Das dreckige Geschäft der UBS

Die schweizerische Bundesanwaltschaft hat im Geldwäscherei-Skandal rund um den -malaysischen Oligarchen Musa Aman ein Strafverfahren gegen die UBS eingeleitet. Vorausgegangen war im April 2012 eine Strafanzeige des «Bruno Manser Fonds» (BMF) gegen die UBS, weil diese nachweislich über 90 Millionen US-Dollar Korruptionsgelder entgegennahm.

Der malaysische Spitzenpolitiker Musa Aman ist eine schillernde Figur. Der amtierende Gouverneur der Provinz Sabah auf der Insel Borneo ist König des Regenwaldes. Ob er treffender formuliert, der Mann, der über die Vergabe der Holzkonzessionen wacht und sich damit ein goldenes Näschen verdient. Und er ist der Bruder des malaysischen Aussenministers Anifah Aman sowie eng mit dem berüchtigten Taib-Clan vernetzt, welcher das Königreich Malaysia seit über vier Jahrzehnten kontrolliert und dem schwerer Amtsmissbrauch, Betrug, Geldwäscherei, Verschwörung sowie Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgehalten wird.

 

Lukratives Geschäft mit dem Tropenholz

Die Affäre flog im August 2008 auf, als ein Vertrauensmann von Musa – ein gewisser Michael Chia – bei der Ausreise aus Hong Kong mit 16 Millionen Singapur-Dollar – über 12 Millionen Schweizer Franken – verhaftet wurde. Die anschliessende Untersuchung führte rasch zu Aman und der UBS. Der Bruno Manser Fonds wirft der UBS vor, unter schwerer Verletzung ihrer Sorgfaltspflichten über 90 Millionen US-Dollar Korruptionsgelder aus der illegalen Abholzung tropischer Regenwälder im malaysischen Bundesstaat Sabah entgegengenommen zu haben. Musa Aman, der Regierungschef der Provinz Sabah, verlangte von den Holzkonzernen jeweils hohe Bestechungsgelder für die Erteilung von Konzessionen zur Abholzung sowie für die Exportgenehmigungen von Tropenhölzern. Die Millionen liess sich Aman auf Konti von Mittelsmännern und Tarnfirmen bei der UBS-Filiale in Hong Kong bezahlen. Musa Aman unterhält weiter auch ein Konto bei der UBS in Zürich. Lukas Straumann, Geschäftsleiter des Bruno Manser Fonds, unterstreicht die hohe Verantwortung für die Banken bei der Bekämpfung von Korruption und Tropenholzgeschäft: «Die Banken müssen ihre Rolle bei der Bekämpfung der Umweltkriminalität viel aktiver wahrnehmen. In vielen Ländern bereichern sich führende Politiker persönlich an der illegalen Abholzung. Wenn wir die Zerstörung der Regenwälder stoppen wollen, müssen alle international tätigen Banken bei der Korruptionsbekämpfung mithelfen.» Der Bruno Manser Fonds hat der UBS eine Liste mit den Namen von 46 politisch exponierten Personen aus Malaysia übergeben und fordert die Schweizer Grossbank auf, allfällige bei ihr deponierten Vermögenswerte dieser Personen und von 400 mit ihnen verbundenen Unternehmen einzufrieren und den zuständigen Behörden als verdächtig zu melden. Ebenso fordert der Bruno Manser Fonds von der UBS die Veröffentlichung ihrer internen Policy zum Umgang mit Kunden aus der Holzbranche.

 

William und Kate

Für Malaysias Regierung kommt das Schweizer Strafverfahren zu einem delikaten und denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Auf Mitte September ist das britische Prinzenpaar William und Kate zu einem Besuch auf Borneo angemeldet. Am 15. September 2012 wollen die beiden dort «den ältesten Regenwald der Welt» besuchen – oder was davon noch steht, wie der Bruno Manser Fonds süffisant in seiner Medienmitteilung festhält.

Fukushima in Mühleberg

Bern nach einer AKW Katastrophe

Der Aufenthalt am Bielersee ist gefährlich: Der See strahlt über Jahrzehnte stark radioaktiv. Mit anderen Worten: Passiert Fukushima im AKW Mühleberg, sind weite Teile der Schweiz zerstört. Dies zeigt der neue, animierte Kurzfilm «Was passiert, wenn Fukushima in Mühleberg geschieht?», den die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU), die Ärztinnen und Ärzte für soziale Verantwortung (PSR/IPPNW) sowie Greenpeace am 6. September an einer Medienkonferenz in Bern präsentierten. Der Film basiert auf den Resultaten einer neuen Studie des renommierten Öko-Instituts Darmstadt. Er zeigt: Geschieht Fukushima im AKW Mühleberg sind weite Teile der Schweiz zerstört. Deshalb gehört der Altreaktor sofort abgeschaltet. Tritt im AKW Mühleberg Radioaktivität aus, erreicht die gefährliche Wolke nach nur einer Stunde die Bundesstadt Bern. Die Strahlung ist so stark, dass gemäss Kernenergiegesetz 90?000 Menschen sofort aus der Stadt Bern und ihrer Umgebung evakuiert werden müssen. In so kurzer Zeit? Wohin?

Hilfloser Katastrophenschutz

Das AKW Mühleberg ist über 40 Jahre alt. Logisch, dass seine Konstruktion veraltet und der Stahl ermüdet ist. «Die Menschen sind zum Spielball von altem Stahl geworden. Bricht er wie in Fukushima, ist das verheerend für die Gesundheit der Schweizerinnen und Schweizer, ja für das ganze Land», sagt Dr. med. Claudio Knüsli von PSR/IPPNW. Denn die Schweiz ist auf eine Atomkatastrophe nicht vorbereitet. Das belegt der Ida Nomex-Bericht vom 22. Juni 2012 an den Bundesrat: Evakuierungskonzepte fehlen, die medizinische Versorgung der Menschen ist nicht organisiert, Teile der Führung des Katastrophenschutzes  versagen nach wenigen Tagen wegen Übermüdung und der Kontakt zum havarierten AKW besteht nur, solange das öffentliche Telefonnetz funktioniert. «Das widerspricht dem Eidgenössischen Kernenergiegesetz, das einen funktionierenden Katastrophenschutz als zwingende Bedingung für den Betrieb auch des AKW Mühleberg voraussetzt», stellt Dr. med. Peter Kälin, Präsident der AefU, klar.

Inkaufnahme der Zerstörung weiter Teile des Landes

Diesen Widerspruch haben nach Fukushima auch AKW-Betreiber und Behörden erkannt. Deshalb versuchen sie, den Katastrophenschutz für einen schweren Unfall auszubauen. Das Öko-Instituts Darmstadt allerdings  belegt: Der Schutz der Menschen ist bei einem schweren Atomunfall aussichtslos. Die Behörden aber versuchen, den nicht möglichen Katastrophenschutz schön zu reden. «Das können wir als Ärzte nicht hinnehmen», so Kälin. Und Dr. med. Claudio Knüsli bilanziert: «Ein Ausbau des Katastrophenschutzes ist nichts anderes als der Versuch, das AKW Mühleberg zu legitimieren. De facto bedeutet der Weiterbetrieb, die Zerstörung weiter Teile des Landes in Kauf zu nehmen.» Darum verlangen AefU, PSR/IPPNW und Greenpeace die Stilllegung von Mühleberg – zum sofortigen Schutz der Menschen.

Kurzfilm: «Was passiert, wenn Fukushima in Mühleberg geschieht?»: www.aefu.ch

«Sozialpartnerschaft» für wen?

Für den 22. September rufen die Gewerkschaften zu einer schweizweiten Demonstration für den «Werkplatz Schweiz» und für die Erneuerung des Gesamtarbeitsvertrages (GAV) in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM-Industrie) auf. Unsere Solidarität mit den Arbeitenden dieses Sektors ist ein Muss. Genauso notwendig ist jedoch eine Reflexion der betrieblichen Auseinandersetzungen des letzten Jahrzehnts.

«Wir fordern eine neue Sozialpartnerschaft», so der Grundtenor der Mobilisierungszeitung der Gewerkschaft Unia für die Demo vom 22. September in Bern. Diese müsse auf zwei Säulen stehen: Erstens auf einen starken GAV, der die Arbeits- und Lohnbedingungen regelt und zweitens auf die gemeinsame (Gewerkschaften und Unternehmen) Entwicklung einer «industriepolitischen Agenda».

Ein Blick auf die «Strategie der Sozialpartnerschaft» wirft jedoch einen grundsätzlichen Zweifel auf. Historisch gesehen hat sie während der Hochkonjunktur zwar eine materielle Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Kernbelegschaft erbracht – jedoch immer auch mit Ausschluss des migrantischen und weiblichen Subproletariats. Der Verzicht auf kämpferische Strategien wurde von den Unternehmen mit Lohnerhöhung «erkauft». Doch diese Strategie geriet logischerweise dann «in die Krise», als das ganze kapitalistische System in eine Strukturkrise geriet.

 

Die Macht des Kapitals

In der Schweiz geniessen Unternehmen im europäischen Vergleich Wettbewerbsvorteile, die ihre Macht in den Betrieben stärken: ein schwaches Arbeitsrecht und ein inexistenter Kündigungsschutz. Diese Macht hat sich in der Verteilung des produzierten Reichtums übertragen. Wie unterschiedliche Studien der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) festhalten, hat die produktive Reorganisation der 1990er Jahren einschlägige Effekte nach sich gezogen. Zwischen 1992 und 2002 hat die Produktivität in der Industrie um 38 Prozent zugenommen, die Löhne wurden – wenn überhaupt – nur der Teuerung angepasst. Ab 2004 schienen sie dann wieder einmal zu wachsen, doch die aktuelle Krise hat einen doppelten Effekt ausgelöst: Einige Produktionssektoren wurden geschwächt oder gar zerstört. Für diejenigen Sektoren allerdings, welche die Krise überlebt haben, wird die Produktivität noch einmal erhöht. Und dies auf Kosten der Arbeits- und Lohnbedingungen der ArbeiterInnen. Trotz scheinbarer Stille fanden in den letzten Jahren in der Industrie nicht wenige betriebliche Auseinandersetzungen statt. Meist ging es um Massenentlassungen und Betriebsschliessungen, doch auch um Arbeitszeiterhöhung und Lohnreduktion. In denjenigen Auseinandersetzungen, in denen die «Strategie der Sozialpartnerschaft» dominierte, isolierte sich die Belegschaft schnell in eine Position der Schwäche. Bei der Schliessung der Sappi in Biberist (SO) beispielsweise argumentierten die Belegschaft und ihre Vertretung, sie dürfen jetzt nicht streiken, sondern disziplinierter und intensiver arbeiten, damit die Direktion sehe, dass «ein guter Betrieb» geschlossen werde. Ironischerweise benutzte die Sappi das Argument der Disziplin der Belegschaft in Biberist Jahre zuvor, um ihren Standort in Finnland zu schliessen. Die Belegschaft hatte damals darauf verzichtet, sich mit den finnischen KollegInnen zu solidarisieren und somit den Kampf zu internationalisieren.

 

Standortpolitik gegen die ArbeiterInnen

Es gehört zur Strategie von Unternehmen, Standorte gegeneinander auszuspielen. Das mussten die Beschäftigten von Merck Serono in Genf diesen Sommer erleben. Mit dem Argument der Überkapazität wurde das Werk in Genf geschlossen und gewisse Bereiche der Produktion nach Darmstadt (D) verschoben. Als die Belegschaft zum Hauptsitz der Firma reiste, um gegen die Massenentlassung zu protestieren, weigerten sich die deutschen KollegInnen, sich zu solidarisieren. Die Gewerkschaft verhandle gerade den neuen GAV, was einen konfrontativen Kurs nicht erlaube.

Die «Strategie der Sozialpartnerschaft» wird also auch in Zukunft kaum materielle Verbesserungen herbeiführen für die Lohnabhängigen. Gerade in Zeiten der Krise werden die Unternehmen ihre Position stärken wollen. Dagegen kann auch eine «neue Sozialpartnerschaft» nichts tun.

Kein Blut für Platin?

In Südafrika streiken seit dem 10. August tausende Minenarbeiter für eine Erhöhung ihrer kärglichen Löhne. Vor einigen Tagen hat die Polizei ein Blutbad unter ihnen angerichtet. Nach offiziellen Zahlen wurden 34 Arbeiter getötet und dutzende verletzt. Die Blutspur führt auch in die Schweiz.

Wer in der betroffenen Marikana-Mine des Unternehmens Lonmin arbeitet, verdient gerade mal um die 580 Franken im Monat und lebt in der Regel in einer schäbigen Baracke in der Nähe der Mine. Die Arbeiter traten in den Streik, um für Lohnerhöhung von rund 300 Prozent zu kämpfen. Die grosse Gewerkschaft «National Union of Mineworkers» (NUM), in der ein Teil der Arbeiter organisiert ist, überredete Streikende, an die Arbeit zurückzukehren und sprach sich gegen den Streik aus, während die «Association of Mineworkers» (AMCU) die Streikenden unterstützte. Vor diesem Hintergrund kam es im Vorfeld des Streiks zu Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitern, in deren Verlauf zwei Menschen ums Leben kamen. Dies stilisierten einige der hiesigen Medien zum Auslöser der Repression hoch. Zur Eskalation der Lage und dem Massaker kam es aber, als die Polizei begann, Stacheldrahtbarrikaden aufzubauen, um die Streikenden auf einem besetzten Hügel einzupferchen und sie mit Wasserwerfer und Tränengas anzugreifen. Die Arbeiter wehrten sich mit Latten und Macheten, woraufhin die Polizei das Feuer eröffnete. Es darf nicht weiter erstaunen, dass sowohl die NUM als auch der regierende «African National Congress» (ANC) dieses Vorgehen der Polizei verteidigt.

Die Situation in Südafrika

Als Mandela und der ANC nach dem Ende der Apartheid 1994 an die Macht kamen, besassen gerade mal 13 Prozent der Bevölkerung – natürlich Weisse – 86 Prozent des Bodens und 90 Prozent des nationalen Reichtums. Trotz der offiziellen linksgerichteten Ideologie des ANC verfolgte dieser eine wirtschaftsliberale Politik, in deren Folge sich eine schwarze Mittelschicht herausbildete. Zudem ist der ANC mit den Minenbetreibern verbandelt, so wurden etwa Khulubuse Zuma, der Neffe des aktuellen Präsidenten, und Zondwa Mandela, die Enkelin des vormaligen Präsidenten, über Nacht zu MinenbesitzerInnen. Ein besonders lukratives Geschäft in einem Land, das 80 Prozent der weltweiten Platinvorkommen aufweist sowie reich an Bodenschätze wie Diamanten, Erdöl und Kohle ist.

Der grösste Teil der schwarzen Bevölkerung lebt nach wie vor in bitterer Armut. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 25 Prozent. Zudem sind die Armen mit harter Repression konfrontiert, wenn sie sich ausserhalb der offiziellen und vom ANC kontrollierten Strukturen organisieren und für ihre Bedürfnisse kämpfen. Auf der südafrikanischen Hompage «Abahlali base Mjondolo», der Webpräsenz der Bewegung der «Baracken-Bewohner», beurteilte man das Vorgehen der Polizei gegen die Streikenden treffend als weitere «massive Eskalation im Krieg gegen die Armen».

Und die Schweiz?

Was man in den hiesigen Medien kaum zu lesen bekam, ist, dass der Zuger Bergbau-Multi Xstrata im Besitz von rund einem Viertel der Aktien der betreffenden Minenkompanie Lonmin ist. Ausgerechnet jene Xstrata, die schon Besitzerin der Minen in Peru war, um die sich im Mai dieses Jahres ein Kampf entwickelte, in dessen Verlauf mindestens vier Menschen getötet wurden. Damals gab es vor dem peruanischen Generalkonsulat in Zürich eine Kundgebung und eine Demonstration in Zug. Es wird sich in den kommenden Tagen zeigen müssen, ob die Linke hierzulande auf das aktuelle Massaker reagieren kann. Die Minenbetreiber jedenfalls haben bereits auf ihre Art geantwortet: Wer weiter streike, der würde entlassen, haben sie angekündigt.

Wenn der Stammtisch die Asylpolitik bestimmt

Ist es die schiere Angst vor dem «schwarzen Mann», welche die aktuelle Stammtischpolitik im Asylwesen prägt? Zur enthemmten Debatte im Nationalrat.

Mitte Juni hatte der Nationalrat über die Asylgesetzrevision beraten und die Vorlage von Bundes- und Ständerat noch weiter verschärft. Massiv. Unverfroren. Von der Realität ein grosses Stück entrückt. Die Beschlüsse des Nationalrats kamen einer eigentlichen Zerlegung des Asylrechts gleich: Hier das Familienasyl streichen, da Internierungslager bauen, dort Botschaftsverfahren abschaffen. Sachliche Auseinandersetzungen? Man vermisste sie schon im Vorfeld der Debatte und erst recht im Rat selber. An ihre Stelle traten individuelle Profilierungssucht und Selbstdarstellung, jederzeit legitimiert durch das Bedürfnis, im Namen des Volkes «ein Zeichen zu setzen». Assistiert von einer mehrheitlich desinformierten wie mutlosen «Mitte» spielten SVP und FDP erfolgreich ein altbekanntes Spiel: Je dreister die Forderung, desto schärfer der spätere Konsens. Nothilfe für alle? Der Ständerat wird es wieder drehen, die Linke diese Rolle rückwärts als Erfolg feiern und die Rechte hat somit, was sie will: den ganzen Rest. Angesichts der enthemmten Debatte wurde es selbst manchem Journalisten Bange. «Ein unheimliches Gefühl, wenn es durch das Parlament schallt wie am Biertisch», schrieb Renato Beck in der «Tageswoche». Der Schriftsteller Lukas Bärfuss schrieb im «Tagesanzeiger» von «Schande» – was bei einigen Mitte-ParlamentarierInnen immerhin das Bedürfnis nach Rechtfertigung weckte. Das an Boshaftigkeit grenzende Bedürfnis nach diesem «Zeichen», das man so dringend setzen muss, das blieb jedoch bestehen. Und weitet sich aus. Weshalb aber will der nationalrätliche «Stammtisch» eigentlich ein Zeichen setzen? Gemäss dem Empfinden der «Volksseele» und einem Teil der Medien scheint die Situation im Asylwesen schon lange komplett ausser Kontrolle.

Vorbeigeschossen

Die Ursachen für dieses Empfinden liegen auf der Hand. Seit Anfang 2011 gestiegene Asylgesuchszahlen führen zu einem anhaltenden Unterbringungsengpass im Asylbereich. Aus dem Unterbringungsengpass resultiert indirekt eine erhöhte physische Präsenz von Asylsuchenden im öffentlichen Raum. Ein Grossteil dieser Asylsuchenden sind junge afrikanische Männer, von denen einige wenige für einen Anstieg vorwiegend kleiner Delikte verantwortlich zeichnen. Jede solche Handlung wird von einem Grossteil der Medien bereitwillig skandalisiert. Die pauschale Schlussfolgerung daraus ist fatal, sie lautet: Junge Männer aus Afrika missbrauchten unser Asylsystem, übervölkerten unsere Plätze und begingen Straftaten; da ihre Asylgesuche überwiegend negativ behandelt werden, könnten sie gar nicht «echt» sein; ergo sei die Schweiz für Asylsuchende zu attraktiv, habe dementsprechend zu viele Asylgesuche und nicht einmal mehr Platz für «echte» Flüchtlinge. Deshalb erscheinen alle nur erdenklichen Massnahmen gegen solch «unechte» Asylsuchende legitim: sowohl diejenigen, die der Nationalrat neu im Gesetz verankern will als auch jene, mit denen die Kantone sich aktuell hervor tun: Die Einführung von Rayonverboten und Eingrenzungen für «kriminelle» Asylsuchende in Kreuzlingen und im Kanton Zürich; Eine Ausgangssperre und eine generelles Handyverbot für Asylsuchende in der Stadt Luzern. Oder die Erfassung der DNA-Profile aller Asylsuchender, wie das der jurassische Polizeichef fordert. BFM-Chef Mario Gattiker propagiert im «SonntagsBlick» kurz und bündig: «1. Handy-Verbot! 2. Ausgangssperre! 3. Knast!».

Das wahrhaft Bedenkliche an all diesen Strategien, Massnahmen und Verschärfungen ist ihre Unreflektiertheit. Zum einen treffen diese Massnahmen nicht nur jene Asylsuchenden, die als kriminell gebrandmarkt werden, sondern auch alle anderen. Die Delikte einiger weniger, auch wenn es grossmehrheitlich geringfügige sind, sollen als Legitimationsbasis zur breit enthemmten Verschärfungspolitik dienen. Zum anderen basiert die Politik der Zeichensetzung auf einigen nur schwer haltbaren Aussagen und bewussten Falschanalysen. Was bisher ein typisches Mittel rechtspopulistischer (Migrations-)Politik war, findet derzeit bis hinein in die rechte Hälfte der Linken Anklang. Dass dabei die (vorgegaukelten) Ziele der laufenden Asyldebatte aus dem Blickfeld geraten, versteht sich fast von selbst. Die im Juni gefällten Beschlüsse des Nationalrates kommen einem Schrotflintenschuss im Halbdunkeln gleich: man trifft willkürlich alles ein bisschen. Mit seriöser Asylpolitik hat das nichts mehr zu tun.

Ein Frontalangriff ist nötig

Es zeichnet sich heute ab, dass das Machtspielchen der politischen Rechten auch im Ständerat einmal mehr aufgehen wird. Der «politische Köder» der «Nothilfe für alle» wurde der Linken hingeworfen und sie hat sich darauf gestürzt. Es droht das eingangs erwähnte Szenario, dass sich die politische Linke von einem Scheinerfolg blenden und eine Asylgesetzrevision, die schärfer, umfassender und weitgreifender als die letzte ist, ohne adäquates Gegenrezept passieren lässt. Gegen die letzte Revision wurde vor acht Jahren das Referendum ergriffen. Heute scheint dies aus verschiedenen Gründen weder opportun noch ausreichend. Auf eine derart enthemmte politische Debatte, wie wir sie im Juni 2012 im Nationalrat erlebt haben, kann statt einer Reaktion nur ein Frontalangriff erfolgen. Ein umfassender Gegenentwurf muss her. Solidarité sans frontières wird ihn in Angriff nehmen.

Stopp Auslieferung von Metin Aydin

Seit über einem Jahr sitzt der kurdische Politiker Metin Aydin im Kanton Zürich in Auslieferungshaft.  Obwohl er in Frankreich als politischer Flüchtling anerkannt ist, droht ihm wegen seinen politischen Aktivitäten ein Strafverfahren in Deutschland.

Metin Aydin ist ein kurdischer Politiker und in Frankreich anerkannter Flüchtling. Als Metin Aydin vor gut einem Jahr in die Schweiz reiste, wurde er von den Schweizer Behörden festgenommen. Seither sitzt er in der Schweiz in Auslieferungshaft. Deutschland hat ein Auslieferungsbegehren gestellt.

Der deutsche Staat führt ein Strafverfahren gegen Metin Aydin, weil er in Deutschland für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) politisch aktiv gewesen sei. Die PKK, welche sich für die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes in der Türkei einsetzt, ist in Deutschland verboten. Aydin soll in Deutschland nun wegen Verstosses gegen die politischen Artikel 129a und 129b bis zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt werden. Diese Gesetzesartikel, welche die Zugehörigkeit an illegalen Organisationen im In- und Ausland unter dem Vorwand der «Terrorismusbekämpfung» unter Strafe stellen, dienen insbesondere dazu, politischen Aktivismus über die «normalen» Strafandrohungen hinaus unter Strafe zu stellen. Strafbar macht sich dabei, wer schon in einer verbotenen Organisation Mitglied ist, ohne jedoch dabei selbst an militanten Aktionen teilgenommen zu haben.

Unter diesen Umständen erhält die Auslieferung auch aus rein rechtlicher Sicht einen höchst fragwürdigen Charakter: In der Schweiz ist die PKK legal, einen Strafartikel wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation existiert in der Schweiz nicht. Die schweizerische Gesetzgebung verlangt jedoch ganz klar, dass eine Tat auch gemäss schweizerischem Gesetz strafbar sein muss, um einem Auslieferungsbegehren entsprechen zu können. Zudem wäre die Auslieferung ausgeschlossen, wenn die Strafverfolgung einen vorwiegend politischen Charakter hat, was im Fall von Metin Aydin dann auch mit Sicherheit der Fall ist.

Es ist davon auszugehen, dass die Auslieferung durch die Schweiz, zu welcher die Schweiz keineswegs verpflichtet wäre, selbst politischen Charakter hat: Ausländische politisch Aktive in der Schweiz sollten mit der Androhung von Auslieferung eingeschüchtert werden. Dies wohl mit dem Ziel, migrantische politische Gruppierungen, insbesondere die in der Schweiz stark vertretenen kurdischen AktivistInnen, von politischem Handeln abzuhalten. Nicht zuletzt versucht die Schweiz damit aber auch, repressiven Drittstaaten wie der Türkei einen Gefallen zu tun.

Drohende Folter in der Türkei

Nach der Verbüssung einer allfälligen Haftstrafe in Deutschland würde Metin Aydin wahrscheinlich in die Türkei abgeschoben werden. Dort droht ihm nicht nur weitere Inhaftierung, welcher er zunächst durch Flucht nach Frankreich entkommen konnte, sondern auch schwerste Folter durch die türkischen Sicherheitskräfte. Folter ist in der Türkei eine weit verbreitete Praxis und speziell im Kampf gegen kurdische Widerständische die Regel. Obwohl die Schweiz darum weiss – die Schweiz konnte deswegen insbesondere nicht den in der Schweiz wohnhaften kurdischen Politiker Mehmet Esiyok an die Türkei ausliefern – verschliesst sie im Fall Aydin davor willentlich die Augen. Im Bewusstsein, dass Metin Aydin in der Türkei gefoltert werden wird, wird er nach wie vor in Auslieferungshaft gehalten.

Das Bundesamt für Justiz verfügte im Februar dieses Jahres die Auslieferung und tat dies auch öffentlich kund. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es der Schweiz eben auch um eine Abschreckungswirkung an andere ausländische Politaktivisten geht. Auf Druck des Anwalts von Metin Aydin, Marcel Bosonnet, musste die Rechtsmittelinstanz jedoch den Auslieferungsentscheid aufheben und zu neuer Beurteilung an das Bundesamt zurückweisen. Dieses muss nun einen neuen Entscheid fällen, welcher in den nächsten Wochen erwartet wird.

Breite Solidarität

Gegen die Auslieferung an Deutschland, welche wohl mit Folter in der Türkei enden würde, hat sich eine breite Solidaritätsbewegung etabliert: Der kurdische Dachverband in der Schweiz FEKAR, welcher sämtliche kurdischen Vereine in der Schweiz repräsentiert, lancierte eine Petition für die Freilassung von Aydin. Diese soll im Rahmen einer Kundgebung an die schweizerischen Behörden übergeben werden. Auch will die FEKAR im direkten Gespräch mit Vertretern des Schweizer Staates auf die Lage von Aydin aufmerksam machen. Weiter fand am 20. Juli vor dem türkischen Konsulat in Zürich eine Kundgebung gegen seine Auslieferung statt. Die Zürcher Polizei machte dabei klar, auf welcher Seite sie steht: Teilnehmende wurden kontrolliert und ohne weitere Begründung wurde ein Transparent beschlagnahmt. Die FEKAR hofft jedoch, durch die Information über die Lage von Metin Aydin genügend öffentlichen Druck auf die Schweiz aufzubauen, damit diese von der Auslieferung und als Folge davon der weiteren Inhaftierung und Folter absieht.

Vom Argument zum Streik

Seit Ende April kämpfen die ArbeiterInnen von Merck Serono in Genf um ihre Arbeitsplätze und ihre Würde. Einige hundert Meter entfernt vom Lac Lemon und flankiert von verschiedenen internationalen Organisationen, radikalisiert sich eine Belegschaft von ForscherInnen durch ihren Kampf.

In einem Kurzvideo hat eine Arbeiterin von Merck Serono den bisherigen Verlauf des Kampfes zusammengefasst. Unter dem Titel «Site closure Merck Serono Geneva» flimmern Bilder vom Widerstand gegen den Abbau der 1?250 Arbeitsplätze in Genf über die Leinwand: Flashmobs, Demonstrationen, Bilder vom Streik. Die rund 400 ArbeiterInnen in der Halle Sécheron geben dem Film einen langen Applaus. Kurz darauf wird die Versammlung erneut für Streik stimmen. Eine Strassenblockade wird vorgeschlagen. Einem Aufruf zum Hungerstreik schliessen sich spontan zehn Leute an. Innerhalb von zwei Monaten hat sich eine Belegschaft radikalisiert, die mit Klassenkampf bis anhin nichts am Hut hatte.

Radikalisierung der Belegschaft

Dabei reagierte Merck mit der Schliessung des Genfer Standortes auf die mörderische Konkurrenz in der Pharma- und Chemiebranche. Mit der Strategie «Fit for 2018» sollen Kosten in der auf langfristiges Engagement angelegten Forschung reduziert werden. Da mit dem Hauptsitz in Darmstadt bereits eine kleine, flexible und dynamische Forschungseinheit existiert, wollte der Konzern mit der Aufhebung von Merck Serono Genf Doppelspurigkeiten abbauen. Da die Belegschaft an den zwanglosen Zwang des besseren Arguments in der Auseinandersetzung glaubte, arbeiteten Arbeitsgruppen in der Konsultationsphase drei Lösungsvorschläge aus, um die Arbeitsplätze in Genf zu behalten. Selbst die liberale «Neue Zürcher Zeitung» zeigte sich von den Vorschlägen tief beeindruckt. Statt rüdem Gewerkschaftston finde man hier handfeste Argumente. Die Verantwortlichen hätten den Stab wohl vorschnell über dem Genfer Betrieb gebrochen. Doch sowohl die NZZ als auch die ArbeiterInnen verkannten bis zu diesem Zeitpunkt, dass im Klassenkampf nicht die Argumente, sondern das Kräfteverhältnis entscheidend ist. Am 19. Juni verwarf Merck alle drei Vorschläge in Bausch und Bogen.

Aus diesem Rückschlag sollte die Belegschaft ihre Lehren ziehen. Waren die Aktionen zu Anfang sehr kreativ, so wurden sie nun zunehmend radikaler. Überhaupt lässt sich an der Radikalisierung der ArbeiterInnen von Merck Serono wunderbar aufzeigen, wie sich das Bewusstsein von Menschen durch Kämpfe verändern kann. Von den 1?250 ArbeiterInnen im Genfer Standort haben 750 einen akademischen Titel oder sind Marketingfachleute. Noch vor einem halben Jahr konnten sich nur wenige vorstellen, an einer Demonstration teilzunehmen. Es gab nicht einmal eine gewerkschaftliche Vertretung im Betrieb. Im Schnelldurchgang spielten die ArbeiterInnen alle sozialpartnerschaftlichen und symbolischen Mittel durch: Mit einer Petition kamen innerhalb von kurzer Zeit 12?000 Unterschriften zur Erhaltung der Arbeitsplätze zusammen. Zugleich wurden Flashmobs und Demonstrationen durchgeführt. Einige ArbeiterInnen bestiegen sogar einen Berg, um ein Transparent gegen die Schliessung in die Höhe zu halten. Doch erst die Androhung ökonomischen Drucks mittels Streik erwirkte die Verlängerung der Konsultationsphase.

Nachdem die Vorschläge aus der Konsultationsphase schlichtweg abgelehnt wurden, machte die Belegschaft ihre Drohung wahr und trat in den Streik. Der Streik vom 20. und 21. Juni spielte sich hauptsächlich auf dem Vorplatz des gläsernen Haupteingangs ab. Aus Angst vor einer Besetzung des Betriebs engagierte das Unternehmen eine Heerschar von Securitas-Angestellten, die das Geschehen vor den Glastüren grimmig begutachteten. Ein Fotograf machte präventiv Aufnahmen von streikenden ArbeiterInnen. Die Streikenden erbauten auf dem Gehsteig vor dem Betrieb eine kleine Zeltstadt und nannten sie «Occupy Merck Serono». Die Polizei liess sie dabei trotz Wegweisungsbefehl gewähren. Doch die Teilnahme am Streik war bereits am zweiten Tag rückläufig. Nach neun Wochen Kampf begannen sich bei den ArbeiterInnen erste Ermüdungserscheinungen zu zeigen. An der Vollversammlung vom Donnerstag wurde beschlossen, den Streik auszusetzen und den PolitikerInnen die Chance zu geben, Merck an den Verhandlungstisch zu zwingen.

Auf dem Weg zur internationalen Bewegung

Das Rationalisierungsprogramm «Fit for 2018» betrifft nicht nur den Standort Genf. Und weil Merck ein internationales Unternehmen ist, haben die ArbeiterInnen Kontakt zu den verschiedenen Sitzen, die auch vom Abbau betroffen sind. Eine Delegation war zudem nach Darmstadt in den Hauptsitz gereist und hatte um Unterstützung gefragt. Trotz anfänglicher Zusage zu einer parallelen Aktion, zog sich der Betriebsrat aus Deutschland hinter die Interessen seines Standorts zurück. Er wolle die Verhandlungen mit dem Unternehmen nicht gefährden. An einem internationalen Aktionstag kamen Solidaritätsbotschaften von verschiedenen Merck-Standorten in Frankreich, Italien und Deutschland. Die Bewegung begann eine internationale Dynamik anzunehmen. Tiefen Eindruck hinterliess die Entdeckung eines Kampfes im Jahre 2010 bei Merck Pakistan. Merck ignorierte den Hungerstreik eines Arbeiters so lange, bis er starb. Entdeckungen wie diese trugen dazu bei, dass die Belegschaft am 28. Juni erneut in Streik trat, dieses Mal begleitet von einem Hungerstreik. Der Kampf wurde zu einer Frage der Würde. Oder wie es ein Arbeiter ausdrückte: «Wir sind keine Möbel, die man einfach so rumschieben kann.»

Zurück in den Fängen der Sozialpartnerschaft

Auf diese weitere Eskalation reagierte die Genfer Regierung plötzlich schnell. Sie schöpfte alle ihre rechtlichen Mittel aus und zwang Merck, mit VertreterInnen der Belegschaft, der Gewerkschaft und der Regierung an einen Tisch zu sitzen. Das ist aber auch schon das einzig Positive an dieser Mediation. Denn Merck ist zu nichts verpflichtet, ausser an den Sitzungen teilzunehmen. Diese können maximal 45 Tage dauern und drehen sich nur um den Sozialplan. Der Erhalt der Arbeitsplätze wird nicht diskutiert. Während dieser Zeit ist es den ArbeiterInnen verboten, Kampfmassnahmen zu ergreifen, zu Demonstrationen aufzurufen oder Communiqués rauszugeben. Damit wurde den ArbeiterInnen der Wind aus den Segeln genommen und eine weitere Zuspitzung des Konflikts verhindert. Doch wer den Erfindungsreichtum und die Ausdauer der Belegschaft von Merck Serono kennen gelernt hat, weiss, dass sie immer für eine Überraschung gut ist.

Vom Mut der Mehrheit gegen die Schwachen*

Das Schweizer Parlament verschärft das Asylrecht. Schon wieder, ist man geneigt zu sagen. Wer dachte, es gäbe nichts mehr zu verschärfen, der wurde einmal mehr eines besseren belehrt. Und doch sind die aktuellen Verschärfungen nur plumpe Augenwischerei und billiger Populismus auf dem Buckel der Schwächsten.

Die braungebrannte SVP, sie ist mit ihrer Politik des Hasses und Verunglimpfung längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die bürgerlichen Parteien versuchen alles, um das Original mit fremdenfeindlichen Voten zu übertrumpfen. Die neusten Verschärfungen (siehe auch Seite 2) werden so wirkungslos verpuffen wie alle anderen Sanktionen zuvor. Sie werden das Elend unter den Betroffenen nur verschärfen. Wer durch Hunger, Krieg und Unterdrückung nicht schon zuvor psychisch zerstört war, der wird es spätestens nach ein paar Monaten Asylland Schweiz sein. Dafür garantiert die offizielle Schweiz mit Gütesiegel. Kommen werden die Menschen trotzdem. Weil sie keine andere Perspektive haben, und weil sie der Meinung sind, dass die Schweiz ein wunderbares Land ist. Wenn es hier keine Gerechtigkeit und Zukunft gibt, wo dann? Wo dann?

Des Volkes Wille

Das ist eines der Nebengeräusche, wenn man das reichste Land der Welt ist. Und es sind nicht die bürgerlichen Parteien oder das Kapital alleine, die diese rassistische Politik tagtäglich fördern und fordern und vor lauter Wohlstandschauvinismus nichts  anderes können als nur noch gegen unten zu treten. Es sind nicht die behördlichen Schreibtischtäter, das Bundesamt für Migration oder die einzelnen Parteien, die für Verschärfungen der letzten Jahre die alleinige Verantwortung tragen. Es ist das Schweizer Volk. Wir alle, du und ich. Ob reich oder arm, ob Millionär mit Luxusschlitten oder die SVP-wählende Sozialhilfeempfängerin, sie alle heben den rechten Arm zum Gruss. Es ist nicht die Angst vor dem Fremden, die die Menschen zu solchem Handeln treibt, sondern die egoistische Selbstliebe und das Betonieren des eigenen Wohlstands. Die Volksseele, sie kocht. Sie will Blut sehen und einfache Lösungen für komplexe Fragen haben. Es ist die soziale Kälte und der verschwiegene Krieg an den Aussengrenzen Europas, welche das Geschwätz von Menschenrechten und humanitärer Tradition schon lange ad absurdum führen. Der eigentliche Skandal ist nicht die aktuelle Verschärfungen des Asylrechts, sondern, dass an Schweizer Unis überhaupt noch so etwas wie Völkerrecht unterrichtet wird. Welch Augenwischerei, welch Heuchelei.

Wo bleibt die radikale Linke?

In der heutigen Asylpolitik geht es nicht um den Schutz von Verfolgten, sondern um den innereuropäischen Wettbewerb, wer das mieseste Asylgesetz hat und die kreativsten Abschreckungsmechanismen entwickelt. Und es sollte durchaus zum Nachdenken anregen, dass Blocher und Co. seit Jahren mit ihrer dumpfbackigen Stimmungsmache praktisch auf keinen Widerstand mehr stossen. Kann es sein, dass auch die radikale Linke längst der Meinung ist, dass es doch so langsam eng wird im Boot? Lieber zu «Tanz dich frei» den Po wackelt, statt für die Rechte der Ausgegrenzten auf die Strasse zu gehen? Sich im behüteten Szenenghetto für Mittelstandkids pudelwohl fühlt und von Repression und Unterdrückung fabuliert, während draussen vor der Haustür längst die Hölle losgebrochen ist? Die heutige Asylpolitik dient in vielerlei Hinsicht auch als Experimentierfeld für sozialpolitische und gesellschaftliche Verschärfungen. Ob totale Überwachung, soziale Disziplinierung oder Einschränkung der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, nirgendwo sonst wird so hemmungslos gegen unten geknüppelt, nirgendwo sonst manifestiert sich die Barbarei der Gebildeten und Aufgeklärten so deutlich wie in der Asylpolitik. Sie wäre eines der wichtigsten zu besetzenden Kampffelder für eine revolutionäre Linke, denn nirgendwo sonst prallen Welten so aufeinander, denn Migration ist oft die letzte – und einzige – Waffe der Entrechteten dieser Welt.

Pragmatismus statt Repression

Mit Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit jedenfalls haben die heutigen Gesetze schon lange nichts mehr zu tun. Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Statt diese Realität zu akzeptieren und die Gesetzgebung anzupassen, setzt die offizielle Schweiz auf Repression und Abschreckung. Die sofortige Aufhebung des Arbeitsverbotes, kollektive Regularisierungen oder die Schaffung einer Green Card-Lotterie wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Liste der durch die offizielle Schweiz begangenen Schweinereien und Menschenrechtsverletzungen jedenfalls ist beängstigend lang. Wenn die Schweiz geheime Knäste im westafrikanischen Accra und Abidjan unterhält, wie von augenauf und L’Hebdo 2000 aufgedeckt, wenn Lohnarbeit zu einem Schwerverbrechen wird, wenn Menschen für Jahre im Knast verschwinden, obwohl sie keine einzige Straftat begangen haben, ausser hier zu sein, dann stinkt es ganz gewaltig in diesem Land. Es braucht keine neuen Internierungslager, weil wir längst schon solche haben. Sie werden mehrmals wöchentlich ab Bern, Basel, Genf, Lausanne und Zürich mit einem Gefängniszug (!) bedient. Und wenn jetzt jemand an Rampen und alte Geschichten denkt… Solange die Schweiz sich jedenfalls als Bordellbetreiber für multinationale Konzerne betätigt, solange auch nur ein einziger Franken Despotengelder auf Schweizer Bankkonten liegt, solange wir mit unserem Durst nach einem angenehmen Dasein die Lebensgrundlagen anderer zerstören, solange sind wir moralisch verpflichtet, sie mit offenen Armen zu empfangen, weil unser Reichtum die Armut der Anderen bedeutet. Aus diesem Grund gilt es, am 23. Juni in Bern ein klares Zeichen der Toleranz, der Empörung und des Widerstandes zu setzen.

* Titel von Lukas Bärfuss geklautmaiert

Weitere Aushöhlung des Rechts auf Asyl

Der Nationalrat hat das Asylgesetz erneut massiv verschärft. Am Abend der Nationalratdebatte kam es in Bern jedoch zu spontanen Protesten. Über dreihundert Personen – darunter viele Sans-Papiers und MigrantInnen – zeigten ihre Wut. Der Widerstand muss weitergehen.

Vor dem Bundeshaus wurden ParlamentarierInnen ausgepfiffen, ausgebuht und mit Eiern beworfen. Auf Empfehlung des Nationalratspräsidenten Hansjörg Walter verliessen viele ParlamentarierInnen das Bundeshaus durch die Hintertür. «Ihr seid Scheisse», empörte sich ein Demonstrant, als eine Gruppe NationalrätInnen das Parlamentsgebäude verliess. In der Tat verdienen «VolksvertererInnen», die solche Beschlüsse fassen, keine andere Bezeichnung.

Die Verschärfungen

Der Nationalrat will erstens das Asylrecht für Wehrdienstverweigerer und Deserteure abschaffen. Zweitens beschränkt er das Recht auf Familienasyl. In Zukunft sollen es nur noch Ehegatten und Kinder geniessen dürfen. Drittens wurde die Sozialhilfe für Asylsuchende gestrichen. Künftig sollen alle Asylsuchenden dem Nothilfe-Regime unterstellt werden. Viertens sollen sogenannt renitente Asylsuchende in Speziallager weggesperrt werden. Fünftens sprach sich der Nationalrat dafür aus, dass bei Schweizer Botschaften keine Asylgesuche mehr eingereicht werden dürfen. 2010 wurden auf den Schweizer Botschaften über 3000 Gesuche eingereicht – mehrheitlich von Frauen. Asylsuchenden wird sechstens ein politischer Maulkorb aufgesetzt: Um Rekurse und Zweitgesuche aufgrund von Nachfluchtgründen zu verhindern, dürfen sie die Verhältnisse in ihrer Heimat nicht mehr öffentlich kritisieren. Auch politische AktivistInnen, die Asylsuchende unterstützen, können künftig bestraft werden. Siebtens verschärfte der Rat die Härtefallregelung für vorläufig aufgenommene Personen. Diese soll neu erst nach sieben statt wie heute nach fünf Jahren angewendet werden können. Achtens sollen Ausschaffungen in jedem Fall als «zumutbar» gelten, wenn der Bundesrat die Rückkehr in einen Staat allgemein als zumutbar erachtet. Der Spielraum für die Prüfung von Einzelfällen wurde gestrichen. In der Schlussabstimmung akzeptierte der Nationalrat das Gesetz mit 118 zu 62 Stimmen bei 3 Enthaltungen. Nächstes muss sich der Ständerat zu den Verschärfungen äussern.

Die Debatte 

Die zweitägige Asyldebatte des Nationalrats hat gezeigt, dass es verfehlt wäre, nur die SVP als treibende Kraft hinter den drastischen Verschärfungen des Asylgesetztes zu erkennen. Die xenophobe Setzung «Asyl-suchende=Missbrach=Kriminalität», welche die SVP seit langem aggressiv politisierend vertritt, wird im Parlament heute weitläufig als gegeben angenommen.

Den utilitaristisch-xenophoben Prämissen folgend, stritten sich «Experten» à la Philipp Müller (FDP), Heinz Brand (SVP) und Gerhard Pfister (CVP) «sachlich und freundlich» darüber, wie die Verwaltungsprozesse des Asylregimes optimiert oder Ausschaffungen effizienter gestaltet werden könnten.

Die Ratslinke beschränkte sich in dieser technokratischen Debatte einerseits darauf, «bürokratischen Unsinn» (Geri Müller/Grüne) zu verhindern und «nüchtern und sachlich zu bleiben» (Silvia Schenker/SP). Andererseits wurde von linker Seite an humanitäre Werte erinnert und versucht, die Revision als unnötig zu erklären: «Sie höhlen das Asylgesetz aus, ganz ohne Not. Sind wir etwa in der Situation von Griechenland?» (Balthasar Glättli/Grüne).

 

Das Referendum

Dass der Nichteintretensantrag der Grünen zu Beginn des Verschärfungsmarathons mit 158 zu 34 Stimmen bei 2 Enthaltungen abgeschmettert wurde, zeigt, dass innerhalb der parlamentarischen Linken keine grundsätzliche Ablehnung des Asylregimes besteht. Sogar die Frage nach dem Referendum, die für die grossen Parteien, Organisationen oder Gewerkschaften nach all den Verschärfungen an sich Pflicht sein sollte, bleibt offen.

Anlässlich der Spontandemo wurden SP, Grüne, SGB und SFH aufgerufen, «das Referendum auf jeden Fall zu ergreifen». Doch die SP bleibt zurückhaltend. Sie hofft, dass der Ständerat nochmals auf die Abschaffung der Sozialhilfe zurückkommt oder sich die Verantwortung für ein Referendum auf kleinere Organisationen abwälzen lässt.

 

Migrationspolitischer Bankrott

Obwohl die Ratslinke mehrheitlich geschlossen gegen die einzelnen Verschärfungen stimmte, trifft sie eine Mitschuld an den Verschärfungen des Asylgesetzes. Seit der letzten «Revision» im Jahr 2006 fand ein migrationspolitischer Kurswechsel nach rechts statt. Die SozialdemokratInnen und ihre Bundesrätin vertreten zunehmend offen protektionistische und utilitaristische Positionen und verzichten auf eine internationalistische Perspektive. 2008 bejahten sie das neue Schwarzarbeitergesetz, das die offene Sans-Papiers-Hetze orchestriert. 2006 und 2008 befürworten sie die Personenfreizügigkeit ohne wirksamen Schutz gegen Lohn- und Sozialdumping. Seit 2008 akzeptieren sie die Kriminalisierung der Migration aus dem nicht-europäischen Raum, indem sie die Militarisierung der EU-Aussengrenze mittragen und das repressive Asylregime der 9. Asylgesetzrevision über zahlreiche Exekutivmandate, Kommissionsmitgliedschaften und Verwaltungsstellen mitgestalten und -verwalten.

Der migrationspolitische Bankrott der SP zeigte sich jüngst auch während der Wahlen, als Fraktionschef Tschümperlin «aus wahlstrategischen Gründen» empfahl, das Thema Migration und Asyl totzuschweigen und auf später zu vertagen. Im «neuen» SP-Migrationspapier, das seit den Wahlen diskutiert wird, heisst es nun, dass Migration nur als wünschenswert betrachtet wird, wenn die Schweizer Wirtschaft davon profitiert. Ausschaffungen, Lager und Zwangsmassnahmen für Asylsuchende werden nicht a priori zurückgewiesen, die kollektive Regularisierung der Sans-Papiers jedoch schon.

Die SP muss sich letztlich auch vorwerfen lassen, sich stark vom sozialen und zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen das Asyl- und Ausländerregime distanziert zu haben und sich ausschliesslich auf den parlamentarischen Weg zu beschränken. Bewegungen wie «Bleiberecht für alle» werden parteiintern im besten Fall als externe Unterstützung, oft aber als Hindernis für den reibungslosen Ablauf des parlamentarischen Geschäfts gesehen.

Antworten und Botschaften

Es war ein kämpferischer und starker 1. Mai in Zürich. An der Demonstration nahmen rund 12 000 Personen teil. Ein voller Erfolg und der Beweis, dass der internationale Tag der Arbeit an seiner Aktualität nichts eingebüsst hat. 

Nach dem 1. Mai in Zürich sind alle zufrieden: Vom Revolutionären Bündnis über das 1.Mai-Komitee, von den Gewerkschaften, der JUSO und der SP bis hin zum Stadtrat und der Polizei. Für alle war es ein Erfolg, wie aus den verschiedenen Stellungsnahmen und Communiques zu entnehmen ist. Bei so viel Friede, Freude, Eierkuchen drängt sich schon fast die Frage auf, ob es tatsächlich ein guter 1. Mai war? Und die Frage ist nicht ironisch gemeint: Letztes Jahr kam es zu über 500 Verhaftungen, was die Polizei und die bürgerlichen Kreise – mit der SVP an der Spitze – als Erfolg werteten.

Nun,  ausser den 50 Verhaftungen, dem Polizeihubschrauber, der am Himmel seine Runden drehte und das «enorme Aufgebot von Stadt- und Kantonspolizei» (Zitat von Philipp Hotzenköcherle, Kommandant der Stadtpolizei Zürich im Tagesanzeiger vom 2. Mai), war es in der Tat ein wunderschöner und kämpferischer Tag der Arbeit. Selbst die bürgerlichen Medien mussten diese Tatsache zugeben und in ihrer Berichterstattung auf die politischen Inhalte des 1. Mai eingehen. Dies, nachdem sie in den vergangenen Jahren ihre Seiten mit Berichten über «Krawalle» und «Chaoten» füllten und so die mehr als berechtigten Forderungen der ArbeiterInnen links liegen lassen konnten.

Zwei Blöcke

An der Demonstration am Vormittag nahmen rund 12 000 Personen teil. Dieser Menschenstrom mit roten Fahnen und die Tausenden, die während dem dreitägigen internationalen Volksfest auf das Kasernenareal kamen, waren eine beeindruckende Antwort auf die neoliberalen Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen hier und weltweit.  Sie waren der Beweis, dass der 1. Mai alles andere als ein sinnloses Ritual von Ewiggestrigen ist. Er ist und bleibt der Kampftag für die Rechte der arbeitenden Bevölkerung. Die kämpferische Demo und das Volksfest waren auch eine deutlich Botschaft an den Gewerkschaftsbund, insbesondere jedoch an die Führungscrew der Zürcher Unia, endlich mit dem Machtgeplänkel um den Hegemonieanspruch rund um den 1. Mai aufzuhören. Der Konflikt zwischen dem Gewerkschaftsbund und dem 1. Mai-Komitee führte dazu, dass für die Demo ein Abstand von 300 Metern zwischen dem Gewerkschaftsblock und dem 1. Mai-Komitee beschlossen wurde. Die Praxis auf der Strasse zeigte dann ein anderes Bild. Der geplante Abstand war «kaum oder überhaupt nicht zu sehen», wie verschiedene Augenzeugen dem «vorwärts» berichteten. Seltsame Beschlüsse sind dem Volk eben nur schwer zu vermitteln…

Widerstand gegen multinationale Unternehmen 

An der Schlusskundgebung war der Hauptredner des 1. Mai-Komitees Kamal Abbas, Koordinator der freien ägyptischen Gewerkschaftsbewegung. Abbas gehört zu den Schlüsselfiguren der Revolution in Ägypten. Er eröffnete seine emotionale Rede mit folgenden Worten: «Seit ich mich der ägyptischen Arbeiterbewegung angeschlossen habe, ist dies das erste Mal, dass ich den Tag der Arbeit ausserhalb Ägyptens feiere. Aber ich fühle mich hier nicht fremd, denn ich bin umgeben von Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen.» Abbas rief dazu auf, den «Widerstand gegen ein autoritäres und ausbeuterisches Herrschaftssystem und gegen multinationale Unternehmen, die auf dem Buckel der Arbeiterinnen und Arbeiter Milliardenprofite einheimsen, zu leisten.» Das Komitee unterstrich in der Medienmitteilung die eigene Überzeugung, dass «eine internationale Vernetzung im Kampf gegen die gierigen Konzerne nötig ist.»

Der Schriftstelle Pedro Lenz sprach alle Anwesenden an der Schlusskundgebung mit «Genossinnen und Genossen» an, sagte aber auch, dass «aus Genossen Konsumenten» geworden seien.  Mit seinem beeindruckenden Sprachwitz zeigte er auf, wie aus der «Eidgenossenschaft eine Eidkonsumentenschaft» geworden sei.

Für die Gewerkschaften sprach der SGB-Präsident und SP-Nationalrat Paul Rechsteiner: «Wir haben in der Schweiz jetzt zehn, fünfzehn Jahre der Ungleichheit hinter uns. Zehn, fünfzehn Jahre, in denen die hohen und höchsten Einkommen krass zugelegt haben, während die Mehrheit mit unteren und mittleren Einkommen stehen geblieben ist. Es reicht. Es langet!» Er unterstrich, dass diese Fehlentwicklung politisch verursacht sei. «Und sie kann auch politisch umgedreht werden: mit einer Lohnpolitik der Vernunft, mit starken Gesamtarbeitsverträgen und mit Mindestlöhnen, die ein Leben in Würde ermöglichen.»

Gegen die Angriffe von oben

Laut Medienmitteilung des «Revolutionären Bündnis» reihten sich am Vormittag «über 2000 Menschen in den revolutionären Teil der Demo» ein. Es gab Reden zu Arbeitskämpfen, politischen Gefangenen, Repression und rechter Propaganda. Ein Genosse aus Athen berichtete über die Kämpfe in Griechenland. Weiter schreibt das Bündnis: «Im revolutionären Block brachten viele Leute lautstark zum Ausdruck, dass sie die derzeitigen Angriffe auf ihre Lebensverhältnisse nicht hinnehmen wollen, und dass für sie der Kapitalismus und das Elend, das er produziert, nur mit einer revolutionären Politik überwunden werden kann.»  Ab dem Mittag trafen sich etwa 300 Leute zum revolutionären Treff auf dem Kanzleiareal unter der Parole «Gegen die Angriffe von oben – weltweit kämpfen». Dieses Jahr war das Bündnis bereits am Wochenende vor dem 1. Mai mit einem Politprogramm auf dem Kanzleiareal präsent. Dazu gehörte auch eine Platzbesetzung mit Musik am Samstagabend.


Unerwünschter Besuch an der Uni ZH!

Für den 7. Mai hat das Schweizerische Institut für Auslandsforschung (SIAF) die Vorsitzende des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, zu einem Vortrag an die Universität Zürich eingeladen. Das Bündnis «Uni von unten» ruft zu Protesten gegen den Besuch von Christine Lagarde an der Universität Zürich auf.

Es ist nicht das erste Mal, dass der neoliberale Think Tank SIAF für seine Gäste in Kritik gerät. Vor gut zwei Jahren konnten aktive StudentiInnen dafür sorgen, dass der Vortrag von Novartis-CEO Daniel Vasella an der Uni abgesagt werden musste und Redner wie Nestlé CEO Peter Brabeck oder der amerikanische Kriegsbefürworter Robert Kagan nur unter grossem Protest sprechen konnten. Auch für den 7. Mai haben sich erste Proteste angekündigt. So ruft das Bündnis Uni von unten auf ihrer Website an diesem Tag zu einer Kundgebung beim Haupteingang der Universität auf.

 

Verheerende Folgen

Christine Lagarde ist seit dem Rücktritt von Dominic Strauss Kahn im letzten Jahr die Vorsitzende des IWF. Doch auch unter ihrer Führung hat sich nichts zum Positiven geändert. Noch immer tritt der Währungsfonds im Interesse des Kapitals auf und noch immer leiden unzählige Menschen darunter. Aktuelles Beispiel ist Griechenland. Aufgrund der vom IWF geforderten Sparmassnahmen werden Löhne gekürzt, im Gesundheitswesen gespart und über 1 000 Schulen geschlossen. Die Folgen für die Menschen vor Ort sind bekannt.Doch während überall im Staatsetat gespart wird, bleibt das Militärbudget auch unter dem wachenden Auge des IWF konstant hoch. Kein Wunder, denn damit profitiert die Rüstungsindustrie Deutschlands, welche mit Griechenland einen teuren Rüstungsvertrag abgeschlossen hat. Dass einer solchen Institution an der Universität ein Podium geboten werden soll, ist skandalös. Der IWF negiert seit Jahren die verheerenden Folgen  seiner Eingriffe und tut weiter so, als tätige er seine Eingriffe im Interesse der Menschen. Doch für die Betroffenen vor Ort zeigt sich ein ganz anderes Bild. Was würde wohl geschehen, wenn Christine Lagarde einen öffentlichen Vortrag an einer Athener Universität halten würde?

 

Gegen die Ökonomisierung der Uni

Dass das SIAF gerade die Uni auserkoren hat, um ihre neoliberale Hegemonie weiter auszudehnen, ist angesichts der Entwicklung der Universitäten nicht verwunderlich. Die schleichende Ökonomisierung zeigt sich unter anderem darin, dass immer mehr Unternehmen versuchen, an der Universität Fuss zu fassen. Es geht ihnen dabei nicht etwa um die Privatisierung, sondern viel mehr darum ihr Image aufzubessern, ihre Legitimation zu stärken und um die besten Abgänger buhlen zu können. So finanzierte der Pharmakonzern Syngenta unlängst eine Professorenstelle an der ETH, die im Bereich «nachhaltige Agrarökosystem» forschen und lehren soll.  Und neoliberale Think Tanks, wie das SIAF, versuchen mit Redner und Forschungsgelder aus der Privatwirtschaft, die Definitionsmacht darüber zu festigen, wie die Welt analysiert und bewertet werden muss. Dieser Entwicklung muss Einhalt geboten werden. Gerade um zu zeigen, dass sich die Universität Zürich solidarisch mit den griechischen Universitäten in ihrem Kampf gegen die Ökonomisierung der Bildung, Sparmassnahmen und den Bildungsabbau zeigt, wäre es wünschenswert, wenn sie bei Gästen, wie Christine Lagarde, ein Machtwort sprechen und dem SIAF keinen Raum zur Verfügung stellen würde.

Ein hoher, zu hoher Preis bezahlt

Die Welt steckt in einer Krise und alle sozialen Organisationen mit ihr. Die Gewerkschaftsbewegung stellt dabei keine Ausnahme dar. Befindet sich der Syndikalismus nun in einer Krise aufgrund der Tatsache, dass sich der Kapitalismus selbst in einer Krise befindet, auf welche die Gewerkschaften keine Antworten geben können? Was ist zu tun?

Die gewerkschaftlichen Organisationen, die politischen Organisationen und die Kooperativen riefen  1864 die Erste Internationale ins Leben. Diese war unterteilt in AnarchistInnen und die sozialistischen, revolutionären SozialdemokratInnen (MarxistInnen). Letztere gründeten 1889 die Zweite Internationale, die eine Spaltung zwischen den SozialdemokratInnen (Sozialistische Internationale) und den sozialistischen, revolutionären, pazifistischen Kommunist-Innen (Dritte Internationale 1919) zur Folge hatte.  Zu diesen beiden Strömungen kommt die Libertäre hinzu. Auch um den aktuellen Kontext zu verstehen, ist es unerlässlich, einen kurzen Überblick über die Strömungen zu haben, die die Gewerkschaftsbewegung beeinflussten.

Die Libertären

Für sie ist der Staat nichts anderes als ein Apparat der Herrschaft und Unterdrückung. Daher ist seine Abschaffung die Voraussetzung für die Emanzipation der ArbeiterInnen. Der freie Zusammenschluss von Kollektiven ist der Ersatz für den Staat. Sie fassen die Abschaffung des Privateigentums zu Gunsten des sozialen, kollektiven Besitzes (nicht staatlich) der Produktionsmittel und des Tausches ins Auge. Die Lohnarbeit repräsentiert die Abhängigkeit der ArbeiterInnen gegenüber dem Kapitalisten und der Lohn bezahlt nicht die Arbeit, sondern die verbrachte Zeit unter der direkten Kontrolle des Arbeitgebers. Die Libertären postulieren die Abschaffung der Lohnarbeit sowie den Anspruch für jede und jeden auf einen gleichen Anteil am sozialen Einkommen (Mindesteinkommen und Bedingungsloses Grundeinkommen). In dem Masse, indem die Mittel mit den Prinzipien der Bewegung und des libertären Projekts vereinbar sind, sind alle Mittel erlaubt, sogar die gesetzlichen. Voraussetzung bleibt jedoch der Anspruch auf Kohärenz. Die AnarchistInnen bevorzugen die Organisierung in Netzwerken, die aus autonomen Gruppen bestehen, und ohne politische Richtung, jedoch mit WortführerInnen. Diese Organisationsform ist sowohl im politischen Feld als auch im gewerkschaftlichen Feld massgebend.

Die Sozialdemokraten

Für sie ist der Staat ein Apparat der Regulierung und der Organisierung der Gesellschaft. Dieser Apparat muss von der sozialistischen und der gewerkschaftlichen Bewegung genutzt werden, um eine soziale und kulturelle Wirtschaftspolitik zu führen. Diese soll in erster Linie im Interesse der Benachteiligten, aber daneben, der gesamten Bevölkerung, liegen. Sie wollen die öffentliche Kontrolle über die Produktionsmittel und den Tausch. Das Privateigentum, das vererbt wird, bleibt bestehen und es gibt eine Vermischung des Wirtschaftssystems (privater Sektor, öffentlicher Sektor). Die SozialdemokratInnen setzen sich für einen stetigen Anstieg des Lohnes und eine Verringerung der Lohnschere ein. Sie bestehen auf die Gesetzlichkeit ihrer Mittel, sind jedoch bereit, durch Gesetzesänderungen neue Mittel zu geben. Ausserhalb des Rechts und des Rechtsstaates, sprich innerhalb eines bestehenden demokratischen Staates,sind die SozialdemokratInnen völlig hilflos. Unter einer Diktatur sind sie gute Dissidenten, aber schlechte Widerstandskämpfer. Die SozialdemokratInnen haben eine Organisation, die völlig auf den demokratischen Staat ausgerichtet ist.

Die Marxisten-Leninisten

Für sie ist der Staat ein Instrument, durch das eine Klasse eine andere beherrscht. Im Kapitalismus ist er das Instrument der Diktatur der Bourgoisie. Die revolutionäre Bewegung, angeleitet von der Partei, muss den Staat in ihre Gewalt bringen und ihn völlig in Beschlag nehmen. Sie streben die Abschaffung des Privateigentums an. Die Produktionsmittel sollen an den Staat übergehen. Die KommunistInnen teilen theoretisch das Postulat gegen die Lohnarbeit der Libertären. Sie teilen auch die sozialdemokratische Forderung eines stetigen Anstiegs der Löhne und einer Verringerung der Lohnungleichheiten, aber über den Rechtsweg und nicht über Vereinbarungen. Was die Aktionsmittel betrifft, ist das was zählt, die Effizienz. Die Marxisten-Leninisten gehen davon aus, dass die Mittel, welche die revolutionäre Bewegung benutzt, niemals nur diejenigen sein können, welche der Kapitalismus verwendet. Es ist der Kapitalismus selbst, der seine GegnerInnen zwingt, radikale aber historisch nötige Methoden anzuwenden.

Den kapitalistischen Staat bestärkt

Die sozialistische und gewerkschaftliche Bewegung hat ihre Ursprünge vor langer Zeit. Er liegt so weit zurück, dass die Bewegung vergessen hat, woher sie gekommen ist. In der politischen Landschaft des Westens stützte sie sich auf einer kohärenten, sozialen Basis (der Arbeiterklasse) und einem alternativen sozialpolitischen Projekt. Das heisst einem Projekt, das eine fundamentale Veränderung der politischen und sozialen Realität zum Ziel hat und sich durch ein konflikthaltiges Verhältnis zu den politischen Institutionen auszeichne. Das heisst konkret, um die Staatsgewalt zu erobern oder zu brechen, auf alle Fälle ihr konsequent die Stirn zu bieten. Diese tragenden Elemente der sozialistischen und gewerkschaftlichen Bewegung sind ihr in der Schweiz und im restlichen Europa abhanden gekommen. Die soziale Basis hat sich aufgelöst in ein konsumgeiles, paranoides Kleinbürgerturm (Mittelklasse). Die am meisten benachteiligten ArbeiterInnen sind ausserhalb der Bewegung, das politische Projekt ist zerfallen. Die Strategie der gesellschaftlichen Veränderung hat sich reduziert auf die Partizipation in politischen und sozialen Institutionen. Die sozialistische und gewerkschaftliche Bewegung verstand sich ursprünglich als politischer Ausdruck der Arbeiterklasse gegen den Staat, gegen das Privateigentum und gegen die Lohnarbeit. In den letzten 150 Jahren hat sie den Staat jedoch gestärkt, das Privateigentum verbreitet, die Lohnarbeit verallgemeinert und die Arbeiterklasse, nicht aber das Proletariat, aufgelöst. Der Sozialismus und der Syndikalismus haben ihre Klasse so grundlegend verändert, dass sie diese einschränken und sich auf ihr abstützen. Ihre soziale Basis wurde geschwächt durch etwas, das auf eine Art als Lösegeld für den historischen Erfolg der Bewegung betrachtet werden kann: Die Verbesserung der Lebens- und Abeitsbedingungen der ArbeiterInnen wurde mit der Auflösung der Arbeiterklasse als Klasse an sich bezahlt. Durch die Eingliederung der sozialistischen Bewegung in die politischen Institutionen wurde diese Entwicklung noch verstärkt. Geboren von der Arbeiterklasse hat sie ihre öffentliche Funktion, die gegen den Staat gerichtet war, aufgegeben und sich im Staat selber eingerichtet.

Die Beteiligung der Linken an der Staatsgewalt in Westeuropa setzt eine Beteiligung auf allen Ebenen des politischen Entscheidungsprozesses und in allen Instanzen des Staatsapparats voraus. Mehr noch als blosse Beteiligung fügen sich die Partei und die Gewerkschaften in die Machtstrukturen ein. Es handelt sich um eine Integration der dominanten politischen Kultur und deren Verhaltensvorstellungen über die Arbeiterklasse. Sich mit dem Staat identifizierend, verwechseln sie die Veränderung der Gesellschaft mit dem Austausch der Personen in der Regierung. Sie haben das sozialistische Projekt auf den Etatismus reduziert. Die sozialistische und gewerkschaftliche Bewegung ist nicht mehr als eine revolutionäre Kraft in Erscheinung getreten, sondern als eine konservative Kraft. Sie hat die politischen und sozialen Institutionen, die sie verändern wollten, gestärkt. Es ist ihnen dabei nicht einmal gelungen, das Wiedererscheinen einer Massenarmut zu verhindern. Sie haben es nicht geschafft, dem Erstarken von rassistischen und faschistischen Verhaltensweisen und politischen Diskussionen etwas entgegen zu setzen. Oder etwas freundlicher ausgedrückt: Es fehlt die Rückkehr zum Ursprung und die Suche nach einer verlorenen Identität.

Das militante Engagement der Basis

Trotz des sichtlichen Zerfalls haben die Gewerkschaften heute noch notwendige Funktionen, die, so scheint es, keine andere Institution an ihrer Stelle wahrnimmt. Zu diesen Funktionen gehören mindestens die folgenden drei. Erstens die demokratische: Allen die, die arbeiten oder arbeiten wollen, eine Stimme in ihrem Arbeitsleben zu geben. Zweitens die wirtschaftliche: Zu einer gleichen Verteilung der Früchte des Wachstums beizutragen. Und drittens die soziale: Sich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einzusetzen, indem gegen den Ausschluss, die Gewalt, das soziale Chaos und die Armut gekämpft wird.

Um dies zu erreichen, müssen sich die Gewerkschaften auf die direkte Organisation der ArbeiterInnen stützen und nicht auf ihre Präsenz in sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen. Sie sollten auf der Einheit der ArbeiterInnen und deren Organisierung basieren. Dies in einer gemeinsamen Bewegung, welche die Trennungen zwischen Berufen, wirtschaftlichen Sektoren, Qualifizierungen und  Nationalitäten überwindet und nicht auf einem Mosaik von spezifischen Organisationen, die unter einem gemeinsamen Kürzel mehr oder weniger verbündet sind. Sie müssten auf die Organisierung der am stärksten ausgebeuteten und prekarisierten ArbeiterInnen gestützt sein und nicht in erster Linie wie heute auf die Organisierung der am besten geschützten ArbeiterInnen. Das Fundament der Gewerkschaften muss die Bereitschaft sein, kollektive Rechte für die ArbeiterInnen zu erkämpfen und nicht die Verhandlungen dieser Rechte, die nicht verhandelbar sind. Sie müssen auf der Überzeugung gründen, dem Staat die Stirn zu bieten und nicht das Friedensabkommen als Ausgangsbasis betrachten. Und schliesslich sollten die Gewerkschaften auf dem militanten Engagement ihrer Mitglieder und nicht auf dem professionellen Engagement ihrer Funktionäre aufgebaut sein.

Kämpfe in der Krise

Mit dem Schwerpunkt «Gewerkschaften – Arbeitskämpfe – Widerstand» versucht der vorwärts, die aktuellen Klassenauseinandersetzungen in der Schweiz und anderswo zu beleuchten. Man muss die stattfindenden Kämpfe in ihrem globalen Rahmen betrachten und die Entwicklung der Krise mitdenken. Nur so kann man verstehen, was ihre Perspektive aber auch ihre Beschränkungen sind.

«Auf lange Sicht sind wir alle tot», kommentierte John Maynard Keynes die Erkenntnis, dass sich der Markt höchstens auf lange Sicht selber regulieren würde. Wie recht er mit diesem lakonischen Kommentar haben sollte, erschliesst sich einem erst, wenn man die Konsequenzen der Krisen zu Ende denkt und eben nicht wie Keynes von einer staatlichen Regulierung tagträumt. Die tiefgreifende Krise, mit der wir seit einigen Jahren konfrontiert sind, kann nur dann zeitweilig überwunden werden, wenn riesige aufgeblähte Kapitalwerte vernichtet werden, grosse Unternehmen bankrott gehen und das allgemeine Lohnniveau abgesenkt wird. Einen Vorgeschmack darauf, was das für die ArbeiterInnen bedeuten würde, gibt etwa die Verdoppelung der Selbstmordrate in Griechenland oder die Explosion der Zahl der von Lebensmittelmarken Abhängigen in den USA. In Angst vor den sozialen Konsequenzen eines solchen Kapital-Vernichtungs-Prozesses versuchen die metropolitanen Staaten mit immensen Rettungsschirmen der Krise Herr zu werden. Allerdings mit dem ernüchternden Resultat, dass die Wirtschaft sich nicht nachhaltig erholt, aber die Staatschulden ins Astronomische anwachsen.

Je nach Tageslage beschwören KommentatorInnen das Ende der Krise oder warnen aber vor falschen politischen Schritten. Täglich muss mit neuen Einbrüchen gerechnet werden. Der Schuldenschnitt Griechenlands etwa lässt Gläubiger zurück, die bloss noch die Hälfte des Werts ihrer Staatspapiere in Händen halten. PolitikerInnen sind bemüht, diesen Schritt als absoluten Ausnahmefall zu verkaufen, weil sonst die ohnehin wackeligen Staatspapiere der PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien) ins Bodenlose stürzen würden.

Schwäche des Kapitals?

In der Schweiz verdrängt man erfolgreich, wie kurz man während der milliardenschweren UBS-Rettung vor einer Katastrophe stand. Und man beschönigt etwa einen kurzfristigen Rückgang der Arbeitslosenzahlen um 0,2 Prozent, ohne dem die zunehmende Kurzarbeit gegenüberzustellen. Zudem spricht das Rekordniveau von 1739 Firmenkonkursen im ersten Quartal 2012 eine deutliche Sprache. Die Schweiz steht mit einer Staatsschuld von etwa 33 Prozent des Bruttoinlandproduktes zwar noch verhältnismässig gut da und hat entsprechend noch einiges an Pulver zu verschiessen. Doch vor den genannten Fakten und der Tatsache, dass die Schweiz eben keine autarke Insel ist, erscheint das mediale Hochjubeln der wachsenden Schweizer Wirtschaft vor allem als Selbstvergewisserung, dass man schon irgendwie heil durch die Krise komme.

Man darf nun nicht den Fehler machen, die Verwertungsprobleme des Kapitals für seine Schwäche im Kampf mit den ArbeiterInnen zu halten. Genau in dem Moment, in dem die Nachfrage nach Arbeitskräften fällt, wird ihr Angebot durch Entlassungen vergrössert. Darum schwächen Krisen die Kampfkraft der ArbeiterInnen, die sich zudem häufig mit den Grenzen der Möglichkeiten des Kapitals für Zugeständnisse konfrontiert sehen.

Kämpfe am Abgrund

Vor diesem Hintergrund muss man die vergangenen Kämpfe in der Schweiz einschätzen. Aus Platzgründen kann hier nur ein Aspekt der Kämpfe der letzten Jahre beleuchtet werden: Der Kampf gegen Massenentlassungen und Betriebsschliessungen, wie wir sie in Zukunft wohl vermehrt beobachten werden. Als wegweisendes Beispiel steht der erfolgreiche Kampf der ArbeiterInnen des Cargo-Werkes in Bellinzona. Auch hier wusste man nicht im vornherein, ob die SBB es sich überhaupt leisten konnte, die defizitäre Werkstätte aufrechtzuerhalten. Doch mit einem entschlossenen und von der Belegschaft selber geleiteten Kampf konnten die ArbeiterInnen ihre Forderungen durchsetzen. Allerdings muss mitbedacht werden, dass die SBB als Staatsunternehmen grössere Spielräume hatte, als sie in der Privatwirtschaft üblich sind. Auch der Erfolg der Proteste bei Novartis in Nyon dürfte sich nicht unwesentlich daraus ergeben haben, dass der Staat Novartis massive Steuererleichterungen versprach.

Weit weniger rosig waren die Resultate der Proteste, die sich gegen Massenentlassungen und Betriebsschliessungen etwa bei der Kartonfabrik in Deisswil, der Papierfabrik in Biberist oder bei der Swissmetal in Dornach richteten. Hier legten die ArbeiterInnen – von wenigen selbstermächtigten Momenten abgesehen – ihre Geschicke in die Hände der Gewerkschaften und standen am Ende mit einem halbgaren Sozialplan da. Es ist eine wichtige Frage, ob diese Kämpfe eine reelle Erfolgsperspektive gehabt hätten, wenn sie selbständig und radikal geführt worden wären. Es lässt sich schlicht nicht sagen, welchen ökonomischen Horizont das Unternehmen oder auf einer höheren Ebene – aktuell etwa in Griechenland – der Staat noch hat. Häufig dürften die Spielräume tatsächlich verschwindend gering sein. Doch wenn man, wie das in der Vergangenheit leider häufig der Fall war, alleine auf die Gewerkschaften baut und diese bloss einen handzahmen Protest organisieren, dann gibt man auf, bevor man richtig zu kämpfen begonnen hat.

Man muss heute wohl einer unangenehmen Realität ins Auge blicken: In Zeiten der Krise gibt es innerhalb der Logik des Kapitals für viele Menschen keinen gangbaren Weg, der nicht massive Einschnitte in ihr Lebensniveau bedeuten würde. Und so hängen heute die Frage um das kärgliche Leben im Kapitalismus und die Frage nach einer ganz anderen Weise sich zu reproduzieren, eng zusammen. Häufig steht man faktisch wohl vor der Alternative, alles zu schlucken oder aber alles zu ändern.

Deutsche «Privatmiliz» gegen streikende Arbeiter in Belgien

Deutsches Unternehmen schickt Schläger über die Grenze nach Belgien. So geschehen Ende Februar im belgischen Sprimont beim deutschen Autozulieferer MEISTER-Benelux. Die belgische Arbeitsministerin De Coninck verurteilt das Vorgehen der deutschen Firma aufs Schärftste.

Im Auftrag der deutschen Firmenleitung des Autoteilherstellers Meister haben am Sonntag, 26. Februar zwei Dutzend vermummte Schläger die streikenden ArbeiterInnen eines Zweigwerks in Belgien überfallen. Die schwarz gekleideten und mit Gummiknüppeln, Baseballschlägern und Tränengasspray bewaffneten Mitarbeiter einer deutschen «Sicherheitsfirma» waren über die Grenze geschickt worden, um drei bereits mit Maschinen und Teilen beladene Lastwagen «in Sicherheit zu bringen». Die ArbeiterInnen halten das Werk in Sprimont bei Liege seit mehr als einer Woche besetzt, um gegen die Pläne des zur Poppe+Poothoff-Gruppe gehörenden Unternehmens zu protestieren, einen Teil der Produktion nach Tschechien zu verlegen und dafür zahlreiche Arbeitsplätze im belgischen Werk zu streichen.

Ermittlungen gegen «Privatmiliz»
Den am Sonntag überfallenen ArbeiterInnen gelang es, in kürzester Zeit nahezu hundert KollegInnen und FreundInnen zu mobilisieren und mit ihnen das Überfallkommando auf dem Firmengelände zu blockieren, bis die Polizei kam und die Identität der Täter feststellte. Sie wurden dann von den BeamtInnen bis zur deutschen Grenze eskortiert und abgeschoben. Die Staatsanwaltschaft von Liege hat am Montag ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Drei der überfallenen ArbeiterInnen haben ihrerseits Anzeige wegen Körperverletzung erstattet. Wie die belgische Innenministerin Joelle Milquet erklärte, haben die Mitarbeiter der deutschen Sicherheitsfirma gegen geltende belgische Gesetze über die amtliche Zulassung solcher Unternehmer verstossen und sie würden daher juristisch behandelt wie eine «Privatmiliz». Arbeitsministerin Monica De Coninck schätzt ein, dass «diese Methoden nicht hinnehmbar sind und aus einer längst vergangenen Zeit stammen».

Grosse Empörung in Belgien
Die Gewerkschaft, die energisch gegen den Überfall protestiert, kritisiert zugleich das laxe Verhalten der belgischen Polizei, die die Täter «nur zur Grenze begleitet und nicht vorläufig festgenommen und verhört» habe. Die belgischen Medien berichten seit Tagen ausführlich über diesen Überfall und geben die empörten Reaktionen vieler BelgierInnen wieder.
Durch ihre belgischen KollegInnen wurden auch deutsche GewerkschafterInnen auf den ungeheuerlichen Vorfall aufmerksam. So protestierte der erste Bevollmächtigte der IG Metall Bielefeld Harry Domnick in einem offenen Brief «aufs schärfste gegen das brutale Vorgehen von Schlägertrupps gegen streikende Gewerkschafter». Von der deutschen Firmenleitung fordert er, «sich bei den belgischen Gewerkschaftern in aller Form zu entschuldigen». Dagegen erklärte der Geschäftsführer der Gruppe Poppe+Poothoff, Rüdiger Faustmann, in einer Pressemitteilung lediglich, dass er «sehr bedauert, dass es zu diesem Konflikt gekommen ist».

SchweizerInnen – selbstlose Arbeitsbienen?

Die Abstimmung über die Volksinitiative «6 Wochen Freien für alle» hätte für alle Lohnabhängigen, die die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung stellen, Erleichterungen gebracht. Dennoch wurde die Initiative von den StimmbürgerInnen klar abgelehnt. Ein Kommentar zum Abstimmungskampf und seinem leider wenig überraschenden Ausgang.

«Die Schweizer, ein Volk von Vernünftigen», titelte der «Blick am Abend» zur Ablehnung der Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» triumphierend und bewies damit einmal mehr, dass die so hoch gepriesene Objektivität der bürgerlichen Medien eben meist bloss die Objektivität der Herrschenden ist. Doch man kann sich nicht ganz der Einsicht verwehren, dass die StimmbürgerInnen vom Standpunkt der Nationalökonomie in aller Regel tatsächlich vernünftig handeln. Schon in der Vergangenheit zeigten die Stimmberechtigten der Schweiz, was sie von Erleichterungen im Arbeitsalltag halten: 2002 lehnten sie die Initiative für eine 36-Stunden-Woche mit wuchtigen 74 Prozent ab. 2008 schickten sie einen Vorstoss für die Frühpensionierung mit über 58 Prozent bachab. Und nun stimmten 66,5 Prozent dafür, dass die ArbeiterInnen nicht sechs Wochen Ferien zu gute haben sollen. Vor diesem Hintergrund ist das Abstimmungsresultat – auch in dieser Höhe – nicht wirklich erstaunlich.

Der nationale Standort

Die Analyse des Abstimmungsresultats durch PolitologInnen ist relativ einfach zusammenzufassen: Eine millionenschwere Kampagne der Wirtschaftsverbände, wirtschaftliche Unsicherheit und ein geschlossener bürgerlicher Block standen gegen die InitiantInnen. Das lässt man sich in den Medien nun von ExpertInnen lang und breit erklären. Natürlich lässt es sich nicht ganz von der Hand weisen, dass diese Faktoren eine gewichtige Rolle gespielt haben. Doch mit dieser Analyse kratzt man bloss an der Oberfläche der Erscheinungen. Auch der Verweis von GenossInnen, dass bloss ein kleiner Teil der arbeitenden Bevölkerung abgestimmt habe und alle ArbeitsmigrantInnen ohnehin von der Abstimmung ausgeschlossen seien, stimmt zwar, aber sie vermag das Wahlresultat in seiner tieferen Dimension nicht zu erklären.

Warum kann eine so banale Kampagne, wie sie von den VorlagengegnerInnen initiiert worden war, überhaupt derart verfangen? Warum stimmen ArbeiterInnen anscheinend gegen ihre unmittelbaren Interessen? Die Kampagne der Wirtschaftsverbände mit dem so einfachen wie manipulativen Inhalt «Mehr Ferien gleich weniger Arbeitsplätze» setzte auf Denkkategorien, die sich ein guter Teil der abstimmenden Schweizer Bevölkerung längst zu eigen gemacht hat. Vielfach fragt man nicht mehr nach dem eigenen unmittelbaren Interesse, sondern betrachtet die Welt bereits durch den Filter des nationalen Standorts. Was ist gut für die Schweiz? Was bringt «uns» einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den nationalen Konkurrenten? Auch die BefürworterInnen der Initiative liessen sich auf dieses altbekannte Spiel ein: Sechs Wochen Ferien seien für den Wirtschaftsstandort gut und mit ausgeruhten und erholten Arbeitskräften könne man besser wirtschaften.

Es ist für die Initiative und für die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die sich objektiv an der Klassengrenze abspielt bereits fatal, wenn man die nationale Kategorie über die der Klasse stellt. Dies spielte im Abstimmungskampfgetöse keine Rolle. Und es war für die Kampagne der InitiantInnen auch nicht relevant, dass es um die Verteilung des Reichtums ging. Darum nämlich, ob die ArbeiterInnen für weniger Arbeit gleichviel des von ihnen produzierten Mehrwerts erhalten sollten. Das ist in der aktuellen Abstimmung wie meist schlicht nicht thematisiert worden. Stattdessen stritt man sich darum, wer denn nun über alle Klassengräben hinweg die Interessen des nationalen Standortes am besten vertreten würde. Auf der einen Seite die InitiantInnen, die mit ausgeruhten ArbeiterInnen argumentierten, auf der anderen Seite die GegnerInnen, die die Wirtschaft durch die zusätzlichen Ferien in Gefahr sah.

Probleme des Klassenkampfs

Was in dieser Abstimmung auf der formell-demokratischen Ebene seinen Ausdruck fand, trifft man auch in der Welt der alltäglichen Arbeitskämpfe an. Streikende und protestierende ArbeiterInnen können «ihr» Unternehmen nicht kaputtstreiken, weil sie damit ihre eigene Lebensgrundlage mitzerstören. Die Reproduktion der Proletarisierten ist in dieser Welt an die Reproduktion des Kapitals gekettet. Dies ist uns an dieser Abstimmung auf der nationalen Ebene begegnet: Die Reproduktionsbedingungen der ArbeiterInnen hängt vom Wohlergehen des nationalen Wirtschaftsstandorts ab. Man darf das nicht falsch verstehen: Deutschland hat als momentaner Krisengewinner gerade vorexerziert, wie ein prima funktionierender Wirtschaftsstandort dennoch Verarmungsprogramme gegen seine ArbeiterInnen durchsetzt. Aber umgekehrt ist es eben so, dass eine kriselnde Wirtschaft ihre Probleme an die Proletarisierten weiter gibt. Und so hat die eigentlich verkehrte Identifikation mit dem nationalen Wirtschaftsstandort tatsächlich sowas wie einen rationalen Kern.

Diesen Kern kann man nicht vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft – und darauf stellen sich im Wahl- und Abstimmungskampf praktisch alle – nicht in Frage stellen. Bloss eine Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist, kann solche Basiskategorien in Frage stellen. Allerdings bleibt die Problematik, dass die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen an das Kapital gebunden sind, noch bei aller Kritik bestehen. Abhilfe würde hier lediglich eine reelle praktische Perspektive der Überwindung bieten, wenn die Proletarisierten in Kämpfen die Reproduktion selber und gegen das Kapital zu regeln beginnen.

Wie weiter?

Für eine nächste Abstimmung, die die gesamte Klasse der ArbeiterInnen betrifft, müsste man anerkennen, dass die Mobilisierung gegen objektive Widerstände in Kopf und Herz der grossen Masse der Bevölkerung betrieben werden müsste. Es ist für eine Linke, die grundsätzlich mit dem Kapitalismus brechen will von elementarer Bedeutung, dass die Idee der Nation und des Wirtschaftsstandortes angegriffen und durch die Klassenfrage ersetzt wird. Und so müsste man, wenn man denn auf der Ebene von Abstimmungen intervenieren will, in eine andere Richtung argumentieren: Die Initiative war eine Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen jenen, die den Mehrwert produzieren und jenen die ihn sich aneignen. Die Initiative war direkt an die Klassenfrage geknüpft und diese Frage lässt sich konsequent vertreten und zumindest in der Krise mit nationalen Kategorien nicht vereinbaren. über die Volksinitiative «6 Wochen Freien für alle» hätte für alle Lohnabhängigen, die die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung stellen, Erleichterungen gebracht. Dennoch wurde die Initiative von den StimmbürgerInnen klar abgelehnt. Ein Kommentar zum Abstimmungskampf und seinem leider wenig überraschenden Ausgang.

«Die Schweizer, ein Volk von Vernünftigen», titelte der «Blick am Abend» zur Ablehnung der Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» triumphierend und bewies damit einmal mehr, dass die so hoch gepriesene Objektivität der bürgerlichen Medien eben meist bloss die Objektivität der Herrschenden ist. Doch man kann sich nicht ganz der Einsicht verwehren, dass die StimmbürgerInnen vom Standpunkt der Nationalökonomie in aller Regel tatsächlich vernünftig handeln. Schon in der Vergangenheit zeigten die Stimmberechtigten der Schweiz, was sie von Erleichterungen im Arbeitsalltag halten: 2002 lehnten sie die Initiative für eine 36-Stunden-Woche mit wuchtigen 74 Prozent ab. 2008 schickten sie einen Vorstoss für die Frühpensionierung mit über 58 Prozent bachab. Und nun stimmten 66,5 Prozent dafür, dass die ArbeiterInnen nicht sechs Wochen Ferien zu gute haben sollen. Vor diesem Hintergrund ist das Abstimmungsresultat – auch in dieser Höhe – nicht wirklich erstaunlich. Der nationale Standort Die Analyse des Abstimmungsresultats durch PolitologInnen ist relativ einfach zusammenzufassen: Eine millionenschwere Kampagne der Wirtschaftsverbände, wirtschaftliche Unsicherheit und ein geschlossener bürgerlicher Block standen gegen die InitiantInnen. Das lässt man sich in den Medien nun von ExpertInnen lang und breit erklären. Natürlich lässt es sich nicht ganz von der Hand weisen, dass diese Faktoren eine gewichtige Rolle gespielt haben. Doch mit dieser Analyse kratzt man bloss an der Oberfläche der Erscheinungen. Auch der Verweis von GenossInnen, dass bloss ein kleiner Teil der arbeitenden Bevölkerung abgestimmt habe und alle ArbeitsmigrantInnen ohnehin von der Abstimmung ausgeschlossen seien, stimmt zwar, aber sie vermag das Wahlresultat in seiner tieferen Dimension nicht zu erklären. Warum kann eine so banale Kampagne, wie sie von den VorlagengegnerInnen initiiert worden war, überhaupt derart verfangen? Warum stimmen ArbeiterInnen anscheinend gegen ihre unmittelbaren Interessen? Die Kampagne der Wirtschaftsverbände mit dem so einfachen wie manipulativen Inhalt «Mehr Ferien gleich weniger Arbeitsplätze» setzte auf Denkkategorien, die sich ein guter Teil der abstimmenden Schweizer Bevölkerung längst zu eigen gemacht hat. Vielfach fragt man nicht mehr nach dem eigenen unmittelbaren Interesse, sondern betrachtet die Welt bereits durch den Filter des nationalen Standorts. Was ist gut für die Schweiz? Was bringt «uns» einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den nationalen Konkurrenten? Auch die BefürworterInnen der Initiative liessen sich auf dieses altbekannte Spiel ein: Sechs Wochen Ferien seien für den Wirtschaftsstandort gut und mit ausgeruhten und erholten Arbeitskräften könne man besser wirtschaften. Es ist für die Initiative und für die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die sich objektiv an der Klassengrenze abspielt bereits fatal, wenn man die nationale Kategorie über die der Klasse stellt. Dies spielte im Abstimmungskampfgetöse keine Rolle. Und es war für die Kampagne der InitiantInnen auch nicht relevant, dass es um die Verteilung des Reichtums ging. Darum nämlich, ob die ArbeiterInnen für weniger Arbeit gleichviel des von ihnen produzierten Mehrwerts erhalten sollten. Das ist in der aktuellen Abstimmung wie meist schlicht nicht thematisiert worden. Stattdessen stritt man sich darum, wer denn nun über alle Klassengräben hinweg die Interessen des nationalen Standortes am besten vertreten würde. Auf der einen Seite die InitiantInnen, die mit ausgeruhten ArbeiterInnen argumentierten, auf der anderen Seite die GegnerInnen, die die Wirtschaft durch die zusätzlichen Ferien in Gefahr sah. Probleme des Klassenkampfs Was in dieser Abstimmung auf der formell-demokratischen Ebene seinen Ausdruck fand, trifft man auch in der Welt der alltäglichen Arbeitskämpfe an. Streikende und protestierende ArbeiterInnen können «ihr» Unternehmen nicht kaputtstreiken, weil sie damit ihre eigene Lebensgrundlage mitzerstören. Die Reproduktion der Proletarisierten ist in dieser Welt an die Reproduktion des Kapitals gekettet. Dies ist uns an dieser Abstimmung auf der nationalen Ebene begegnet: Die Reproduktionsbedingungen der ArbeiterInnen hängt vom Wohlergehen des nationalen Wirtschaftsstandorts ab. Man darf das nicht falsch verstehen: Deutschland hat als momentaner Krisengewinner gerade vorexerziert, wie ein prima funktionierender Wirtschaftsstandort dennoch Verarmungsprogramme gegen seine ArbeiterInnen durchsetzt. Aber umgekehrt ist es eben so, dass eine kriselnde Wirtschaft ihre Probleme an die Proletarisierten weiter gibt. Und so hat die eigentlich verkehrte Identifikation mit dem nationalen Wirtschaftsstandort tatsächlich sowas wie einen rationalen Kern. Diesen Kern kann man nicht vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft – und darauf stellen sich im Wahl- und Abstimmungskampf praktisch alle – nicht in Frage stellen. Bloss eine Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist, kann solche Basiskategorien in Frage stellen. Allerdings bleibt die Problematik, dass die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen an das Kapital gebunden sind, noch bei aller Kritik bestehen. Abhilfe würde hier lediglich eine reelle praktische Perspektive der Überwindung bieten, wenn die Proletarisierten in Kämpfen die Reproduktion selber und gegen das Kapital zu regeln beginnen. Wie weiter? Für eine nächste Abstimmung, die die gesamte Klasse der ArbeiterInnen betrifft, müsste man anerkennen, dass die Mobilisierung gegen objektive Widerstände in Kopf und Herz der grossen Masse der Bevölkerung betrieben werden müsste. Es ist für eine Linke, die grundsätzlich mit dem Kapitalismus brechen will von elementarer Bedeutung, dass die Idee der Nation und des Wirtschaftsstandortes angegriffen und durch die Klassenfrage ersetzt wird. Und so müsste man, wenn man denn auf der Ebene von Abstimmungen intervenieren will, in eine andere Richtung argumentieren: Die Initiative war eine Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen jenen, die den Mehrwert produzieren und jenen die ihn sich aneignen. Die Initiative war direkt an die Klassenfrage geknüpft und diese Frage lässt sich konsequent vertreten und zumindest in der Krise mit nationalen Kategorien nicht vereinbaren.>Die über die Volksinitiative «6 Wochen Freien für alle» hätte für alle Lohnabhängigen, die die Mehrheitder Schweizer Bevölkerung stellen, Erleichterungen gebracht. Dennoch wurde die Initiative von den StimmbürgerInnen klar abgelehnt. Ein Kommentar zum Abstimmungskampf und seinem leider wenig überraschenden Ausgang.

«Die Schweizer, ein Volk von Vernünftigen», titelte der «Blick am Abend» zur Ablehnung der Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» triumphierend und bewies damit einmal mehr, dass die so hoch gepriesene Objektivität der bürgerlichen Medien eben meist bloss die Objektivität der Herrschenden ist. Doch man kann sich nicht ganz der Einsicht verwehren, dass die StimmbürgerInnen vom Standpunkt der Nationalökonomie in aller Regel tatsächlich vernünftig handeln. Schon in der Vergangenheit zeigten die Stimmberechtigten der Schweiz, was sie von Erleichterungen im Arbeitsalltag halten: 2002 lehnten sie die Initiative für eine 36-Stunden-Woche mit wuchtigen 74 Prozent ab. 2008 schickten sie einen Vorstoss für die Frühpensionierung mit über 58 Prozent bachab. Und nun stimmten 66,5 Prozent dafür, dass die ArbeiterInnen nicht sechs Wochen Ferien zu gute haben sollen. Vor diesem Hintergrund ist das Abstimmungsresultat – auch in dieser Höhe – nicht wirklich erstaunlich.

Der nationale Standort

Die Analyse des Abstimmungsresultats durch PolitologInnen ist relativ einfach zusammenzufassen: Eine millionenschwere Kampagne der Wirtschaftsverbände, wirtschaftliche Unsicherheit und ein geschlossener bürgerlicher Block standen gegen die InitiantInnen. Das lässt man sich in den Medien nun von ExpertInnen lang und breit erklären. Natürlich lässt es sich nicht ganz von der Hand weisen, dass diese Faktoren eine gewichtige Rolle gespielt haben. Doch mit dieser Analyse kratzt man bloss an der Oberfläche der Erscheinungen. Auch der Verweis von GenossInnen, dass bloss ein kleiner Teil der arbeitenden Bevölkerung abgestimmt habe und alle ArbeitsmigrantInnen ohnehin von der Abstimmung ausgeschlossen seien, stimmt zwar, aber sie vermag das Wahlresultat in seiner tieferen Dimension nicht zu erklären.

Warum kann eine so banale Kampagne, wie sie von den VorlagengegnerInnen initiiert worden war, überhaupt derart verfangen? Warum stimmen ArbeiterInnen anscheinend gegen ihre unmittelbaren Interessen? Die Kampagne der Wirtschaftsverbände mit dem so einfachen wie manipulativen Inhalt «Mehr Ferien gleich weniger Arbeitsplätze» setzte auf Denkkategorien, die sich ein guter Teil der abstimmenden Schweizer Bevölkerung längst zu eigen gemacht hat. Vielfach fragt man nicht mehr nach dem eigenen unmittelbaren Interesse, sondern betrachtet die Welt bereits durch den Filter des nationalen Standorts. Was ist gut für die Schweiz? Was bringt «uns» einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den nationalen Konkurrenten? Auch die BefürworterInnen der Initiative liessen sich auf dieses altbekannte Spiel ein: Sechs Wochen Ferien seien für den Wirtschaftsstandort gut und mit ausgeruhten und erholten Arbeitskräften könne man besser wirtschaften.

Es ist für die Initiative und für die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die sich objektiv an der Klassengrenze abspielt bereits fatal, wenn man die nationale Kategorie über die der Klasse stellt. Dies spielte im Abstimmungskampfgetöse keine Rolle. Und es war für die Kampagne der InitiantInnen auch nicht relevant, dass es um die Verteilung des Reichtums ging. Darum nämlich, ob die ArbeiterInnen für weniger Arbeit gleichviel des von ihnen produzierten Mehrwerts erhalten sollten. Das ist in der aktuellen Abstimmung wie meist schlicht nicht thematisiert worden. Stattdessen stritt man sich darum, wer denn nun über alle Klassengräben hinweg die Interessen des nationalen Standortes am besten vertreten würde. Auf der einen Seite die InitiantInnen, die mit ausgeruhten ArbeiterInnen argumentierten, auf der anderen Seite die GegnerInnen, die die Wirtschaft durch die zusätzlichen Ferien in Gefahr sah.

Probleme des Klassenkampfs

Was in dieser Abstimmung auf der formell-demokratischen Ebene seinen Ausdruck fand, trifft man auch in der Welt der alltäglichen Arbeitskämpfe an. Streikende und protestierende ArbeiterInnen können «ihr» Unternehmen nicht kaputtstreiken, weil sie damit ihre eigene Lebensgrundlage mitzerstören. Die Reproduktion der Proletarisierten ist in dieser Welt an die Reproduktion des Kapitals gekettet. Dies ist uns an dieser Abstimmung auf der nationalen Ebene begegnet: Die Reproduktionsbedingungen der ArbeiterInnen hängt vom Wohlergehen des nationalen Wirtschaftsstandorts ab. Man darf das nicht falsch verstehen: Deutschland hat als momentaner Krisengewinner gerade vorexerziert, wie ein prima funktionierender Wirtschaftsstandort dennoch Verarmungsprogramme gegen seine ArbeiterInnen durchsetzt. Aber umgekehrt ist es eben so, dass eine kriselnde Wirtschaft ihre Probleme an die Proletarisierten weiter gibt. Und so hat die eigentlich verkehrte Identifikation mit dem nationalen Wirtschaftsstandort tatsächlich sowas wie einen rationalen Kern.

Diesen Kern kann man nicht vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft – und darauf stellen sich im Wahl- und Abstimmungskampf praktisch alle – nicht in Frage stellen. Bloss eine Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist, kann solche Basiskategorien in Frage stellen. Allerdings bleibt die Problematik, dass die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen an das Kapital gebunden sind, noch bei aller Kritik bestehen. Abhilfe würde hier lediglich eine reelle praktische Perspektive der Überwindung bieten, wenn die Proletarisierten in Kämpfen die Reproduktion selber und gegen das Kapital zu regeln beginnen.

Wie weiter?

Für eine nächste Abstimmung, die die gesamte Klasse der ArbeiterInnen betrifft, müsste man anerkennen, dass die Mobilisierung gegen objektive Widerstände in Kopf und Herz der grossen Masse der Bevölkerung betrieben werden müsste. Es ist für eine Linke, die grundsätzlich mit dem Kapitalismus brechen will von elementarer Bedeutung, dass die Idee der Nation und des Wirtschaftsstandortes angegriffen und durch die Klassenfrage ersetzt wird. Und so müsste man, wenn man denn auf der Ebene von Abstimmungen intervenieren will, in eine andere Richtung argumentieren: Die Initiative war eine Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen jenen, die den Mehrwert produzieren und jenen die ihn sich aneignen. Die Initiative war direkt an die Klassenfrage geknüpft und diese Frage lässt sich konsequent vertreten und zumindest in der Krise mit nationalen Kategorien nicht vereinbaren.

Roter Abend

Täglich füttern uns die Medienkonzerne mit Banalitäten, Events, Idolen und Skandalgeschichten. Doch nicht genug, dass sie damit von den wirklichen Problemen und den Ursachen des offensichtlichen Niedergangs der kapitalistischen Gesellschaft ablenken: Klaus von Raussendorf Publizist und Landesvorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes (NRW) zeigt auf, dass sie Begriffe der Aufklärung, der ArbeiterInnen- und Friedensbewegung aufnehmen, ihres Sinnes berauben und mit verdrehter Bedeutung als Waffe zur Unterwerfung der Ausgebeuteten und Unterdrückten verwenden. So können dann im Namen der Menschenrechte, des Internationalismus und des Völkerrechtes ganze Länder zerbombt und Tausende von Menschen vernichtet werden. Der Inhalt dieser Namen,d ieser Begriffe muss wieder zurückerobert werden. Es ist bewusst zu machen, dass die Kultur der Herrschenden nicht die Kultur der Beherrschten ist und sein kann.
Donnerstag, 15. März, 19:30 uhr
Wallstrasse 10, Basel

Nichts ändert sich

Kürzlich habe ich in der Migros zwei Bananen erworben. Marke Chiquita. Ein solcher Kauf löste bei mir früher nie ein Frösteln aus. Diesmal ist es anders. Während ich darauf wartete, bis die Preisetikette ausgedruckt wurde – man muss heute ja alles selbst machen, erinnerte ich mich, was ich über die Bananenmultis gelesen habe. Dass Chiquita, Dole und Del Monte in England vor wenigen Jahren auf Verkäufe von 775 Millionen Franken nur 225 000 Franken Steuern bezahlt haben. Notabene alle drei zusammen. Abzüglich der Kosten für die Bananenproduktion und dem Transport bleiben den Unternehmen geschätzte 50 Prozent Gewinn auf die knappe Milliarde Umsatz. Für die Eigentümerfamilien und die AktionärInnen ein stattlicher Gewinn. Der Steuerbetrag von 225 000 Franken macht nicht einmal 1 Prozent aus. Er ist exakt 0.033 Prozent. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Ein Batzen in der Portokasse irgendeiner Steueroase, wo die Firmen ihre Steuerdomizile haben. Ein lächerlicher Steuerbetrag für jeden Normalbürger, der mit einem Lohnausweis versteuern muss. Bei Chiquita, Dole und Del Monte wären dies in der Schweiz, bei einem Steuerfuss von 22 Prozent, 160 Millionen. In Zahlen ausgeschrieben 160 000 000. Ohne Steueroasen, im Steuerjargon Off-Shore, müssten die Bananenmultis obigen Betrag an die Gemeinschaft abliefern. Das tun sie nicht, weil ihnen die Gesetze das erlauben. Und die anderen Multis auf dieser Welt tun es auch nicht. So gehen die Produktionsländer ebenso leer aus, wie die Länder, wo man mit hohen Gewinnen verkauft. Abgeliefert wird der Steuerobolus dort (mehr ist es nicht), wo es am günstigsten ist. Auf Jersey, Zypern, Gibraltar, Liechtenstein, in England, in einem steuergünstigen Bundesstaat der USA, in Panama, auf den Bahamas oder in Zug. Ich starre auf die Bananen, als wären sie das Übel dieser Welt persönlich. Ich seufze, denn ich kann es ja nicht ändern. Zudem profitieren wir hier in der Schweiz nicht unwesentlich. Wir haben sichere und gut bezahlte Jobs bei hunderten von Banken, AnwältInnen und Treuhandbüros. Selbst die kantonale Verwaltungen können sich ein Stück davon abschneiden. Über Bewilligungen, Firmeneinträge, Nachprüfungen und Gerichtsstreitigkeiten. Alle profitieren von dem weltweit herumwandernden Geld. Als die Bananen über den Scanner gezogen werden, reche ich aus, dass von den Franken 1.10 mindestens 20 Rappen nach Costa Rica wandern müssten. Ich höre schon die Entrüstung. Immerhin würden sie Arbeitsplätze bereitstellen! Sichere und gute Arbeitsplätze, sonst würden die Menschen verhungern. Dass diese Jobs nicht weit davon entfernt sind, sagen sie nicht. Die gern zitierte Rechtfertigung der Multis dient nur dazu, das tief im Unterbewusstsein schlummernde, schlechte Gewissen zu kaschieren. Am Abend bei einem Glas Wein meint Andrea philosophisch, ich müsste die Ungerechtigkeit auf dieser Welt nicht zu nahe an mich heranlassen. Wer das tut, würde nur krank. Sie hat Recht und rasch vergesse ich, dass nahezu alle Weltfirmen ihre Milliardengewinne an der Allgemeinschaft vorbeizirkeln. Vorbei an der Dritten Welt und auch vorbei an der ersten Welt, die wegen dieser Praktiken mit mehr und mehr sozialen Konflikten konfrontiert ist. Das alles ist das Resultat der freien Marktwirtschaft. Das Wort frei ist so täuschend wie nichts anderes. Frei bedeutet, dass derjenige, der das Geld hat, frei und ungestört einen anderen ausrauben kann. Daran ändert auch das ganze Gezeter gegen Steueroasen nichts. Dass dem Herumschieben von Geld nichts in den Weg gelegt wird, dafür sorgt die OECD. Sie hat kürzlich den Willen zur freien Marktwirtschaft bekräftigt. Somit können Multis und reiche Privatpersonen ihre astronomischen Reichtümer auch weiterhin deponieren, wo es nahezu gänzlich unangetastet bleibt. Gewisse Länder tragen an der Steuerflucht sicher auch eine Mitschuld. Unverhältnismässige Belastungen werden nirgendwo goutiert. Die obige beschriebene Stuervermeidung gleicht einem vollständigen Steuerfreipass, und je länger so etwas dauert auf dieser Welt, desto tiefer wird der Keil zwischen die Gesellschaft getrieben, der zwischen reich und arm entscheidet. Auf Zeit zerstört es jede demokratische Form.

alberT Schaffner

 

Kunstprovokationen in Vergangenheit und Gegenwart

hans peter gansner. Kunst soll seit der Antike gefallen und bilden – so dachte man zumindest bis ins 19. Jahrhundert. Seither ist ein Wandel eingetreten: Kunst provoziert, wenn neue Stile entstehen. Heiner Müller sagte über die Politik: «Das erste Gefühl beim Auftritt des Neuen ist der Schrecken». Dies gilt heute auch bei einem grossen Teil der innovativen Kunstproduktion.

Was wirklich Kunst sei, war schon seit eh und je ein Zankapfel – der KritikerInnen. Die KünstlerInnen selber wussten es aber immer schon: Van Gogh, der von der Kunstakademie abgelehnt wurde mit der Begründung, er könne ja nicht einmal einen Stuhl in der richtigen Perspektive malen (heute ist das berühmte Gemälde seines Zimmerchens in Arles mit dem Strohstuhl in der Ecke Millionen wert), über Marcel Duchamps Flaschentrockner und Andy Warhols Suppendosenetiketten bestand bis heute ein wesentliches Merkmal der Avantgarde im gesellschaftlichen Skandal. In Basel war das Brancusi-Fudi in den Siebzigerjahren das Fasnachtsthema, und der Tinguely-Brunnen, das Prunkstück neben dem Restaurant Kunsthaus, heute der beliebteste Aufenthaltsort der Basler an besonders heissen Tagen, wurde damals von der NA (Nationale Aktion) als ein Haufen Schrott bezeichnet und in einer Nacht- und Nebel-Aktion verunstaltet.

Vaclav Pozarek oder die Liebe zur Geometrie

Das Bündner Kunstmuseum in Chur avancierte in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem Tempel der Gegenwartskunst. Jetzt kann das Publikum sich von dem in der Nähe von Bern lebenden tschechischen Künstler Vaclav Pozarek durch das Labyrinth seiner «Library of Sculptures» führen lassen. Graubünden war immer schon ein Nährboden für moderne und avantgardistische KünstlerInnen. Das Klima und das antifaschistische Exil spielten dabei eine wichtige Rolle. Ernst Ludwig Kirchner musste sich von seinem Lungenleiden erholen, war aber arm wie eine Kirchenmaus. Als er einmal dem Pöstler von Davos ein Bild schenken wollte, weil er nicht genug Geld für einen ungenügend frankierten Brief hatte, soll dieser dankend abgelehnt haben: Er glaube nicht, dass seine Frau Freude hätte, wenn er mit einem solchen Schwarten nach Hause komme. Das Bühnenbild, das Kirchner gratis für eine Dorftheatertruppe malte, wurde nach dem Krieg in Stücke geschnitten und in die USA verschifft, wo New Yorker Kunsthändler damit Millionen verdienten. Unsere «Eigenen» dagegen waren oft zur Emigration gezwungen, wie Alberto Giacometti (Paris) oder heute Not Vital aus dem idyllischen Engadiner Dörfchen Sent (USA), ein Vorkämpfer der «Land Art», oder Gaspare O. Melcher, der als Bürger von Tschlin in Chur geboren wurde und auch hier aufgewachsen ist, jedoch schon lange in Italien lebt und arbeitet. Ich kann mich erinnern, wie ich Caspare Melcher damals, anfangs Siebzigerjahre, in seinem Atelier in der Herengracht im Zentrum von Amsterdam besuchte, wo er seine Endlosvarianten auf wandgrosse Leinwände malte: ein unvergessliches Erlebnis (Walter Lietha hat die Dokumentation im Calven Verlag, Chur, herausgegeben). Auch der aus Chur stammende international bekannte Foto- und Installationskünstler Hans Danuser ist inzwischen in New York ebenso heimisch geworden wie in Zürich und im Bergell. Er geniesst im Bündner Kunstmuseum Chur grosszügiges Gastrecht. Was Not Vital betrifft: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mich die damalige Bündner Zeitung anfragte, ob ich Vitals «Not Vital Action» besprechen könne: die Kulturredaktion wisse nicht, ob das armdicke Hanfseil, das sich da aus der Galerie in der Kirchgasse um die Martinskirche schlängle, um sich dann in der Altstadt zu verlieren, Kunst, harmloser Unfug oder Scharlatanerie sei.

Labyrinth der Gegenwartskunst…

Im gleichen Spannungsfeld spielen sich die «Werke» Vaclav Pozareks ab, bestehen sie doch «eigentlich» nur aus einem riesigen Sammelsurium von jahrelang geduldig gesammelten fotografischen Reprografien, collagiert, montiert oder einfach «à l’état brut», die dem Betrachter Rätsel über Rätsel aufgeben, aber in einen lustvollen Rausch von Impressionen, Reminiszenzen und Reflexionen versetzen. Nur dass man heutzutage nicht mehr, wie zu Zeiten des radikal engagierten Zeichners und Karikaturisten Martin Disteli, sagen kann: «Und fluchend steht das Volk vor seinen Bildern», sondern «das Volk», wenn es überhaupt seine Schritte in eine Ausstellung lenkt, steht meistens ratlos und kopfschüttelnd da. Ausser wenn ein Künstler wie Thomas Hirschhorn im «Centre Culturel Suisse» in Paris den Darsteller einer seiner Kunst-Inszenierungen in der Pose eines Hundes gegen ein Portrait urinieren lässt, das einem bekannten SVP-Politiker sehr ähnlich sieht. Item, wegen solchen Interpretationsproblemen ist es auch sehr wichtig, einen guten Katalog als Faden der Ariadne durch das faszinierende Labyrinth der Gegenwartskunst zu legen. Und dies haben Stephan Kunz und Max Wechsler mit ihren erklärenden Beiträgen zu Pozareks «Library of Sculptures» glänzend hingekriegt. Ein phantastischer Fotoband mit Abbildungen von Büsten bekannter und unbekannter Persönlichkeiten und Personen aus den verschiedensten Epochen und Kulturen ergänzt die Ausstellung «Library of Sculptures» (Verlag Scheidegger & Spiess), die man nicht verpassen sollte, wenn man im Frühling in die Ferien nach Graubünden fährt. Schon der idyllische Ort, eine Jugendstilvilla in einem sagenumwobenen Park mitten im ringsum brandenden Verkehrschaos der Bündner Metropole, ist es wert, bei der Durchreise einen Zug auszulassen und erst den übernächsten zu nehmen. (Bündner Kunstmuseum Chur, Postplatz Chur, bis zum 6. Mai 2012)

Kienholz: Installationen des Schreckens

Ich kann mich an den Schrecken erinnern, den ich anfangs Siebzigerjahre empfand, als ich im Kunst-haus Zürich zum ersten Mal zwischen den Grauen erregenden Installationen des amerikanischen Künstler-Ehepaars Kienholz wandelte. Der ganze Horror der Epoche mit Antikommunismus, Vietnamkrieg, Sexismus und Polizeibrutalität gegen Minderheiten war da in einer Art politisch-sozialer Geisterbahn mit lebensgrossen Statuen in Intérieurs zu sehen, die an Realismus nicht zu überbieten waren. Diese Ausstellung hat mich damals stärker politisiert als alle linken Reden und Bücher zusammen, die ich gehört und gelesen hatte… Nun kommt das Werk des Francisco Goyas des 20. Jahrhunderts nach Basel: Harte Bandagen empfehlen sich! («Kienholz: Die Zeichen der Zeit» ist eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle in Frankfurt, wo sie bis Ende Januar zu sehen war, in Kooperation mit dem Museum Tinguely. In Basel dauert sie bis zum 13. Mai.)

Der Genfer Provokateur

Wolfgang-Adam Töpffer (1766-1847) war der Vater des viel bekannteren Rodolphe Töpffer, Verfasser so bekannter Bücher wie den «Voyages en zigzag» und der «Nouvelles Genevoises» (alle kürzlich im Slatkine Verlag, Genf, neu publiziert), die er auch selbst mit Zeichnungen illustrierte, die in vielem an Wilhelm Busch erinnern. Rodolphe Töpffer, der auch ein Pensionat gründete, das aber nichts mit der heutigen «Ecole Töpffer» im Quartier de Champel in Genf zu tun hat, endete als fremdenfeindlicher, reaktionärer Eiferer. Auf ihn berief sich in den Dreissigerjahren eine rechtsradikale, Mussolini zu dienende Künstlergruppe unter Führung des antisemitischen Karikaturisten Noël Fontanet, die sich als «Les petits-fils de Töpffer» bezeichnete. Sie fiel auf durch spektakuläre kunstpolitische Happeninigs, die durchaus im heutigen Hirschhorn-Stil, aber politisch diametral gegenteilig verortet, abliefen und in der Genfer Arbeiterklasse für Empörung und Verwirrung sorgten, da die «Actions» den populären Linkspolitiker Léon Nicole zum Ziel hatten. Nun ist zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst eine Gesamtdarstellung des malerischen Werkes von Rodolphe Töpffers Vater, Wolfgang-Adam Töpffer, erschienen. Als 1789 in Genf die Revolution ausbricht, verliert er schlagartig sein Einkommen – unter den Waffen schweigen die Musen –, und er muss als Zeichenlehrer im Pensionat seines Sohnes Rodolphe Unterschlupf suchen. Zum Glück hat er hochrangige Mäzene, zu welchen sogar die Kaiserin Joséphine gehört. Doch in dem soeben bei Benteli publizierten Gesamtwerk entdecken wir überrascht, dass sich hinter dem als genialer Landschaftsmaler einer ganz eigenständigen deutsch-französischen Romantik, beliebt bei der ganzen europäischen Aristokratie und dem entstehenden Geldadel in der Schweiz, auch ein äusserst provokativer Karikaturist versteckte, was ihm in der intoleranten und engherzigen Stadt Genf selber keine Freunde machte. Man verwechselt ja immer wieder den so hoch gelobten «Esprit de Genève», den es eigentlich erst seit der Gründung des Roten Kreuzes, des Völkerbundes und der Uno gibt, und den «esprit genevois», der kleinlich, nachtragend, geldgierig und im Grunde bis heute zutiefst kunst- und geistfeindlich ist. Vater Töpffers beinah surrealistisch anmutenden Grotesken über die Genfer «Momiers», wie die calvinistischen Eiferer damals genannt wurden, machten im keine Freunde bei der Genfer Bourgeoisie, die fest an die Lehren des Kirchenreformators glaubte, der die Rhonestadt zu Glanz und Reichtum geführt hatte. Der Künstler schreibt denn auch etwas verbittert am Ende seines Lebens: «In Genf findet man die wenigsten meiner Werke», um mit übertriebener Bescheidenheit fortzufahren: «Ich fertigte viele Karikaturen verschiedenster Art an und war wohl in dieser Beziehung einigen Erfindungen der Zeit ein paar Schritte voraus». Das kann man wohl sagen, parbleu! Der Kunstwissenschaftler Lucien Boissonas hat dem prachtvollen Band eine kenntnisreiche Einleitung und einen Strauss Zitate über Vater Töpffer vorausgeschickt. (W.-A. Töpffer, 1766-1847, Peintures, Benteli Verlag, 2012).

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