«Wir müssen jedes Jahr streiken»

Rita Maiorano (links) und Sevin Satan. Bild: zVg

sit. Die PdA-Genossinnen Sevin Satan und Rita Maiorano aus Zürich waren bereits beim Frauenstreik 2019 aktiv und sind es auch dieses Jahr wieder beim feministischen Streik vom 14.Juni. Was hat sich in diesen vier Jahren alles getan, und wie soll es weitergehen? Ein Gespräch mit den beiden Aktivist:innen. 

Es ist bald so weit: Worauf freut ihr euch besonders?
Rita: Dass es endlich so weit ist nach dem langen Organisieren und den zahlreichen Sitzungen. Ich will das Resultat der diesjährigen Mobilisierung sehen. Ich glaube, dass es in Zürich nicht so eine grosse Demo wie 2019 werden wird. Dies liegt daran, dass es dieses Jahr im Kanton auch an anderen Orten Demos und Aktionen geben wird. Aber ich lasse mich gerne überraschen.

Sevin: Dass das Thema Streik wieder im Vordergrund steht, mehr Gewicht bekommt, was während der Pandemie weniger der Fall war. Und dass es schweizweit wieder etwas ganz Grosses werden wird wie 2019, weil mehr Personen zur Bewegung dazugestossen sind. 

Ist es die gleiche Vorfreude wie vor vier Jahren?
Sevin: Nein. Ich hatte 2019 keinen Erfahrungswert, mit dem ich es hätte vergleichen können. Es war etwas ganz Neues. Seit damals haben wir viele Erfahrungen gesammelt. Aber ich freue mich immer noch riesig darauf. 

Rita: 2019 mussten wir zuerst den gemeinsamen Nenner finden. Die Aktivist:innen aus den verschiedenen Organisationen und Parteien mussten sich erst mal kennenlernen und auch lernen, sich gegenseitig zu respektieren. Das war diesmal nicht der Fall. Heute kennen wir diese Verschiedenheiten und wir können sie auch viel besser für das grosse Gemeinsame nutzen. Wir haben einen Erfahrungswert, auf dem wir aufgebaut und alles organisiert haben 

Im Interview mit dieser Zeitung kurz vor dem Streik 2019 habt ihr «die alltägliche Realität der Frauen» als den gemeinsamen Nenner genannt. Ist das immer noch so?
Sevin: Ja, das ist noch so. Im Manifest, das 2019 erarbeitet wurde, finden sich alle irgendwo wieder. Dieses Manifest haben wir überarbeitet und ergänzt, weil neue Thematiken hinzugekommen sind. So, dass sich womöglich noch mehr FLINTA angesprochen fühlen. 

Rita: Mit dem Manifest 2019 wurde die Basis gelegt. So ist es dieses Jahr auch der feministische Streik und nicht mehr der Frauenstreik. Wir haben Synergien zusammengebracht.

Vom Frauenstreik zum feministischen Streik. Drückt dies die Entwicklung der Bewegung aus?
Sevin: Bei vielen Menschen ist jetzt sicher ein neues Bewusstsein da. Mensch hinterfragt viel mehr unter anderem die Rollenbilder, aber auch die eigene Sexualität. Feministische Themen sind viel mehr im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Mensch spricht mehr davon und hat auch ein breiteres Verständnis geschaffen. So fühlen sich viel mehr von einem feministischen Streik als von einem Frauenstreik angesprochen. Dies war ein wichtiger Schritt. Zur Entwicklung gehört auch, dass immer mehr Personen dazu kamen, vor allem auch jüngere. Sie übernehmen auch Verantwortung. Und dass diese jungen Menschen bereits für ihre Rechte einstehen, finde ich eine sehr positive Entwicklung.

Gab es Probleme, die vor vier Jahren nicht da waren?
Rita: Nein. Wir hätten etwas früher die Bewilligung für die Demo hier in Zürich einreichen können, da waren wir etwas spät dran. Aber wir haben durchsetzen können, dass wir an all den Orten, an denen wir mit der Demo vorbeigehen wollten, dies auch machen können. Dies hat auch damit zu tun, dass an den Verhandlungen mit der Polizei von unserer Seite her Frauen teilnahmen, die von den Erfahrungen vom Streik 2019 profitieren konnten. Insofern ist das auch ein Erfolg des damaligen Streiks. 

Der Streik 2019 schrieb Geschichte, aber viele der Forderungen wurden noch nicht umgesetzt. Es gab gar Rückschritte, wie bei der AHV. Warum?
Rita: Bei der AHV sind zwei Aspekte zu nennen. Erstens ist die Linke im Parlament, also dort, wo nun mal in diesem System die Entscheide fallen, in der Minderheit. Und die, die sich dort links nennen, sind auch nicht immer unsere Freund:innen. Zweitens kam dann die Pandemie, die eine Kontinuität, die nötig gewesen wäre, verunmöglichte. Die Pandemie hat die Bewegung einiges an Schwung genommen. 

Sevin: Der bürgerliche Staat hat erneut bewiesen, dass er an einer Gleichstellung nicht interessiert ist. Wenige Tage nach dem Streik 2019 kündigte der Bundesrat über Alain Berset an, das Rentenalter der Frauen erhöhen zu wollen. Der Staat zwängte uns so einen Verteidigungskampf auf. Er verschärfte auch die Repression. Dies war auch auf der Strasse immer wieder zu spüren. Wie zum Beispiel die gewaltsame Auflösung der Polizei von Aktionen wie am 8.März 2021 und den Bussen, die ausgesprochen wurden.  So hatten wir weniger Kapazität, um den Forderungen des Streiks von 2019 Nachdruck zu verleihen, uns noch stärker für sie einzusetzen.

Rita: Ja, das stimmt. Aber wir haben uns auch in die Defensive drängen lassen. Wir haben es verpasst, die AHV-Diskussion zu unseren Gunsten zu drehen. Die Senkung des Rentenalters für Männer hätte auch zu einer Gleichstellung geführt. Der Staat ist zwar auf den Zug Richtung «Gleichstellung» aufgesprungen, hat uns aber seine Konditionen diktiert. Dies muss uns für die Zukunft eine Lehre sein. 

Sevin: Da bin ich nicht gleicher Meinung wie du Rita. Warum sollten wir eine Senkung des Rentenalters für Männer fordern, wenn unter anderem die Lohngleichheit bei weiten noch nicht erreicht ist?

Rita: Jetzt haben wir gar nichts, was wir diesbezüglich forderten: Wir haben ein höheres Rentenalter bei Frauen und noch immer keine Lohngleichheit. Ich fand es politisch etwas naiv, dass wir die Senkung des Rentenalters bei den Männern nie in Betracht gezogen haben, im Sinne einer Gleichstellung.

Was war also der grösste Erfolg des Streiks 2019?
Sevin: Dass so viel verschiedene FLINTA-Personen auf der Strasse waren, die zuvor noch nie an einer Demonstration teilgenommen hatten. Dass sie das Gefühl des gemeinsamen Nenners gespürt haben, so die Erkenntnis bekamen, dass sie ähnliche Problem und Sorgen wie Zehntausende andere haben. Dass sie den Mut bekamen, sich über die verschiedenen Themen zu informieren, sich zu vernetzen und sich so zu stärken in ihren Kämpfen. Kurz: Tausende haben gesehen und erlebt, dass sie nicht allein sind.

Rita: Sicher hat die grosse Teilnahme bei vielen einen grossen Eindruck hinterlassen. 

Die grossen Zahlen sind der Erfolg? Ist das nicht etwa wenig?
Sevin: Der politische Erfolg 2019 war, dass sich zuvor nicht politisierte Personen an den Vorbereitungen und dann auf die Strasse gingen und sich so politisierten. Und, dass sich in den Parteien, Gewerkschaften und vielen anderen Organisationen sich mit den Themen intensiv befassen und auseinandersetzen mussten, vor allem mit der Genderfrage, Frauenquote, Sexismus, Rassismus und Gewalt. Ehe für Alle, Nein heisst Nein und der Vaterschaftsurlaub sind sicher kleine Teilerfolge davon. Dazu kommt, dass sich neue Kollektive und Gruppierungen gebildet haben, die spezifische Themen angehen und vorantreiben, wie zum Beispiel das Streikhaus, das Kollektiv «Ni una menos» oder das Gastra-Kollektiv. 

Gibt es Enttäuschungen?
Rita: Dass es bei vielen Forderungen weiterhin nur im Schneckentempo vorwärtsgeht. Seien wir ehrlich: Im Parlament sind unsere Forderungen nicht mal an die Stelle Nr. 1000. Wir müssen jedes Jahr streiken.

Sevin: Dass der Staat nur Brosamen gibt, dabei alles aufbläst und so tut, als würde er vieles für die Frauen und FLINTA machen. 

Du hast die Hoffnung auf Veränderungen durch den bürgerlichen Staat?
Sevin: Nein, das habe ich nicht. Aber so wie Rita bin ich auch der Meinung, dass in den Parlamenten vermehrt Personen nötig sind, die hinter unserem Manifest stehen und unsere Forderungen einbringen. Es braucht den Druck von der Strasse, aber auch jener im Parlament. 

Wie soll es nach dem 14.Juni weitergehen?
Rita: Es ist bereits eine Sitzung des feministischen Streikkomitees nach dem 14.Juni geplant. Dabei soll auch die Frage nach dem «Wie weiter?» diskutiert werden. Wie erwähnt, wenn wir jedes Jahr streiken wollen, dann muss eine Kontinuität angestrebt und erreicht werden. 

Sevin: Ich wünsche mir, dass wir den Fokus vermehrt auf den Streik legen. Dass wir gemeinsam lernen, zu streiken, also die Arbeit niederzulegen. Das ist keine einfache Sache, das ist mir bewusst, wenn mensch vom Lohn abhängig ist und Angst hat, den Job zu verlieren. Ich bin überzeugt, dass je mehr wir uns auf den Streik fokussieren, desto erfolgreicher werden wir sein. 

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