Aufruf zur Unterstützung von Medienschaffenden in Gaza und in der Westbank

In Palästina stehen die Mitarbeiter des Roten Halbmonds totaler Zerstörung gegenüber – lindern können sie das Leid auch wegen fehlender Hilfslieferungen nicht. Bild: Palestine Red Crescent Society

Annette Frei Berthoud und Jean-Michel Berthoud. Wir rufen Journalistinnen und Journalisten auf, gegen die Verfolgung der Kolleg-innen und Kollegen im Gazastreifen und in der Westbank zu protestieren und in ihrer Berichterstattung zu benennen, was in den besetzten Gebieten vor sich geht.

Der Krieg Israels im Gazastreifen hat mit inzwischen über 30’000 getöteten Palästinenserinnen und Palästinenser, davon zwei Drittel Frauen und Kinder, einen immensen menschlichen Preis gefordert. Tausende Kinder wurden zu Waisen, unzählige sind verletzt. Viele Spitäler sind schwer getroffen und nicht mehr funktionsfähig, humanitäre Organisationen werden angegriffen, Hilfs-Konvois werden von Israel behindert, und dieses «entirely man-made desaster» (Antonio Guterres, 18.März 2024) führt dazu, dass nun Hunderttausende von einer Hungersnot bedroht sind. Dazu kommt die Zerstörung der Kultur. Museen, Moscheen, Kirchen, Universitäten, Schulen, Bibliotheken und Archive wurden in Schutt und Asche gelegt. Damit wird die Identität eines ganzen Volkes getroffen. Angriffe auf die Zivilbevölkerung, auf Krankenhäuser, Kirchen, Schulen, Universitäten und humanitäre Hilfsmissionen sind Kriegsverbrechen, für die Israel wie jedes andere Land zur Rechenschaft gezogen werden müsste.

60 verhaftete Journalisten
Der Aussenbeauftragte der EU, Josep Borrel, sagte am 18.März 2024: «Gaza war das grösste Freiluftgefängnis, heute ist es der grösste Freiluftfriedhof der Welt, für zehntausende von Menschen, aber auch für die humanitären Rechte.» Auch Journalistinnen und Journalisten sind im Fadenkreuz. Die Absicht ist klar, Israel will keine Zeugen bei seinen Aktionen. Noch nie sind in einem Krieg in so kurzer Zeit so viele Medienleute (mindestens 95, nach palästinensischen Angaben 146) getötet worden wie in diesem Gaza-Krieg. Medienleute werden gezielt umgebracht oder gefangengenommen, nicht erst seit dem 7.Oktober 2023: Am 11.Mai 2022 wurde die bekannte Al Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh bei einer Razzia des israelischen Militärs im Westjordanland getötet – obwohl sie als Journalistin erkennbar war. Niemand wurde bislang dafür zur Verantwortung gezogen.
Am 18.März 2024 ist Ismail Al Ghoul, der für Al Jazeera mit seinem Fernsehteam aus Gaza berichtet, beim erneuten Sturm auf das Al Shifa-Spital zusammen mit seinem Team und anderen Medienleuten von israelischen Soldaten geschlagen und festgenommen worden. Das Auto des Fernsehteams mit dem Equipment wurde zerstört. Ismail Al Ghoul wurde nach zwölf Stunden, die er und andere Journalisten halbnackt auf dem Bauch liegend mit verbundenen Augen und gefesselten Händen verbringen mussten, wieder freigelassen. Das International Press Institute (IPI) und das Committee to Protect Journalists (CPJ) protestierten gegen die Behandlung der Medienleute durch israelische Soldaten.
Einen Tag später, am 19.März 2024, haben israelische Streitkräfte die palästinensische Journalistin Rula Hassanein in ihrer Wohnung in Ramallah im Westjordanland festgenommen und ihren Laptop und ihr Telefon beschlagnahmt. Ihr neun Monate altes Baby, das sie noch stillt, musste sie zurücklassen. Mit Rula Hassaneins Verhaftung steigt die Zahl der seit dem 7.Oktober 2023 in den besetzten Gebieten inhaftierten Journalisten auf etwa 60. Mindestens 40 von ihnen befinden sich nach wie vor in Haft, und mehr als die Hälfte von ihnen wird ohne Anklage festgehalten.

Passive Haltung der Schweiz
Wir waren in den 1980er-Jahren als Journalisten im Libanon, in Israel, in der Westbank und im Gazastreifen und haben darüber in Schweizer Medien berichtet. Schon damals war die Situation der palästinensischen Bevölkerung schwierig, und sie wurde mit jedem Jahr schlimmer. Was Israel nun aber im Gazastreifen macht, ist unseres Erachtens ein Genozid. Der Begriff Genozid ist seit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948 durch die Absicht gekennzeichnet, auf direkte oder indirekte Weise eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Israelische Regierungsmitglieder tun ihre Absicht, alle Palästinenser zu vertreiben oder zu töten, klar und unmissverständlich kund. Es wird sich zeigen, wie der Internationale Gerichtshof aufgrund der Klage Südafrikas urteilen wird.
Die zehntausenden von Toten, die katastrophale Lage der Bevölkerung, die ungestrafte Verletzung von internationalem Recht und der Genfer Konvention durch Israel in Gaza, die Worthülsen der westlichen Politiker und die passive und proisraelische Haltung der Schweizer Regierung machen uns fassungslos.
Konsterniert sind wir auch über die Berichterstattung eines Teils unserer Medien, allen voran die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), die es fertigbringt, diesen Genozid durch ihre Kommentatoren abzustreiten, zu rechtfertigen oder zu relativieren. Jüngstes Beispiel ist der Artikel «Israelhass an der ETH» vom 19.März von Stephan Trüby, Architekturtheoretiker aus Stuttgart, in dem eine der wichtigsten Bildungsstätten der Schweiz und Aushängeschild auf internationaler Ebene angegriffen wird.

Die Geschichte wird Fragen stellen
Wenn wir wissen wollen, was im Mittleren Osten geschieht, reichen die Schweizer Medien nicht, wir müssen auch ausländische Medien konsultieren. Sogar CNN und BBC berichten inzwischen ausführlicher und berücksichtigen die palästinensische Seite mehr als noch vor einigen Monaten. Wir müssen auch die sozialen Medien einbeziehen, die immer mehr zur Informationsquelle der jungen Generationen werden. Wir rufen Journalistinnen und Journalisten auf, gegen die Verfolgung der Kolleginnen und Kollegen im Gazastreifen und in der Westbank zu protestieren und in ihrer Berichterstattung zu benennen, was in den besetzten Gebieten vor sich geht.
«Die kommenden Generationen werden wissen, dass wir diese menschliche Tragödie über die sozialen Medien und die Nachrichtenkanäle mitverfolgt haben. Wir werden nicht sagen können, wir hätten es nicht gewusst. Die Geschichte wird fragen, warum die Welt nicht den Mut hatte, entschlossen zu handeln und diese Hölle auf Erden zu beenden», schreibt Philippe Lazzarini, Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) auf donare.info am 27.Oktober 2023.

Annette Frei Berthoud und Jean-Michel Berthoud sind freie Journalisten aus Zürich. Lead und Zwischentitel wurden von der Redaktion gesetzt. Die vorwärts-Redaktion schliesst sich dem Aufruf an.

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