacht in den folgenden Wochen jene kriminalisieren, deren Namen sie aufgenommen hatten. Der Gipfel des Zynismus: Nach der ungehemmten Gewaltnacht vom 21.September verschickte die Polizei Bussen wegen der Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration. Für ihr brutales Vorgehen erteilte sich der Staat selbst die Absolution. Auch die Stadtregierung (inklusive ihrer sozialdemokratischen Mitglieder, die damit die Nutzlosigkeit von Reformist:innen in irgendeiner Exekutive bewiesen) deckte den Exzess.

Wir da, ihr dort
Für viele von jenen, die in dieser Nacht verletzt, kriminalisiert und traumatisiert wurden, ist der 21.September ein Lehrstück geworden. Ein Lehrstück darin, wie selbstverständlich der bürgerliche Staat brutalste Gewalt anwendet, um auch sicherzugehen, dass alles so bleibt, wie es ist. Mich selber hat diese Erfahrung dann auch letztlich von meinen letzten reformistischen Illusionen geheilt. In dieser Nacht hat dieser Staat mit seinen (wie Lenin sie beschreibt) besonderen Formationen bewaffneter Menschen eine für alle klar sichtbare Linie gezogen – wir da, ihr dort. Wir für unsere Rechte und Interessen, ihr für den Profit von Menschen, die ohnehin schon zu reich sind. Es war, als hätte das Kapital in diesen Stunden, in diesem Kessel, die Klassenlinien breit in tiefstem Rot auf unsere Strassen gemalt. Ich bin überzeugt, dass ich nicht der Einzige war, der sie in dieser Nacht gesehen hat.

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