Auf den Schultern von Gigantinnen

Russland 1917
Es war nicht der erste von Frauen getragene Arbeitskampf. Aber es war wohl eins der früheren Beispiele, wie ein Streik von Arbeiterinnen den Gang der Geschichte in einem Umfang umwälzen kann, wie er zuvor kaum möglich schien: Nach dem Kalender des damaligen Russischen Zarenreiches war es der 23.Februar. Nach unserem der 8. März – der Weltkampftag der werktätigen Frauen – als Arbeiterinnen aus den Petrograder Fabriken auf die Strassen strömten, um ihren Kampftag zu begehen. Sie sollten dabei die Leuchtfeuer der Revolution entfachen. Sie schlossen sich mit den streikenden Genossen aus den Putilow-Werken zusammen, rollten wie eine Welle durch die Stadt und holten Arbeiter:innen auf die Strassen. Bis zum Ende des Tages mobilisierten sie
50000 Arbeiter:innen. Am nächsten Tag waren es bereits 200000. Sie schlugen damit den ersten Nagel in den Sarg der 500 Jahre alten Romanow-Dynasty. Klara Zetkin würde ihren Kampf wie folgt beschreiben: «Die Arbeiterinnen verhielten sich in der Revolution vorbildlich. Ohne sie hätten wir nicht gesiegt!»

USA 1970
Am 26.August 1970 rief die National Organization of Women (NOW) zum Kampf- und Streiktag in den ganzen Vereinigten Staaten auf. Es war der 50.Jahrestag der Einführung des 19.Zusatzartikels der US-Verfassung, der Frauen das Recht zu wählen gab. Doch mit dem Recht zu wählen, hatte der Kampf nicht aufgehört – wenn schon, dann hatte er erst richtig begonnen. Die Streikbewegung war stark beeinflusst von den Forderungen der zweiten Welle des Feminismus, die durch die 68er-Bewegung an Fahrt gewonnen hatte: freies Recht auf Abtreibung, Gleichstellung am Arbeitsplatz und kostenfreie Kinderbetreuung. 50000 Frauen gingen für ihre Rechte auf die Strassen: Damit war der Womens Strike of Equality der grösste Streik seiner Art in den USA bis dahin. Und auch wenn es noch Jahre dauern sollte, bis die Forderungen der Streikenden zum Durchbruch gelangen würden und ihre Errungenschaften heute wieder in den USA unter scharfem Beschuss stehen, lieferte der damalige Kampftag ein Beispiel für kommende Kämpfe.

Island 1975
Kaum ein Frauenstreik dürfte derart umfassend die weibliche Bevölkerung eines Landes erfasst haben, wie der Streiktag der Isländerinnen vom 24.Oktober 1975. Neun von Zehn Isländerinnen blieben der Arbeit fern. Fabriken und Büros mussten an diesem Tag geschlossen werden, da sie ohne die Arbeit von Frauen nicht mehr funktionierten. Selbst in konservativen ländlichen Gemeinden war die Beteiligung überwältigend. In Reykjavik kamen bei einer Demonstration mit 25000 Personen mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung zusammen, sangen, hörten Reden an und sprachen gemeinsam über ihren Kampf. Ihr Ziel, mehr Gleichstellung am Arbeitsplatz, erreichten die Isländerinnen mit ihrem Fanal: Im Folgejahr beschloss das Parlament ein Gesetz zur Lohngleichheit. Dem «langen Freitag», wie der damalige Kampftag im Volksmund genannt wird, erinnern die Arbeiterinnen der Insel noch heute, indem sie zu jedem neuen Zehnjahresjubiläum des Kampfes früher den Arbeitsplatz verlassen.

Schweiz 1991
Es gingen die Uhrenarbeiterinnen im jurassischen Vallée de Joux voran: Sie schafften es, über die Fürsprache von Christiane Brunner den SGB von einem Streiktag zu überzeugen. Grund für ihren Effort: Sie verdienten viel weniger als die männlichen Kollegen. Leider scheiterte der Antrag am Widerstand männlicher Gewerkschafter am folgenden SGB-Kongress. Aus dem Streik- wurde ein Aktionstag. Doch trotzdem sollte der 14.Juni 1991 als grösste politische Mobilisierung der Schweiz seit dem grossen Landesgeneralstreik von 1918 in die Geschichte eingehen. Die Frauen kämpften damals für das Recht auf Abtreibung, eine Mutterschaftsversicherung, Kinderbetreuung, gleiche Löhne für gleiche Arbeit und vieles mehr. Bis sich ihr unüberhörbarer Mobilisierungserfolg in die politische Realität übersetzen sollte, würde es aber noch Jahre dauern. Und viele ihrer Forderungen wurden immer noch nicht umgesetzt. Der Kampf geht weiter. In den Jahren 2019 wie auch 2023!

Argentinien 2015
Als die Argentinierin Chiara Paez von ihrem Freund zu Tode geprügelt wurde, war sie erst vierzehn Jahre alt. Innerhalb eines Monats nachdem ihre verscharrte Leiche unter seinem Haus gefunden wurde, bildete sich die Bewegung «Ni Una Menos» (Nicht noch eine weniger!). Man schwor sich, dass nicht noch eine weitere Frau Opfer sexistischer, mörderischer Gewalt werden dürfe. Am 3.Juni nahm sich die Bewegung mit ungekannter Vehemenz die Strassen. 200000 Frauen protestierten gegen Gewalt an Frauen. Ein Jahr später, als die 16-jährige Lucia Pérez vergewaltigt und ermordet aufgefunden wurde, begann die Bewegung den Streik als Kampfmittel zu nutzen und wurde damit international. Es bildeten sich innert kurzer Zeit Ableger in Chile, Peru, Bolivien, Paraguay, Uruguay, El Salvador, Guatemala, Mexiko und Spanien. Inzwischen ist die Bewegung international präsent.

Polen 2016
Der Kampftag der Polinnen am 25.September 2016 trägt verschiedene Namen. Manchmal wird er schlicht «polnischer Frauenstreik» oder «allpolnischer Frauenstreik» genannt. Unter den Aktivistinnen am häufigsten ist aber die Bezeichnung vom «schwarzen Montag», der Teil der anhaltenden «schwarzen Proteste» sein sollte. Dem Streiktag voran ging die Behandlung eines Antrags zur Kriminalisierung von Abtreibung im katholisch-reaktionär dominierten polnischen Parlament. Am Streiktag selbst gingen 100000 Frauen in 147 Städten und Ortschaften im ganzen Land auf die Strasse und bekämpften die Vorlage mit unterschiedlichsten Aktionsformen. Vorbild für ihren Kampf war der isländische Streik von 1975. Es wurde noch monatelang weitergekämpft, bis trotz schwerer Repression ein Sieg errungen werden konnte. Das Parlament krebste zurück. Doch nur auf Zeit: Seit 2020 ist in Polen das Recht auf Abtreibung de facto abgeschafft. Seither verloren mindestens sechs Frauen ihr Leben, weil ihnen der in ihrem Fall lebensrettende Schwangerschaftsabbruch verweigert wurde.

Internationaler Frauenstreik 2017 und 2018
Dem internationalen Frauenstreik gingen mit Ni Una Menos (vor allem in lateinamerikanischen Ländern mit Massenbeteiligung) und den Protesten in Polen kraftvolle Bewegungen voraus. Doch auch in den USA sahen die Frauen durch die Wahl des verurteilten Sexualstraftäters Donald Trump ihre Rechte bedroht. Die Bewegung begann, sich international zu vernetzen und zum Kampftag der werktätigen Frauen am 8.März hin zu einem internationalen Streiktag zu mobilisieren. In den USA nahm die Aktion Form unter dem Namen «Day without Women» (Tag ohne Frauen) an, bei dem Frauen aufgefordert wurden, ihrer Arbeit fernzubleiben. In Irland kämpften die Frauen gegen das reaktionäre Abtreibungsverbot ihrer Regierung (das inzwischen gefallen ist). In Argentinien verband sich die Streik- mit der Ni-Una-Menos-Bewegung zu einer kraftvollen Grossdemonstration und in Spanien fand ein 24-stündiger Frauenstreik statt. In insgesamt 50 Ländern kam es zu Aktionen und Streiks.

Schweiz 2019
Mehr Anerkennung für Care-Arbeit, ein Ende mit geschlechterbedingten Lohnunterschieden, ein Ende sexueller Gewalt, mehr staatliche Investitionen in Betreuungsangebote und ganz schlicht, endlich eine Umsetzung des Gleichstellungsartikels, die diesen Namen auch verdient hat. Diese und noch unzählige weitere Gründe brachten am 14.Juni, 28 Jahre nach dem ersten grossen Schweizer Frauenstreik, erneut Hunderttausende von Frauen auf die Strassen. Zählen, wie viele mit dabei war, konnte wohl niemand, mancherorts ist von 500000 die Rede. Es können auch mehr gewesen sein. Ein politisches Signal, wie es in diesem Land deutlicher kaum möglich ist. Und doch scheinen die Kapitalist:innen und ihre Steigbügelhalter:innen in den Parlamenten es zu ignorieren: In der letzten Legislatur missachteten sie die Situation der Frauen im Alter bei den Renten und verschärfen damit vorsätzlich die Armut von Frauen im Alter. Nur einer von vielen Gründen, warum der nächste Streik ihnen wirklich weh tun muss.

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