Am Abgrund

flo. Die globale Covid19-Pandemie riss die Weltwirtschaft zu Boden. Noch hat es den ganz grossen Kladderadatsch hierzulande nicht gegeben. Die Schweiz wird aber keine Insel der Glückseligen bleiben und auch hier trifft die Krise besonders stark die Ärmsten.

Dreissig Millionen Arbeitslose allein in den USA und das in wenigen Wochen, Aktienkurse, die ins Bodenlose abstürzen, nur um sich danach wieder aufzublähen, Rekordeinbrüche in der Produktivität und Konkurse – 2008 versuchten manche Bürgerliche die Krise weg zu argumentieren: Eine richtige Krise sei das doch nicht, uns ginge es ja noch gut und wenn schon jemand eine Krise hat, dann vielleicht alle anderen, aber sicher nicht die Schweiz. Sogar beim staatlichen Informationsportal swissinfo ist die Rede vom «Schweizer Wunder».
Doch ebenso wie vor 12 Jahren wird auch heute die Schweiz nicht die grosse Ausnahme bleiben. Tatsächlich haben es grosse Segmente des Kapitals sehr glimpflich durch die Krisenjahre geschafft, vor allem dank der Krisenpolitik des Staates. Dieser macht alles, um Unternehmen zu retten, während die Entwicklung der Armut zeigt, wer letztlich zahlen musste, damit weniger Kapitalist*innen Konkurs anmelden müssen: Zwischen 2014 und 2018 ist die Armut in der Schweiz laut Sozialbericht des Bundesamts für Statistik um 20 Prozent gestiegen.

Alle Jahre wieder
Nach all den ökonomischen Krisen, die der Kapitalismus schon durchgestanden hat, erschöpft sich bürgerliche Krisenpolitik vor allem in einer Strategie: Geld in die Privatwirtschaft zu pumpen. Und genau dies organisierte das Parlament zuverlässig für die Kapitalist*innen. 57 Milliarden Schweizer Franken, so viel wie noch nie zuvor, hat die gesetzgebende Gewalt in der Schweiz in die Hand genommen, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie von Covid-19 zu bremsen. Wegen 1,9 Millionen Arbeiter*innen, die sich in Kurzarbeit befanden, mussten zusätzlich 35 Milliarden Franken in die Arbeitslosenversicherung (ALV) eingeschossen werden, um für Unternehmen den Lohn ihrer Angestellten zu zahlen. Oder zumindest teilweise – 20 Prozent der Lohnsumme fehlte vielen Büezer*innen in dieser Zeit.
In Niedriglohnbranchen, wie der Gastronomie, wo drei Viertel der Beschäftigten in Kurzarbeit waren, tut ein solcher Einschnitt sehr weh. Und doch hat eben diese Kurzarbeit unter Umständen die Schweiz vor einer Welle von Arbeitslosigkeit bewahrt, beziehungsweise diese zumindest verzögert. Dies meint auch der SGB-Chefökonom Daniel Lampart im Gespräch mit dem vorwärts: «Die Lohngarantien über die ALV haben in den letzten Monaten viele Stellen erhalten. Das Schlimmste konnte so verhindert werden.» Auch die Unterstützung für Selbstständige habe geholfen. Doch auch mit staatlich garantierten Löhnen werde die Lage auf dem Arbeitsmarkt prekärer: «Genaue Prognosen sind immer sehr schwierig. Doch wir können beobachten, dass viele Unternehmen Leute entlassen und für Stellensuchende scheint es generell schwieriger zu werden, eine Stelle zu finden», sagt Lampart. Die Frage, wer die Hauptlast für diese Entwicklung letztlich tragen wird, ist rasch beantwortet; zwar hätten staatliche Notfallmassnahmen wie die Hilfe für Selbstständige und Kurzarbeit geholfen, doch «ist es effektiv so, dass die Finanzkrise vor allem die Ärmsten trifft», wie SGB-Ökonom Lampart erklärt.

Nicht euphorisch werden
Für Marxist*innen ist es eine widersprüchliche Situation, dass Institutionen des bürgerlichen Staats mit Werkzeugen wie der Kurzarbeit vermeintlich im Interesse der Arbeiter*innen agiert. Es muss dabei herausgestrichen werden, dass die Kurzarbeit wegen ihrer Finanzierung über die ALV höchstens mässig sozial ist. Da man ab einem Einkommen von 148000 Franken nur mehr 1 Prozent anstatt der sonst üblichen 2,2 Prozent unterhalb dieser Einkommensgrenze zu zahlen hat, werden die Beiträge in Relation zum Gesamteinkommen immer kleiner, je mehr man verdient. Dennoch scheint es so, als sei es für viele Schweizer Arbeiter*innen ein Glücksfall gewesen, dass das Mittel der Kurzarbeit die Kapitalist*innen von der Last befreit hat, auch Löhne zu bezahlen.
Insgesamt war die Stossrichtung etablierter Krisenpolitik, leider auch wenn sie von links kam, vor allen Dingen eine Befreiung der Bourgeoisie vom unternehmerischen Risiko. So fuhr das SP-Co-Präsidium in spe, bestehend aus Mattea Meyer und Cedric Wermuth, eine Kampagne zur Rettung des Kleinbürgertums – wohl auch, um sich den moderateren Sozialdemokrat*innen als pragmatischer und wirtschaftsfreundlicher anzudienen. So twitterte Wermuth im Mai, als sich Ständerat und Nationalrat uneinig waren, wie Mieterlasse für Unternehmen auszusehen hätten: «Wow – der Nationalrat verweigert eine Lösung für die Gewerbemieten. Jetzt haben zehntausende Betriebe nichts.» Von Mieterlassen für Arbeiter*innen, die ihre Stelle verloren haben, hat man im Parlament in den letzten Monaten freilich nichts gehört. Es scheint zu gelten, dass das Kapital in jedem Fall an erster Stelle zu stehen hat, wenn der bürgerliche Staat etwas entscheidet.

Falsches Kalkül
Doch auch wenn eine solche reformistische Linie in Zeiten wirtschaftlicher Anspannung Arbeiter*innen entfremdet und nur schon deshalb falsch ist, hat sie vermutlich einen hehren Hintergrund: Die Überlegung dahinter scheint zu sein, dass es insgesamt mehr Menschen besser gehen wird, wenn mit grossem Effort KMU vor der Konkurswelle, die diesen Herbst ins Haus steht, gerettet werden. Dabei geht nun einmal vergessen, dass auch für jene Rettung von KMU Mittel aufgewandt werden müssen. Die Krisenmassnahmen von 2008 waren nicht ganz so teuer wie die 2020, aber ihre Kosten hielten in den letzten Jahren immer und immer wieder dafür her, Verschlechterungen und Abbaumassnahmen gegenüber den Massen durchzusetzen.
Und noch ein weiterer Faktor wird verhindern, dass die Schweiz zum Reservat für Kleinbürger*innen wird: Die internationalen wirtschaftlichen Entwicklungen sind von Ausmassen, die verhindern, dass sich ein einzelner kapitalistischer Staat einfach an der Krise vorbei schlängeln könnte. Das BIP der USA sank seit Beginn der Pandemie um kaum fassbare und bisher unerreichte 32,9 Prozent. In Deutschland, beim wichtigsten Schweizer Aussenhandelspartner, sind es 10,1 Prozent (seit dem Zweiten Weltkrieg hatte es keinen solchen Einbruch mehr gegeben) und auch in der Schweiz wurde mit 8,2 Prozent ein Wert erreicht, der alles in den Schatten stellt, was seit Erhebung der Quartalszahlen aufgezeichnet wurde. In so einer Lage stellt sich die Frage, wie viel die werktätigen Massen am Ende dafür zahlen müssen, Unternehmen künstlich am Leben zu erhalten und wie viel Effort es reformistischen Politiker*innen wert sein sollte, für Unternehmer*innen zu kämpfen, während die Arbeiter*innenklasse so grosse und schwierige Herausforderungen vor sich hat.

Werken an der nächsten Krise
Die Sozialdemokratie und das Kapital haben vor allem ein Problem, dass zu einer solchen grösstenteils kopflosen Krisenpolitik führt: Keiner von ihnen hat erkannt, dass die Massnahmen zur Krisenbewältigung diese im Ganzen noch verschlimmern werden. Kurz vor der endgültigen Ankunft von Covid-19 in Europa und den USA stand der Dow Jones bei zuvor nicht erreichten 29500 Punkten. Innert weniger Wochen verlor er ein Drittel seines Werts. Doch mittlerweile steht der Kurs wieder bei 28400 Punkten. So rasch wurde die Blase, die Ende Februar platzte, wieder aufgebläht. Die Akkumulation, die schon die Krise vor zwölf Jahren verursacht hat, galoppiert wieder munter. Mit Entwicklungen in der Realwirtschaft hat das aber nichts zu tun – dort ist die Lage düster wie kaum zuvor: Erst im August wurde in den USA vor einer Zwangsräumungswelle gewarnt. 40 Millionen Amerikaner*innen sind unmittelbar davon bedroht, ihren Wohnraum zu verlieren.
Für uns Kommunist*innen sind diese Entwicklungen aber kein Zufall. Schon Antonio Gramsci hatte mit dem Konzept der «organischen Krise» des Kapitalismus eine Krise beschrieben, die nicht zyklisch den Markt «korrigiert», sondern mit einer Macht und Tiefe die Gesellschaft erfasst und sich mit anderen Krisen überlagert, dass jeder Versuch, das System in bestehender Form zu erhalten, nur neue Widersprüche hervorruft. Es ist die Zeit, wie Gramsci sagte, in der das Alte noch nicht gestorben, das Neue noch nicht geboren sei.

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