Beschämend!


sit. Am Abend des 27.Januars wurden mit einem Sonderflug von Genf Menschen mit Gewalt nach Äthiopien ausgeschafft. Der tobende Krieg und die
wütende Covid-Pandemie in Äthiopien sind der offiziellen Schweiz egal. Ein Skandal!

Drei Tage vor der geplanten Ausschaffung trat Tahir Tilmo, einer der Betroffenen, in einen Hunger- und Durststreik. Ein letzter, verzweifelter Versuch. Amnesty International und die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) forderten, den Sonderflug nach Äthiopien angesichts der von ihnen dokumentierten zahlreichen Menschenrechtsverletzungen abzubrechen. Gleiches taten auch zahlreiche Menschen und Organisationen, darunter die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) und diese Zeitung, mit der Unterzeichnung eines dringenden Aufrufs. Darin zu lesen: «Die geplanten Abschiebungen in das krisengeschüttelte Kriegsland Äthiopien entbehrt besonders in Coronazeiten jeglicher Menschlichkeit.»
Es nützte leider alles nichts. «Tahir Telma, Arkisso Solomon, Teklu Feyisa und weitere Menschen, deren Namen wir nicht kennen, wurden heute Abend zwangsausgeschafft», informiert das Migrant-Solidarity-Netzwerk am 27.Januar kurz vor Mitternacht. «Mit Gewalt wurden sie in Genf in den Frontex-Sonderflug Richtung Äthiopien verfrachtet. Dem SEM sei «das Leben, der Wille und die Würde der heute Abgeschobenen offensichtlich egal», schreibt das Netzwerk. Und es hält weiter zurecht fest: «Ausschaffung ist Folter, Ausschaffung ist Mord!»

EDA warnt vor Reisen nach Äthiopien

«Das SEM beobachtet die aktuelle Lage in Äthiopien und besonders die Entwicklungen im Regionalstaat Tigray aufmerksam. Im Land herrscht derzeit keine Situation allgemeiner Gewalt», hält das SEM auf Anfrage des vorwärts fest. Wirklich? Ein Blick auf die «Reisehinweise für Äthiopien» auf der Website des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) lässt andere Schlüsse zu. «Seit Anfang November 2020 kommt es zu bewaffneten Zwischenfällen zwischen den äthiopischen Verteidigungskräften und der Tigray People‘s Liberation Front (TPLF). Die äthiopische Regierung hat militärische Aktionen gegen die TPLF unternommen (…).» Weiter zu lesen ist: «Es muss weiterhin mit bewaffneten Konfrontationen (…) gerechnet werden. Die Lage ist unübersichtlich und die weitere Entwicklung ungewiss.» Und das EDA fügt warnend hinzu: «Von Reisen in die Region Tigray wird abgeraten.» Grundsätzlich zu Äthiopien informiert das EDA wie folgt: «Im ganzen Land bestehen politische, ethnische und soziale Spannungen. Sie können sich teilweise ohne grosse Vorwarnung in lokalen, gewaltsamen Zusammenstössen entladen.» So ist laut EDA «der persönlichen Sicherheit grosse Aufmerksamkeit zu schenken.»

Kaum zu glauben

Die Aussagen des SEM und jene des EDA stehen in einem eklatanten Widerspruch zueinander. Darauf von dieser Zeitung angesprochen, antwortet das SEM in einer längeren Stellungnahme. Die Reisehinweise würden «Reisende aus der Schweiz in genereller Form informieren». Hingegen würde der Wegweisungsvollzug von äthiopischen Staatsangehörigen «einzelfallbezogen geprüft». Nach erfolgter Prüfung und «trotz des aktuellen Konflikts in der Tigray-Region» könne aus nach Ansicht des SEM und des Bundesverwaltungsgerichts «nicht von einer landesweiten Situation allgemeiner Gewalt im Sinne von Art. 83 Abs. 4 AIG gesprochen werden, aufgrund derer in den betroffenen Fällen auf eine konkrete Gefährdung geschlossen werden müsste». Mit AIG ist das Ausländer- und Integrationsgesetz gemeint. Der genannte Paragraf besagt: «Der Vollzug kann für Ausländerinnen oder Ausländer unzumutbar sein, wenn sie in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret gefährdet sind.»
Die auch in Äthiopien wütende Covid-Pandemie, bei einem kaum vorhandenen öffentlichen und vom Krieg arg gezeichneten Gesundheitswesen reicht offensichtlich nicht für einen «medizinischer Notstand» aus. Kaum zu glauben.

«Es ist eine Katastrophe»

«Ich weiss nicht, wie das SEM zu seiner Einschätzung kommt. Es ist international bekannt, dass in Äthiopien ein Krieg herrscht, der allein im Jahr 2020 zwischen 10000 bis 20000 Todesopfer forderte und eine Million Menschen zur Flucht zwang. Es ist eine Katastrophe», sagt Y.M. dem vorwärts. Er ist aus Äthiopien, lebt hier in der Schweiz und ist aktiv im Migrant-Solidarity-Network. Y.M. fügt hinzu: «Die äthiopische Regierung will mit allen Mitteln verhindern, dass über die Realität im Lande gesprochen wird. Dies damit die internationalen Gelder und Unterstützungen nicht in Gefahr geraten. Das SEM spielt dieses Spiel der aktuellen äthiopischen Regierung mit und unterstützt so den Krieg.»
Pikant und beunruhigend ist auch Folgendes: «Bevor Äthiopien einer Zwangsausschaffung zustimmt, schickt das Land den Geheimdienst NISS zur Identifikation von Staatsbürger*innen in die Schweiz», informiert das Migrant-Solidarity-Network. Viele anerkannte Geflüchtete aus Äthiopien wurden von genau diesem Geheimdienst überwacht, verfolgt und gefoltert. Gewisse haben genau deshalb Asyl in der Schweiz erhalten. «Vom NISS geht auch heute Gefahr aus», hält das Netzwerk fest.

Staatlicher Rassismus und böse Erinnerungen

Der Widerspruch zwischen den Aussagen des SEM und jenen des EDA ist im Grunde genommen gar keiner: Es ist viel mehr ein Ausdruck und Beweis für den institutionellen, staatlichen Rassismus der Schweiz. Während den eigenen Staatsbürger*innen vor Reisen in das Kriegsgebiet Äthiopien eindringlich gewarnt und abgeraten wird, schafft die Schweiz mit Gewalt Menschen genau in diesen Krieg aus.
Böse Erinnerungen werden wach, als jüdische Flüchtlinge zurück nach Nazideutschland in den Tod geschickt wurden. 75 Jahre später ist die offizielle Schweiz, die sich so gerne auf ihre humanitäre Tradition und die Menschenrechte beruft, offenbar keinen Schritt weiter. Tragisch und beschämend!

Share

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Zur Sicherheit untenstehende Aufgabe lösen * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.