Wiederaufbau in Kobanê

Vor-einem-Wiederaufbau-muss-Kobane-wieder-sicher-gemacht-werdenVor vier Monaten befreiten die Volks- und Frauenselbstverteidigungseinheiten YPG und YPJ die Stadt Kobanê vom selbsternannten Islamischen Staat (IS). Geblieben ist eine zerbombte Stadt, kaum ein Haus steht unversehrt, ganze Strassenzüge wurden dem Erdboden gleich gemacht. Geblieben ist aber auch die Freude und der Stolz, den als unbesiegbar geltenden IS vertrieben zu haben. Für die Bevölkerung von Kobanê war klar: «Wir bauen unsere Stadt wieder auf!» Trotzdem kommt alles nur zögerlich voran. Schuld daran ist nicht zuletzt die Türkei, die alles dran setzt, das Embargo gegen Rojava aufrechtzuerhalten und die Grenze nach Kobanê möglichst dicht zu halten.

Nach 135 Tagen Belagerung konnten die YPG und YPJ den IS am 26. Januar 2015 aus der Stadt Kobanê vertreiben und somit ihr emanzipatorisches Projekt erfolgreich verteidigen. Auch wenn Kobanê schon lange keine Schlagzeilen mehr macht, ist der Krieg nicht vorbei. Die Front ist nun etwa 50 Kilometer von der Stadt entfernt, und nach wie vor ist der Kanton Kobanê von allen Seiten vom IS umzingelt, bis auf die Grenze mit der Türkei. Die YPG und YPJ befreien ein Dorf nach dem anderen, doch alle befreiten Gebiete müssen zuerst sorgfältig nach Minen und vom IS gelegten Sprengfallen untersucht werden, bevor die Bevölkerung zurück kann. Zurzeit häufen sich die Gerüchte, dass die türkische Regierung in Syrien einmarschieren und eine Pufferzone einrichten möchte, offiziell um den syrischen Präsidenten Assad zu stürzen. Diese Pufferzone, mit der der türkische Staatspräsident Erdogan bereits letzten Herbst drohte, richtet sich auch diesmal nicht gegen den IS, sondern primär gegen das selbstverwaltete Projekt in Rojava und die KurdInnen in der ganzen Region.

Was viele im Herbst leise wünschten, wurde lauthals Ende Januar verkündet: «Wir sehen uns zu Newroz in Kobanê!» Das kurdische Frühlingsfest, das seit Jahren auch als politisches Symbol des Widerstandes gilt, konnte zwar nur im kleinen Rahmen von ein paar Tausend Menschen in Kobanê gefeiert werden – und erst noch unter strömendem Regen. Doch dieser Tag war unvergesslich. Über eine Million Menschen wären gekommen, wenn die Türkei nicht die Grenze zugemacht hätte; auch illegal war es um den 21. März besonders schwierig rüber zu kommen. Zudem wurde die Lage als zu gefährlich eingeschätzt: Die Hänge vom Mistenur-Hügel, ein strategisch wichtiger Punkt, sind noch voll Minen und Blindgänger. Ausserdem wurden über 40 Personen in Haseke (Kanton Cizîre) durch einen Selbstmordanschlag des IS während der Newrozfeier am 20. März umgebracht. Deshalb wurde zwar beschlossen, das Newrozfest durchzuführen, aber nur mit den Leute von Kobanê selbst, am westlichen Stadtrand, wo der IS nie vordringen konnte und es somit keine Minen hat.

Newroz in Kobanê

Trotz Regen und Kälte ist die Stimmung feierlich, überall wird getanzt. Als dann aber ein Laientheaterensemble und einige Guerilla-KämpferInnen ein Stück über den Widerstand von Kobanê spielen, wird die Stimmung augenblicklich schwermütig. Sie spielen nach, wie die Bevölkerung fliehen musste, die Angst und Verzweiflung sind deutlich spürbar, fast zu real, neben mir weint ein gestandener Herr und wohl kein Auge bleibt ganz trocken. Alle folgen gebannt den Ereignissen, voller Sorge, obwohl wir ja alle wissen, dass es gut ausgehen würde.

Der Krieg und die Trauer sind ständige Begleiter, doch jedes Fest, jedes Lachen, jeder Tanz und jedes Lied sind kleine Akte des Widerstandes gegen den IS, der solche Tätigkeiten als Blasphemien betrachtet und strengstens verbietet. Als später eine kurdische Rockband ihr Bestes gibt, fordert uns eine junge Kämpferin zum Tanzen auf, ihr Gesicht strahlt und ihre Energie steckt alle an. Vergessen die nassen Kleider, wir tanzen im Schlamm wie an einem Open-Air. Hevala Rûken, so ihr Name, habe auch in den schlimmsten Zeiten gelacht und den anderen Mut gemacht, erzählt uns Mustafa Ali. Er ist Journalist bei der kurdischen Nachrichtenagentur ANHA und lebt in Kobanê. Er ist fast die ganze Zeit in der Stadt geblieben und gehörte somit zur kleinen Gruppe lokaler JournalistInnen, die die Welt damals über die Geschehnisse in Kobanê auf dem Laufenden hielten. Im improvisierten Pressezentrum betreuten sie auch die wenigen ausländischen JournalistInnen, sorgten für ihre Sicherheit, brachten sie zur Front, organisierten GesprächspartnerInnen, dolmetschten die Interviews – und tun dies auch heute noch.

Mustafa Ali hat uns die Stadt gezeigt, die Kriegsschauplätze. Er erzählt vom Mut der KämpferInnen, die die Stadt auch dann verteidigten, als der Rest der Welt den Sieg des IS voraussagte. Stolz in seiner Stimme, aber auch Trauer, viele sind gefallen. Wir laufen durch die Ruinen, gewisse Strassenzüge sind vollkommen zerstört, andere Quartiere sind besser dran, doch überall sind Einschusslöcher, die Strassen voller Schutt und kaputtem Mobiliar, da eine zerfetzte Bibliothek, dort ein zerbombter Coiffeursalon, überall Spuren des früheren Alltags zwischen den Trümmern. Ein Bagger aus der Stadt Amed (Diyarbakir auf Türkisch) fährt an uns vorbei, die Männer tragen Handschuhe und Masken, ein ekelhafter Geruch begleitet sie, sie räumen IS-Leichen weg. Noch heute, zwei Monate nach unserem Besuch, werden Leichen gefunden.

Wir treffen immer wieder auf Menschen, die vor Kurzem zurückgekehrt sind. Sie tragen Schutt weg, retten, was noch irgendwie brauchbar ist aus den Trümmern, und versuchen ihre Häuser wieder bewohnbar zu machen. Ihr Unterfangen kommt mir oft ziemlich aussichtslos vor, zumal es an allem fehlt: Maschinen, Werkzeugen, Baumaterial; die Türkei lässt nichts rein. Aber die Leute scheint das nicht zu verunsichern: Der IS wurde vertrieben, wir sind wieder zurück, das Leben geht weiter.

Aufbruchsstimmung

Tatsächlich kehrt das Leben zurück. Die Stadt liegt in Trümmern, aber sie wirkt nicht gespenstig. Die Rückkehr hat auch eine Kehrseite: Die Vorräte an Mehl und Öl der einzigen Bäckerei reichen nicht mehr lange, jetzt wo die Leute zurückkehren, braucht es viel mehr Brot, mehr als 40 Tonnen pro Tag. Fewziya Ebdê, Ko-Präsidentin des Parlaments von Kobanê, erklärt uns in einem Telefoninterview Mitte Mai, dass sich die Situation bezüglich Lebensmittel ein wenig entspannt habe. Die Türkei lasse Lastwagen mit Nahrungsmitteln durch. Sie betont aber, dass es je nach Tagen mehr oder weniger gut funktioniere. Deshalb brauche es unbedingt internationalen Druck, damit die Türkei endlich die Grenze öffnet.

Am 2. und 3. Mai fand eine Konferenz zum Wiederaufbau von Kobanê in Amed statt. Mustafa Ali war vor Ort und sagte, dass sie sehr gut gelaufen sei. Ein Koordinationskomitee wurde gegründet, die Teilnehmenden konnten sich eine Übersicht über den aktuellen Zustand verschaffen und die notwendigen Schritte planen. Die kurdischen Gemeinden Amed und Wan (bzw. Van auf Türkisch) übernehmen den Wiederaufbau der Trinkwasser- und Kanalisationssysteme. Auch andere Städte und NGOs möchten sich beteiligen, internationale Brigaden sind geplant. Doch solange an der türkischen Grenze Willkür herrscht, kommt alles ins Stocken.

Tausend tickende Zeitbomben

SpezialistInnen sind gefragt, aber wir sehen vor allem Familien mit Kleinkindern, ältere Menschen. So viele Menschen, denen eigentlich alles fehlt, angefangen beim Dach über den Kopf. Die Nächte sind sehr kühl, es regnet immer wieder und der Wind tut noch das Seine, so dass die Kinder in der einzigen zur Zeit unseres Besuches offenen Schule den Mantel nicht ausziehen während dem Unterricht. Doch schaut man in die Gesichter der Leute, in ihre Augen, so sieht man nichts davon, nur Zuversicht und Stolz. Mustafa Ali und Fewziya Ebdê bestätigen beide, dass es bis heute so ist.

Nachdem wir die Schule besucht haben, begleiten wir ein paar internationale Aktivistinnen zu einem Gespräch mit der YPJ-Kommandantin Hevala Rengîn. Die KämpferInnen sind in der Stadt präsent, sorgen für die Sicherheit oder erholen sich von den Fronteinsätzen. Sie tragen ihre Uniformen und haben natürlich auch ihre Kalaschnikows dabei – doch sie spielen sich nie auf, sie strahlen Wärme aus, helfen mit, so dass die Stadt überhaupt nicht militarisiert wirkt, im Gegenteil. Beeindruckend ist, dass die Rolle der Frauen überall Thema ist, nicht nur bei den Kommandantinnen der YPJ. Auch die Kämpfer, auch die Menschen auf der Strasse, mit denen wir ins Gespräch kommen, erzählen uns von den mutigen Frauen und verkünden, dass dies die Revolution der Frauen sei. Es ist schön, in einem befreiten Gebiet zu sein, wo Utopien ernsthaft diskutiert werden und die Menschen an emanzipatorischen Veränderungen glauben und bereit sind, dafür zu kämpfen, auf den verschiedensten Ebenen und mit den verschiedensten Mitteln.

Gegen Ende des Gesprächs mit der Kommandantin hören wir plötzlich eine Detonation. Alle erstarren, fast wäre ich unter den Tisch gesprungen. Hevala Rengîn macht sich sofort auf dem Weg, wir folgen etwas zögernd. Sie improvisiert eine kleine Pressekonferenz für die ebenfalls angerannten JournalistInnen: «Das ist zurzeit unser grösstes Problem, darüber müsst ihr berichten. Heute wurde niemand verletzt. Aber viel zu viele Kinder sind schon gestorben, weil sie in den Trümmer gespielt haben und ein Blindgänger hochgegangen ist. Viel zu viele KämpferInnen sind schon bei der Räumung von Minen und Sprengfallen gestorben. Und das nur, weil keine MinenspezialistInnen da sind, um uns zu helfen, die Bomben sicher zu entschärfen und uns darin auszubilden.» Ich fragte mich all die Tage über: Wo bleibt die UNO? Wo die Anti-Minen-Teams? Wir überlegten uns ernsthaft, einen Anti-Minen-Hund zu kaufen und über die Grenze zu schmuggeln – erfuhren aber inzwischen, dass verschiedene NGOs am Thema dran sind. Fewziya Ebdê erzählt uns, dass ein paar SpezialistInnen da waren zur Abklärung und sie Leute vor Ort ausbilden werden. Doch konnten sie ihre Arbeit noch nicht aufnehmen. Die UNO und die internationalen Organisationen würden sich an die Anweisungen der Türkei halten, und die lauten: Jegliche Hilfe muss über die AFAD, den offiziellen Katastrophendienst der Türkei, laufen, sprich dort stecken bleiben. Die Türkei will nicht zusehen, wie mit internationaler Unterstützung ein basisdemokratisches Projekt vor ihrer Nase aufgebaut wird, das nicht nur eine Zukunftsperspektive für die Menschen in Rojava, sondern auch eine Hoffnung für die kurdischen und anderen linken AktivistInnen in der Türkei darstellt.

 

Aus der Printausgabe vom 22. Mai 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Die Intervention geht weiter

Mideast Saudi Arabia Air ForceSaudi-Arabien führt die Bombardements im Jemen trotz gegenteiliger Ankündigung weiter. Die Militärintervention hat mittlerweile über tausend Menschenleben gefordert sowie mehr als das Dreifache an Verletzten.

Weniger als einen Monat nach Beginn der Intervention im Jemen seitens Saudi-Arabiens verkündete die Militärführung in Riad das Ende der Operation «Sturm der Entschlossenheit». Der jemenitische Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi im saudischen Exil glaubte, «dass die wichtigsten Ziele der Operation am Boden erreicht seien, dass die Legitimität seiner Regierung gesichert sei und die Bürger Jemens nicht mehr in Gefahr wären wie zuvor». Auf sein «Ersuchen» hin sollte die Operation nun beendet werden. Wer dies als das Ende der Militärintervention interpretierte, lag falsch. Um die Präsenz der Regierung auf dem Territorium Jemens zu verstärken und dem Volk Sicherheit und Stabilität zu bringen, wurde bloss eine neue Phase der Intervention eingeläutet, die Operation «Wiederherstellung der Hoffnung». Die neue Operation bedeutet in Wirklichkeit die Fortsetzung der Luftangriffe durch die von Saudi-Arabien angeführte Kriegskoalition.

Präsident ohne Legitimation

Die Militärintervention durch die Saudis begann am 26. März und hat das Ziel, den jementischen Präsidenten Hadi, der im Januar gestürzt wurde, wieder an die Macht zu bomben. Die schiitischen sogenannten Huthi-RebellInnen, aber auch ein grosser Teil der regulären Streitkräfte im Jemen, darunter Luftwaffe und Spezialeinheiten, stehen in Opposition zum ehemaligen Machthaber. Die Mehrheit des Militärs ist noch immer dem Vorgänger Hadis treu, Ali Abdullah Saleh, der nach den Massendemonstration der jemenitischen Version des «Arabischen Frühlings» von den USA zum Rücktritt gezwungen worden war. Der gegenwärtige offizielle Amtsinhaber Hadi wurde von den Monarchien der arabischen Halbinsel und der US-Regierung zum Nachfolger bestimmt. In einer Wahl 2012 wurde er «demokratisch» legitimiert: Es ergab sich eine Zustimmung von 99,8 Prozent für Hadi, wobei er als einziger Kandidat zur Auswahl stand.

UN-gestützte Aggression

Mitte April hat sich nun auch der UN-Sicherheitsrat dazu herabgelassen, einige Worte über die saudische Aggression zu verlieren. Die Resolution, die von 14 der 15 Mitglieder des Sicherheitsrates gebilligt wurde, stellt sich auf Seiten Saudi-Arabiens und verurteilt einzig die Gewalt der RebellInnen. Während von den US-treuen Regierungen nichts anderes zu erwarten war, da die Intervention auf den ausdrücklichen Segen und die logistische Unterstützung der USA zählen kann, gibt das Verhalten Chinas und Venezuelas, die beide der Resolution zugestimmt haben, zu denken. Für China habe die «Einheit, Souveränität und territoriale Integrität» des Jemens Priorität und der Konflikt solle auf friedlichem Weg durch Dialog gelöst werden. Auch Venezuela pocht auf eine politische Lösung und kritisiert bloss, dass nicht alle Parteien in die Gespräche einbezogen werden. Eine friedliche Lösung, wie sie die beiden Länder vorschlagen, kann aber nur ein frommer Wunsch bleiben, wenn nur eine Seite dazu aufgefordert wird. Russland hat als einziges Land sich wenigstens eine Zustimmung zur Resolution verweigert. Wie der russische Vertreter richtig bemerkt, werden darin nicht beide Seiten zum Ende der Gewalt aufgerufen.

Aus der Printausgabe vom 8. Mai 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Neonazis gegen Kapitalismus?

May Day In Germany: RostockDie heutigen Nazis lassen häufig antikapitalistische und antiimperialistische Töne von sich hören. In Deutschland hat sich der sogenannte Strasserismus in den 90er Jahren durchsetzen können, sodass auch die NPD für eine «antikapitalistische Wirtschaftsordnung» kämpft.

«Sie haben völlig recht», entgegnete vor einigen Jahren ein schulbekannter Neonazi in einer Schule im Berlin-Prenzlauer Berg seiner Lehrerin. «Hitler war ein grosser Verbrecher. Er hat den Nationalsozialismus an das Kapital verraten. Unsere Leit- und Vorbilder sind nicht Hitler, Himmler, Goebbels und andere Grössen des ‹Dritten Reiches›, sondern Gregor und Otto Strasser.» Die Lehrerin war zunächst in zweierlei Hinsicht sprachlos. Zum einen hatte sie während ihrer Ausbildung in der DDR nie etwas über die Faschisten Gregor Strasser (1892–1934) und Otto Strasser (1897–1974) gehört und zum anderen verblüffte sie die völlig unerwartete Ideologie heutiger neonazistischer Gruppierungen in der BRD. Diese Berliner Lehrerin stellt keine Ausnahme dar. Bis in die Gegenwart hinein ist den meisten Menschen in den alten und neuen Bundesländern die geistige und programmatische Metamorphose beachtlicher Teile des bundesdeutschen Neonazismus kaum bekannt. Nach dem Scheitern aller Pläne von Otto Strasser, Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre sein in der Weimarer Republik und danach entwickeltes faschistisches Politikkonzept nahtlos auf die BRD zu übertragen, war der Strasserismus bis auf die heute noch in Nordrhein-Westfalen agierende Unabhängige Arbeiterpartei (UAP) weitgehend in der politischen Versenkung verschwunden. Ein zaghafter Wandel machte sich erst wieder in den 70er Jahren bemerkbar, als die Neue Rechte in der Bundesrepublik analog ihrer französischen Gesinnungsfreunde nach neuen Ideen suchten, um die politische wie geistige Isolierung der Rechtsextremen zu überwinden. Während man in der französischen Nouvelle Droite insbesondere Vorstellungen von Antonio Gramcsi von der Eroberung der kulturellen Hegemonie vor einer politischen Machtübernahme aufgriff, suchte der sogenannte nationalrevolutionäre Flügel der westdeutschen Neuen Rechten Anknüpfungspunkte beim angeblich linken Flügel der NSDAP, der besonders von den Gebrüdern Strasser repräsentiert wurde. Diese rechtsextremen sogenannten Nationalrevolutionäre, die sich vom Hitlerismus und dem NS-System, aber nicht von der Idee eines «nationalen Sozialismus» distanzierten, gruppierten sich in den 80er Jahren vor allem um die Zeitschriften «wir selbst» (Koblenz), «Europa Vorn» (Köln) und um die «Deutsch-Europäische Studiengesellschaft» (Hamburg).

«Ethnopluralismus» statt Rassismus

Von den IdeologInnen dieser Kräfte, die sich als «progressive NationalistInnen» verstanden, wurden eine Reihe neuer Begriffe entwickelt, um den Rechtsextremismus besser in der Öffentlichkeit anbringen zu können. So sprach man anstatt von Rassismus jetzt vom Ethnopluralismus, statt Biologismus nur noch von einem Biohumanismus. Nach wie vor blieb aber auch bei ihnen die Überwindung der demokratischen Republik und die Errichtung eines neuen Deutschen Reiches das Ziel, in dem die Grundwerte der Aufklärung, vor allem das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, überwunden und durch eine ethnisch homogene und hierarchische Volksgemeinschaft ersetzt werden sollte. Die Rezeption der Strasser-Vorstellungen in der BRD vollzog sich über verschiedene Phasen, die nicht widerspruchslos abliefen. Bis in die 80er Jahre hinein waren die neuen Strasser-AnhängerInnen in intellektuellen Zirkeln relativ isoliert und politisch wirkungslos. Das änderte sich in dem Masse, wie Michael Kühnen, von den 70er bis Anfang der 90er Jahre wichtigster Repräsentant des bundesrepublikanischen Neonazismus, sich über Positionen der faschistischen Sturmabteilung (SA) dem Strasser-Konzept näherte. Bis zu Beginn der 90er Jahre dominierten dann Strasser-Ideen in fast allen nennenswerten neonazistischen Gruppen der BRD. Zu nennen sind hier insbesondere die inzwischen verbotenen Gruppierungen Nationalistische Front (NF) einschliesslich ihrer diversen Nachfolgegruppen, die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und die Deutsche Alternative (DA). Dass die Strasser-Ideen gerade in Ostdeutschland einen beachtlichen Widerhall fanden und finden, hängt mit einer diffusen Nachwirkung des «Sozialismus« in der DDR, der Ambivalenz zu den angeblich antikapitalistischen Vorstellungen der Gebrüder Strasser und der neonazistischen Parole zusammen, dass der Sozialismus an sich eine gute Idee wäre, nur müsse dieser nicht internationalistisch, sondern nationalistisch ausgerichtet sein.

Durchsetzung des Strasserismus

Die Durchsetzung des Strasserismus in den meisten neonazistischen Vereinigungen vollzog sich nicht konfliktfrei. So setzte 1992 der damalige DA-Bundesvorsitzende Frank Hübner den verantwortlichen Redakteur der DA-Zeitung «Brandenburger Beobachter», Frank Mencke, ohne viel Federlesens ab, weil dieser in einem Artikel Hitler als Wahrer der Menschenrechte und den SS-Obergruppenführer und Organisator des Holocaust, Reinhard Heidrich, als Vorbild für die jungen Neonazis hingestellt hatte. In der Begründung seines Handelns erklärte Hübner, dass solche Auffassungen nicht den Positionen der DA entsprächen. Ein anderes typisches Beispiel waren die Auseinandersetzungen über diese Problematik in der neonazistischen NPD und ihrer Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten (JN), die im Sommer 1996 zur Absetzung fast der gesamten Redaktion der JN-Zeitschrift «Der Aktivist – Nationalistisches Infoblatt» führte. Erst in dem Umfang, wie sich der 1995 neugewählte NPD-Vorsitzende Udo Voigt gegen den Flügel des abgesetzten vorherigen Vorsitzenden Günter Deckert durchsetzte, veränderte sich auch der politische und ideologische Kurs der NPD in Richtung auf die Strasser-Linie. Der von Deckert favorisierte geschichtliche Revisionismus (vor allem die «Auschwitz-Lüge») wurde zugunsten der sozialen Gegenwartsprobleme in den Hintergrund gerückt. Wie im Strasserismus wird jetzt auch in der NPD eine hemmungslose nationalistische und rassistische Revolutions- und Sozialismus-Phraseologie betrieben, die durch den Übertritt von Funktionären der Ende 1997 aufgelösten Gruppierung Die Nationalen (NAT) noch verstärkt wurde. Bereits im Mai 1996 fand der 26. ordentliche Bundeskongress der JN in Leipzig unter der heute bundesweit vorgetragenen Losung «Gegen System und Kapital – unser Kampf ist national!» statt. In Distanzierung von bisherigen Praktiken beteiligte sich auch die NPD im August 1997 nicht mehr offiziell an den Gedenkveranstaltungen für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess. Dazu argumentierte die Spitze der NPD, so etwas sei nicht mehr zeitgemäss und würde von der Masse der Bevölkerung nicht verstanden.

Testfeld Osten

Hauptexperimentierfeld für die Durchsetzung des neuen NPD-Kurses ist der Freistaat Sachsen. Hier haben NDP und JN seit dem Ende der 90er Jahre ihre politische Isolierung durchbrochen und zählen jetzt ca. 1000 hauptsächlich junge Mitglieder. 2004 und 2009 konnten Abgeordnete der NPD in den Sächsischen Landtag einziehen, 2014 scheiterte sie knapp an der 5-Prozent-Hürde. Ähnlich wie in Sachsen agieren NPD und JN auch in Mecklenburg-Vorpommern. Bei den neonazistischen Mitgliedern und AnhängerInnen der NPD steht nach wie vor die rassistische Hetze gegen AusländerInnen und eine massive soziale Demagogie im Zusammenhang mit der Massenarbeitslosigkeit und der Lehrstellenmisere im Vordergrund der Tagesagitation. Das verdeutlicht aber noch nicht genügend die veränderte, angeblich antiimperialistische Politik der NPD. Das wird deutlicher, sieht man sich die weitergehenden Positionen der NPD an. So heisst es im aktualisierten Parteiprogramm: «Die NPD lehnt die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung systematisch betriebene Internationalisierung der Volkswirtschaften entschieden ab. (…) Auf der ganzen Welt erteilt der Aufbruch der Völker dem multikulturellen Einheitswahn eine Absage. Grundlage einer europäischen Neuordnung muss das Bekenntnis zum nationalstaatlichen Ordnungsprinzip und zum Prinzip der Volksabstammung sein. (…) Wir fordern die Revision der nach dem Krieg abgeschlossenen Grenzanerkennungsverträge.» Noch deutlicher wird die der NPD nahestehende Zeitung, in der «der Kampf für eine nationale, antikapitalistische Wirtschaftsordnung», eine «Basisdemokratie gegen Bonzenhierarchie» gefordert wird. Das alles wird in den neuen Bundesländern mit einer rechtsextremen Vereinnahmung der DDR und einer Anbiederung an einstige DDR-Funktionsträger verbunden. In einem in Sachsen verbreiteten NPD-Flugblatt wird dazu erklärt: «Wir Mitglieder der NPD stehen zur ganzen deutschen Geschichte und auch zur Geschichte der DDR. Die Mehrheit unserer Mitglieder ist (…) der Meinung, dass die DDR das bessere Deutschland war. Wir wollen deshalb die positiven Erfahrungen der DDR in unsere Politik einbringen.» Aber selbst das reicht der NPD noch nicht. Um an ehemalige Kader der SED heranzukommen, wird in dem zitierten Flugblatt entgegen der geschichtlichen Wahrheit weiter verkündet, dass die NPD «in der Tradition der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung» steht. Ideologisch ist man in diesem Zusammenhang bereit, den bisherigen extremen Antikommunismus zugunsten eines ausgeprägteren Antiamerikanismus zurückzunehmen. All das soll dem Ziel der Schaffung einer «Volksfront von rechts» – oder wie es in dem Sachsenflugblatt formuliert wird – der Installierung einer «neuen Nationalen Front des demokratischen Deutschlands» dienen.

Genauere Analysen

Diese geschicktere pseudopatriotische und systemkritische Demagogie wesentlicher Teile des heutigen bundesrepublikanischen Neonazismus findet nicht nur unter Teilen der Jugend, sondern auch bei älteren BürgerInnen in den neuen Bundesländern Widerhall. So bekannte der Sprecher der Bündnisgrünen in Mecklenburg-Vorpommern, Klaus-Dieter Feige: «Ich bin immer wieder erschüttert, wenn ich mich mit Rechtsextremen unterhalte, in wie vielen Punkten wir in der Kritik am existierenden Kapitalismus übereinstimmen.» Zum Schluss sei hier noch darauf verwiesen, dass sich in Gestalt der Europäischen Synergien, einer Absonderung von den europäischen Neuen Rechten, eine neue internationale Struktur herausbildet, die sich verstärkt mit der Thematik des sogenannten Nationalkommunismus befasst und deren Verbindungen bis zu hohen russischen Militärs in Moskau reichen. Ohne jetzt hier noch weitere Thesen und Praktiken der Strasser-ErbInnen zu erörtern, verdeutlicht schon diese kurze Abhandlung, dass viele linke Analysen des heutigen Rechtsextremismus noch zu sehr in überholten Vorstellungen befangen sind und auch viele Argumente des heutigen Antifaschismus nicht die neuen Entwicklungen reflektieren und daher kaum Wirkung zeigen. Anliegen aller Linken sollte es sein, in ihren Analysen genauer die rechtsextremistische Gegenwart zu untersuchen, um daraus effektivere Argumente und politische Aktivitäten zur Zurückdrängung des zur Zeit immer noch wachsenden Einflusses des Rechtsextremismus in allen seinen Varianten zu entwickeln.

Aus der Printausgabe vom 24. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

¡NO PASARAN!

nopasaran-494x329Vor 70 Jahren endete der Horror des Zweiten Weltkriegs. Die diesjährige Beilag der 1.Mai-Ausgabe des vorwärts steht im Zeichen von diesem historischen Ereignis. Es ist ein Beitrag, so bescheiden er auch sein mag, um niemals zu vergessen! Gleichzeitig soll die Beilage aber auch anregen, sich darüber Gedanken zu machen, was es heisst, heute Antifaschist zu sein.

Mai 1945: Europa liegt in Schutt und Asche. Es beweint 60 bis 70 Millionen Tote. Die genaue Zahl wird die Menschheit nie erfahren. Weitere Millionen kehren als Krüppel von den Schlachtfeldern zurück oder sind es durch die flächendeckenden Bombardierungen geworden. Millionen von Menschen schwören sich: «Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!».

Mai 2015: Wir stellen fest, dass es in Europa sehr wohl wieder Kriege gab und noch gibt. Wir wissen, dass in der Ukraine faschistische Kräfte von der EU unterstützt werden. Wir sehen, wie rassistische, faschistoide Parteien auf dem ganzen Kontinent an Zuspruch gewinnen, grossen Einfluss haben oder gar – wie in Ungarn – an der Macht sitzen. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Was ist aus diesem Eid geworden? Was heisst es heute, Antifaschist zu sein? Eine Frage, die sich vor allem jene Linke stellen muss, die ihren Aktionsradius etwas grösser und breiter als einen Bierdeckel definiert und sich daher nicht nur auf den bürgerlichen Parlamentarismus, Initiativen und Referenden beschränkt.

Auf der Suche nach Antworten finden wir einen ganz grossen Schriftsteller, Politiker, marxistischen Philosophen und Antifaschisten aus Italien, der seine felsenfeste Überzeug mit dem Tod bezahlte: Antonio Gramsci. «Die Illusion ist die hartnäckigste Quecke des kollektiven Bewusstseins: Die Geschichte lehrt, hat aber keine Schüler», ist eine seiner Weisheiten, die er uns hinterliess. Die Quecke ist bekanntlich ein Gras, das sehr schnell wächst und alles andere «überdeckt». Und Gramsci fordert uns auf, SchülerInnen der Geschichte zu werden. Das heisst heute: Niemals die Quecke wuchern lassen, niemals vergessen! Niemals den Holocaust vergessen. Niemals den blutigen, heldenhaften Befreiungskampf der PartisanInnen vergessen. Niemals die tragende, zentrale Rolle der sozialistischen, kommunistischen Parteien und anarchistischen Organisationen im antifaschistischen Kampf vergessen. Niemals vergessen, dass Europa auch von der Roten Armee befreit wurde und nicht nur von den Amis alleine. Niemals vergessen, dass die Sowjetunion weitaus die grösste Anzahl Opfer zu beklagen hatte.

Geschwüre auch in der Schweiz

Aber das Nichtvergessen alleine reicht nicht. Auch dies sagt uns Genosse Gramsci, Mitbegründer der Italienischen Kommunistischen Partei (Partito Comunista Italiano) im Jahr 1921 und Gründer der geschichtsträchtigen Parteizeitung «L’Unità» im Jahr 1924: «Der Faschismus hat sich als Antipartei gegeben, hat allen Kandidaten die Türe geöffnet, hat einer ungeordneten Vielfalt die Möglichkeit geboten, nebulöse und vage politische Ideale mit einem Farbanstrich zu überstreichen. Es ist das wilde Überborden der Leidenschaft, des Hasses, der Wünsche.» Ins Heute umgemünzt, beschreibt hier Gramsci unter anderem die Organisation «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) aus Deutschland, die Tausende von WutbürgerInnen auf die Strasse mobilisiert. Aber auch die Schweiz ist nicht frei von solchen Geschwüren. Am 29. März 2014 versuchte die Gruppe «Stopp Kuscheljustiz» eine Kundgebung unter dem Namen «Volksversammlung» zu organisieren. Ihr Facebook-Auftritt zeigt, dass die Gruppe ein Sammelbecken für rechtskonservative und rechtsextreme Ideologien darstellt. Die «Helvetia» wird zur Heimat der «Eidgenossen» hochstilisiert und populistische Hetzberichte gegen AusländerInnen, Asylsuchende und Kriminelle von Seiten rechtsextremer Parteien wie der Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) folgen regelmässig. Auf-forderungen wie «Schweiz erwache» in Anlehnung an das SA-Kampflied «Deutschland erwache» und Aufrufe zu ethnischen Säuberungen oder die Forderung der Todesstrafe gegenüber Andersdenkenden oder MigrantInnen sind die Regel. In «Gefahr» ist alles angeblich Schweizerische, von der direkten Demokratie bis zur Cervelat. Obwohl sich die VeranstalterInnen von rechtsextremen Positionen distanzieren und sich nicht als FaschistInnen oder Neonazis wissen wollen, zieht eine solche «Volksversammlung» sehr wohl offen deklarierte RassistInnen, FaschistInnen und RechtspopulistInnen an. Die faschistoiden Züge der Rechten in der Schweiz haben sich ständig durch rassistische Komponenten und den Schutz der eigenen «Identität» und «Tradition» charakterisiert. Und sie sind vor allem auch immer bis in die «Mitte der Gesellschaft» vorzufinden.

Die Speerspitze der herrschenden Klasse

Bei Gramsci bildeten Ideologie, Philosophie und politische Praxis eine feste Einheit. Er konzentrierte sich stark auf das Verständnis der realen Situation und der gesellschaftlichen Verhältnissen Italiens jener Zeit und der Möglichkeit, diese im sozialistischem Sinne zu transformieren. Den Faschismus definierte er als «Speerspitze der Krise der bürgerlichen Gesellschaft», da der herrschenden Klasse, die «soziale, intellektuelle und moralische Hegemonie verloren hatte» und zur Gewalt greifen musste. Ein Blick auf die herrschende Klasse von heute zeigt, dass sie mit den sogenannten Freihandelsverträgen wie TiSA und TTIP (um nur zwei zu nennen) dabei ist, einen epochalen neoliberalen Angriff durchzuführen. Was wird ihre Speerspitze sein? Und: Welche Alternative bieten wir zur aktuelle Barbarei? Die Antworten auf die Frage, was es heisst, heute AntifaschistIn zu sein, finden wir in der Vergangenheit, im Heute und in dem, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Um diese im sozialistischen Sinne aufzubauen, heisst die gemeinsame Kampfparole: NO PASARAN!

 

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Töten wir das Monster!

01_TISAAm 18. April findet der globale Aktionstag gegen Freihandel statt. Es ist der konkrete Widerstand gegen die Freihandelsabkommen, die der schrankenlosen Privatisierung und Liberalisierung den Weg ebnen soll. Was dabei die -Folgen sind, zeigt die Privatisierung des Spitals «La Providence» in Neuenburg. Die Abkommen betreffen direkt auch die Schweiz. Am Aktionstag findet auf dem Zürcher Paradeplatz eine Kundgebung statt.

TiSA? TTIP? Tafta? Das sind Abkürzungen für so genannte Freihandelsabkommen. Freihandelsabkommen? Das ist der «diplomatische Fachbegriff» für die komplette, vollständige Liberalisierung und Privatisierung! «Privatisierungen der öffentlichen Dienste und Liberalisierung sind die politischen Waffen der Unternehmen und Besitzenden, um ihre Profitinteressen durchzusetzen. Für die ArbeitnehmerInnen bedeuten sie schlicht eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und somit auch der Lebensbedingungen», hält die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) in ihrem Wahlprogramm 2015 fest. So geschehen beim Spital «La Providence» in Neuenburg: Nachdem das Spital durch die private Gruppe «Genolier» übernommen wurde, kam es zur Kündigung des Gesamtarbeitsvertrags (GAV), der Auslagerung nicht- medizinischer und nicht-pflegerischer Leistungen. Die Folgen waren ein allgemeiner Lohn- und Stellenabbau. Dies geschah mit dem Einverständnis der Neuenburger Regierung: Sie erlaubte der Gruppe «Genolier», den GAV zu kündigen, obwohl eine Verordnung des Regierungsrates selbst festlegte, dass der GAV respektiert werden muss, um einen öffentlichen Auftrag im Gesundheitswesen zu erhalten. Eine «Ausnahme»? Nein! «Ein Musterbeispiel von Privatisierung und Liberalisierung im Sinne des kapitalistischen Diktats, das heute Globalisierung genannt wird», schreibt die PdAS dazu und trifft damit den Nagel auf dem Kopf.

Weltweite, undemokratische Verhandlungen

Seit 2012 verhandelt das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) im Auftrag des Bundesrats mit der EU, die ihrerseits 28 Länder umfasst, sowie weiteren 20 Ländern unter der Führung der USA über das Freihandelsabkommen «Trade in Services Agreement» (TiSA). Auf der Website des Komitee Stop-Tisa ist darüber zu lesen: «Es geht um fast alles, was wir zum Leben brauchen: vom Trinkwasser bis zur Abfallentsorgung, vom Kindergarten bis zum Altersheim, von Post und Bank über Eisenbahn und Elektrizitätswerke bis zum Theater. Der ganze Service public, wie wir ihn in der Schweiz nennen, ist vom Dienstleistungsabkommen TiSA bedroht.» Die Verhandlungen werden im Geheimen und undemokratisch geführt. Das Schweizer Parlament, wie auch die Öffentlichkeit, wurde erst auf öffentlichen Druck spät und unzulänglich über den Stand der Verhandlungen informiert. Die Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien kennen seit Jahrzehnten die Auswirkungen dieser Freihandelsabkommen, die ihre Wirtschaft zerstört und das Volk in Armut geführt haben. So gibt es heute gemäss WTO weltweit gegen 400 Freihandelsverträge, vor vierzig Jahren waren es weniger als zehn.

Konzerne klagen gegen Staaten

Gemäss den Freihandelsverträgen müssen alle Dienstleistungsbereiche, in denen neben den öffentlichen auch private Anbieter vorhanden sind, den Regeln des «freien und unverfälschten Wettbewerbs» unterstellt werden. Ist dies nicht der Fall, können einzelne Konzerne eine Regierung auf «entgangene Gewinne» verklagen, um diese aus Steuergeldern ausgleichen zu lassen. Die Unternehmen haben denselben Rechtsstatus wie Nationalstaaten. Geklagt wird nicht bei einem öffentlichen Gericht, sondern bei einem Schiedsgericht, das der Weltbank untersteht! Diese Regelungen sind bereits aus bestehenden Freihandelsverträgen bekannt. Zwei konkrete Beispiele, bei denen von Parlamenten demokratisch gefällte Entscheide gekippt werden sollen: Die schwedische Energiefirma «Vattenfall» hat Deutschland wegen seiner Atomausstiegspläne auf 3,7 Milliarden Euro verklagt. Philip Morris will zwei Milliarden US-Dollar von Uruguay, weil das Land seine Gesetze zum Rauchen verschärft hat.

Dem Willen der Konzerne nach sollen die Freihandelsverträge die Zukunft bilden. So verhandeln die EU mit den USA seit Juli 2013 über das sogenannte «Transatlantic Trade and Investment Partnership», abgekürzt TTIP. Dabei geht es um die Schaffung der grössten Freihandelszone der Welt und, die einen gemeinsamen Wirtschaftsraum für mehr als 800 Millionen KonsumentInnen bilden würde. Unter dem Deckmantel, die Gesetze «transatlantisch aufeinander abzustimmen», ist die Profitmaximierung das eigentliche und reell angestrebte Ziel. Das betrifft die Nahrung und Industrieprodukte sowie Bereiche wie Arbeitsrecht, Gesundheit sowie Umwelt- und Klimaschutz.

Wirtschafts-Nato als Ziel

Die US-Amerikanerin Lori Wallach, Direktorin von «Public Citizen», der grössten Verbraucherschutzorganisation der Welt, Rechtsanwältin mit Spezialgebiet Handelsrecht und führender Kopf bei den Protesten 1999 in Seattle gegen die WTO-Ministerkonferenz, nennt das TTIP einen «Staatsstreich in Zeitlupe». Und sie schreibt in einem sehr empfehlenswerten Artikel in «Le Mode diplomatique» vom 8. November 2013: «Die erklärte Absicht ist, in zwei Jahren ein Abkommen zu unterzeichnen, das eine transatlantische Freihandelszone ‹Transatlantic Free Trade Area› (Tafta) zu gründen. Das gesamte TTIP-Tafta-Projekt gleicht dem Monster aus einem Horrorfilm, das durch nichts totzukriegen ist. Denn die Vorteile, die eine solche ‹Wirtschafts-Nato› den Unternehmen bieten würde, wären bindend, dauerhaft und praktisch irreversibel, weil jede einzelne Bestimmung nur mit Zustimmung sämtlicher Unterzeichnerstaaten geändert werden kann.»

Die Schlussfolgerung aus all dem ist verdammt einfach: Töten wir das Monster!

Gegen TiSA Abkommen!
Privatisierung stoppen!
Kundgebung: 18. April, 14.00 Uhr

Paradeplatz Zürich

Aus der Printausgabe vom 10. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Die Rückkehr der Grossgrundbesitzer

ChileDen Kleinbauern und -bäuerinnen um das chilenische Llay Llay vertrocknen die Felder. Die Hügel neben ihren Parzellen aber sind saftig grün. Hier wachsen Tausende von Avocadobäumen, zu deren Bewässerung die GrossgrundbesitzerInnen das Grundwasser abpumpen. Jeden Sommer hat sich die Situation verschärft – dieses Mal ist es zu viel: Die Bauern und Bäuerinnen rufen nun zum Widerstand gegen die GrossgrundbesitzerInnen, die Privatisierung des Wassers und die ungerechten Gesetze auf.

Als im Jahr 1961 die konservative Regierung unter Jorge Alessandri das Gesetz zur Agrarreform verabschiedete, welche in den darauffolgenden Jahren unter Eduardo Frei und Salvador Allende vertieft wurde, konnten viele LandarbeiterInnen zum ersten Mal BesitzerInnen ihrer eigenen Felder werden. So geschah es auch in Llay Llay im Tal des Aconcagua, des grössten Flusses in der Region von Valparaiso. Die Dörfer um Llay Llay leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Als Folge der Agrarreform wurden die Latifundien enteignet und anfänglich an einzelne BäuerInnen und später, unter der Regierung von Salvador Allende, an Kooperativen übergeben. Die neuen LandbesitzerInnen bekamen anfänglich staatliche Hilfe um die Ländereien zu bestellen. Unter der Diktatur Augusto Pinochets wurden jedoch alle staatlichen Hilfen eingestellt.

Die Bauern und Bäuerinnen bauten im fruchtbaren Tal Gemüse an und liessen auf den trockenen, mit dornigen Büschen bewachsenen Hügeln und Bergen ihr Vieh weiden. Das Wasser zur Bewässerung kam aus Kanälen, die das Wasser vom Aconcagua-Fluss auf die Felder brachten. Reich wurden die Leute dadurch nicht und die fehlende Hilfe bei der Produktion und der Vermarktung ihrer Produkte zwangen viele Bauern und Bäuerinnen während der Militärdiktatur ihre Ländereien wieder zu verkaufen.

Das Latifundiensystem kehrt zurück

Nach dem Ende der Militärdiktatur, im Jahre 1989, fingen reiche Familien an, die angeblich wertlosen Hügel und zum Teil auch Ländereien im Tal aufzukaufen. Anfänglich verkauften die vormaligen BesitzerInnen freiwillig, später durch gesetzlich bewilligten Zwang. Grundlage für diese Zwangsverkäufe ist ein Gesetz, welches es dem Hauptbesitzer eines Hügels ermöglicht, die anderen BesitzerInnen dazu zu zwingen, ihnen das restliche Land zu verkaufen. Die Hügel, bewohnt und bewachsen von seltenen Tieren und geschützten Pflanzen, standen einige Jahre unbenutzt da, bis ein Gesetz verabschiedet wurde, welches PrivatunternehmerInnen bis zu 80 Prozent ihrer Infrastruktur finanziert, wenn die bis dahin «ungenutzte» Hügel bewirtschaftet würden. So verschwanden über Nacht die geschützten Büsche in Löchern und es entstanden riesige Avocadoplantagen. Die Latifundien waren in neuer Form wieder aufgetaucht. Heute beschäftigt Jorge Schmidt, der grösste Grossgrundbesitzer im Tal, ironischerweise Sohn eines geflüchteten italienischen Kommunisten, in Llay Llay während der Hauptsaison über zweitausend Menschen, um seine Felder zu bestellen. Angebaut werden nebst den Avocados Weintrauben und Zitrusfrüchte – fast allesamt Exportprodukte, die in alle Welt verschifft werden. Flugzeuge fliegen über die Felder, um Pestizide zu sprühen, Busse fahren umher, um die ArbeiterInnen an neue Orte zu bringen und Container voller Avocados, Weintrauben und Orangen verlassen das Tal, um ihre Reise nach Europa, Asien und vielleicht auch in deinen Supermarkt anzutreten. Die ArbeiterInnen berichten derweil, dass kaum mehr Füchse auftauchen und wenn doch, dann nur tot – vermutlich eine Folge des ausgestreuten Rattengift. Regelmässig geschehen schwere Arbeitsunfälle, da an den steilen Hängen mit viel Gewicht gearbeitet wird und eine Arbeiterin sowie ein Stadtrat erzählen, dass noch nie eine Arbeitskontrolle oder die Umweltschutzbehörde zu Besuch kamen. Die Löhne sind an den von Pinochet eingeführten Mindestlohn von derzeit etwa 350 Franken gebunden, jedoch mit «Boni je nach Produktivität», wie sich der Grossgrundbesitzer Schmidt letztes Jahr in einem Gefälligkeitsartikel in der rechten Zeitung «El Mercurio» zitieren liess. Der Artikel porträtierte Schmidt als bodenständigen Aufsteiger und guten Arbeitgeber. Kritische Fragen wurden nicht gestellt.

Der hausgemachte Wassermangel

«Als Kind musste ich nur ein kleines Loch in die Erde graben und schon stiess ich auf Wasser», erzählt Aldo Alvarado, der schon sein ganzes Leben in Llay Llay wohnt. Die Region ist eigentlich bekannt für ihren Wasserreichtum, den es unter der Erde beherbergt, da sich das Wasser im regenreichen Winter im Kessel von Llay Llay sammelt und dort versickert. Doch seit Jahren ist dies nicht mehr so, es regnet nicht mehr so viel und der Aconcagua bringt im Sommer kaum mehr die Wassermengen von früher mit sich. Der Klimawandel macht sich im Tal des Aconcagua in aller Härte bemerkbar. Die Wasserknappheit lässt sich aber, wie in anderen Teilen Chiles, durch die industrielle Nutzung des Wassers erklären. Überall im Land verstreut gibt es Regionen, die an Trockenheit leiden. So sind es im Süden die Mapuche, die klagen, dass bei ihnen der Grundwasserspiegel aufgrund der extensiven Forstwirtschaft sinkt. Von der Mitte des Landes bis in den Norden sind es Minen in den Anden, die das Wasser zum Herauswaschen der Kupfers gebrauchen und mit Schwermetallen verseuchen. In der Mitte des Landes kommt noch die verstärkte Nutzung der Quellen durch GrossgrundbesitzerInnen hinzu, die dank mehr Kapital tiefere Brunnen als die ansässige Bevölkerung bohren können. «Im Tal des Aconcaguas kommt noch die schlechte Verteilung des Wassers, welches der Fluss mit sich bringt, dazu», so Marcelo Diaz, Vorsitzender einer frisch gegründeten Gruppierung zum Schutz des Wassers. Überdies pumpt der private Wasserkonzern Esval im Dörfchen Las Vegas bei Llay Llay Wasser für die Grossstadt Valparaiso ab. Die Pumpen von Las Vegas können derweil kein Trinkwasser mehr für die lokale Bevölkerung finden. Das Wasser im Tal wird knapp, wie in vielen Regionen Chiles, in der neue GrossgrundbesitzerInnen mit einer enorm extensiven Landwirtschaft alle Wasserressourcen ausbeuten, die sie finden.

«Das Hauptproblem ist die kapitalistische Produktionsweise»

Dagegen gibt es in Llay Llay nun Widerstand, die neu entstandene Bewegung beschwert sich wegen der schlechten Verteilung des Wassers. Denn während den kleinen Bauern und Bäuerinnen die Kanäle vertrocknen, bauen die Grossgrundbesitzer-Innen immer tiefere Brunnen – mit Rechten, die sie billig anderen abkaufen. Allein im Dorf Las Palmas wurden Rechte erworben, um mehr als 200 Liter pro Sekunde aus der Erde zu pumpen, während sich die Bevölkerung im Dorf mit 6 Liter pro Sekunde für ihr Trinkwasser zufrieden geben muss. «Das Problem», so meint Marcelo Diaz, «ist, das diese Typen alle rechtlichen Taschentricks kennen, um sich Rechte für Wasser und alles weitere zu ergattern.» In Chile ist Wasser ein privates Gut. Jemand, der das Recht zur Förderung von Wasser hat, kann mit diesem tun und lassen was er oder sie will. Die Gemeinden vergeben Wasserrechte; ist bereits die Höchstzahl an Rechten vergeben, können diese dann privat gehandelt werden. Das entsprechende Gesetz, eines von so viele Reliquien aus der Zeit der Pinochet-Diktatur, wollen Organisationen in ganz Chile nun ändern. Wenn möglich mit der Unterstützung der Regierung, wenn nötig durch Besetzungen von Autobahnen und Mobilisierungen der lokalen Bevölkerung. Das Ziel: eine Verstaatlichung des Wassers, damit dieses als ein Grundrecht für alle zugänglich gemacht werden kann. Doch dies sei nicht die Lösung aller Probleme, erklärt Marcelo Diaz. Die Übernutzung des Wassers könne durch dessen Verstaatlichung allein nicht aufgehoben werden: «Das Hauptproblem ist die kapitalistische Produktionsweise, die den Klimawandel verursacht hat. Die Landwirtschaft hat hier früher so gut funktioniert, weil nach der Ansicht von Ökonomen nicht wirtschaftlich produziert wurde.» Die Hügel wurden nur zur Weide genutzt und es wurde hauptsächlich das Wasser vom Aconcagua zur Bewirtschaftung genommen. Die neuen Produktionsweisen bewirkten, dass sich der Grundwasserspiegel in Llay Llay in den vergangenen Jahrzehnten enorm gesenkt hat. Marcelo Diaz erinnert auch an ein Staudammprojekt von Salvador Allende, welches das Wasser des Winters ähnlich wie ein Gletscher speichern sollte, damit es dann im Sommer für die Landwirtschaft genutzt werden könnte – eines von so vielen nachhaltigen und sinnvollen Projekten, die mit dem Putsch von 1973 beerdigt wurden.

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«Rojava ist der Anfang»

ivana-hoffmanEine junge Kommunistin aus Deutschland ist im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ums Leben gekommen.

Ohne jeglichen familiären Bezug zur Region oder Kultur hat sie sich dem Befreiungskampf der syrischen KurdInnen angeschlossen.

Nach Rojava ist sie gegangen, um die Revolution zu verteidigen. Weil man hier für die Menschlichkeit kämpfen würde. Weil man hier den Internationalismus vertreten könne. «Ich will ein Teil der Revolution in Rojava sein, ich will den Kampf, der alle unterdrückten Völker verbindet, kennenlernen und vor allen Dingen die Revolution in Rojava, wenn es sein muss, mit meinem Leben verteidigen», schrieb die 19-jährige Ivana Hoffmann in einem Brief. Am 7. März wurde sie im Kampf gegen den IS im Nordosten Syriens getötet.

In Syrien und im Irak herrscht Krieg. Der radikal islamistische IS versucht hier, mit Gewalt an die Macht zu gelangen. Offensichtlich hat das Vorhaben eine starke Anziehungskraft für junge Muslimas und Muslime in Europa. Nur schon aus Deutschland sollen Hunderte für den IS in ihren reaktionären Krieg gezogen sein.

Im Norden Syriens, in Rojava, haben die KurdInnen den syrischen Bürgerkrieg ausgenutzt und sich in ihren Gebieten Selbstbestimmung und Autonomie erkämpft. Hier ist ein einmalig progressives Projekt entstanden: Religiöse und ethnische Minderheiten werden geschützt und in die Selbstverwaltung einbezogen. Es wurden basisdemokratische Strukturen aufgebaut. Und die Frauen haben das ihnen gebührende Mitspracherecht durchgesetzt.

Rojava ist damit umgekehrt zum IS zu einem Sehnsuchtsort für Linke geworden. Allerdings hält sich der Zufluss von internationalen KämpferInnen in Grenzen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht von einer zweistelligen Zahl von Personen aus Deutschland, die in den Reihen der syrisch-kurdischen YPG-YPJ, der türkisch-kurdischen PKK oder ihrer Verbündeten kämpfen. Die meisten davon dürften auch einen familiären Bezug zu dieser Region haben. Nicht so Ivana Hoffmann.

«Ein sozialer Mensch»

Ivana Hoffmann wuchs in Duisburg in Deutschland auf. Sie war noch in der Schule, stand vor dem Abitur. Ihr Vater stammt aus Togo, die Mutter ist Deutsche. Sie sagte über Ivana: «Überall, egal ob in der Schule, beim Fussball, überall war sie beliebt. Ein fröhlicher Mensch war sie, sie hat jeden zum Lachen gebracht.» Wie kam es nun dazu, dass diese junge Frau ihr Leben hergab für diesen Kampf, der nicht der ihre zu sein scheint? «Ivana war ein sozialer Mensch», erzählt einer ihrer Duisburger Freunde. «Sie wuchs mit vielen türkischen und kurdischen Freunden auf, sie konnte Türkisch und Kurdisch und sie hat sich für Frauenrechte eingesetzt. Sie wollte die Revolution von Rojava verteidigen, die ja auch eine Revolution der Frauen ist.»

Ivana war seit ihrem 13. Lebensjahr in der migrantisch geprägten kommunistischen Jugendorganisation «Young Struggle» in Duisburg aktiv, die der türkischen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) nahesteht; später war sie auch direkt bei der MLKP. In Syrien gibt es MLKP-Mitglieder, die unter dem Oberkommando der YPG kämpfen. Einer davon war Suphi Nejat Arnasl, der im Oktober im Alter von 30 Jahren bei den Kämpfen um Kobanê getötet wurde. Er stammte ebenfalls aus Duisburg, war aber bereits vor einigen Jahren zum Studieren nach Istanbul gegangen. Die zweite Person aus Deutschland, die im Bürgerkrieg fiel, ist nun Ivana Hoffmann.

Die MLKP schreibt: «Unsere Genossin ist (…) ein Beispiel für die Loslösung von allen Fesseln geworden. Statt eines anderen geordneten Lebens, hat sie sich für die Revolution entschieden.»

Für Ivana selbst scheint es nicht der Fall gewesen zu sein, als ob sie ein «geordnetes Leben» verlassen hätte. Noch vor ihrem Aufbruch in den Krieg stellte sie sich die Sache folgendermassen vor: «Ich werde erfahren, wie es sich anfühlt, eine Waffe in der Hand zu haben. Ich werde das Leben anders spüren, intensiver und geordneter.»

Eine Freiheitskämpferin

Vor einem Dreivierteljahr hat Ivana die Schule abgebrochen, um sich unter dem Codenamen Avasin Tekosin Günes einer internationalen Brigade der MLKP anzuschliessen, die im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet Rojava gemeinsam mit den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ gegen den IS kämpft. Der Mutter erklärte sie: «Ich möchte meinen Weg gehen und Freiheitskämpferin werden.»

Ivana Hoffmann war am schweren russischen Maschinengewehr BKC ausgebildet worden und hat im Kanton Cizîrê gekämpft. Ivana sei bis «zur letzten Kugel» gegen die «ISIS-Banden kämpfend bei der Verteidigung des assyrischen Dorfes Til Hemis gestorben». In jener Nacht sei sie mit «weiteren Kämpfern der YPG gefallen», der Angriff auf das christliche Dorf sei aber abgewehrt worden.

Ivana Hoffmann kämpfte in Rojava, weil ihr bewusst war, was auf dem Spiel steht: «Wir sind hier, um für die Freiheit zu kämpfen. Denn Rojava ist der Anfang, Rojava ist unsere Hoffnung.»

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La Via Campesina – der bäuerliche Weg

Jd9880sts-abtankenAuch die schweizerische BäuerInnengewerkschaft Uniterre ist Mitglied des internationalen Netzwerks La Via Campesina. Beide setzen sich zur Zeit stark für die Ernährungssouveränität ein. Ulrike Minkner, Bäuerin und -Uniterre-Sekretärin, über Struktur und Zweck der internationalen und kämpferischen BäuerInnenorganisation.

La Via Campesina (zu deutsch «der bäuerliche Weg») ist, wie der Name schon erahnen lässt, eine Organisation, die bäuerliche Interessen und eine bäuerlich geprägte Landwirtschaft vertritt. Sie wurde 1993 von 46 VertreterInnen aus unterschiedlichen Teilen der Welt in Mons in Belgien gegründet. Beteiligt waren bestehende regionale Organisationen wie die Landlosenbewegung MST aus Südamerika und ASOCODE für Zentralamerika, die Karibik und Nordamerika, Regionen, in denen La Via Campesina auch heute noch besonders stark aufgestellt ist, sowie die BäuerInnenbewegung der Philippinen (KMP) und die Europäische Landwirte Koordination (CPE) für Westeuropa. Seit Januar 2014 ist Elizabeth Mpofu, Bäuerin aus Simbabwe, die internationale Koordinatorin der Organisation. Mit heute rund 150 Mitgliedsorganisationen aus 70 Ländern ist La Via Campesina eine in weiten Teilen der Welt vertretene basisdemokratische Massenbewegung, die sich aus den rund 200 Millionen BäuerInnen, LandarbeiterInnen, Landfrauen, Landlosen, Landjugend und Indigenen aus den nationalen und regionalen Organisationen bildet. Daraus ergibt sich eine beeindruckende Vielfalt an Menschen, Kulturen, Sprachen und Formen der Landwirtschaft, die einmalig sein dürfte. La Via Campesina ist nicht nur auf der Straße präsent, sondern auch dort, wo letztlich die Entscheidungen getroffen werden. Durch die breite Basis und die globalen Aktivitäten ist die Organisation weltweit anerkannt und wird von zahlreichen Regierungen und Parlamenten sowie wichtigen internationalen Organisationen wie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und der UNO gehört.

Ernährungssouveränität als Ziel

Trotz dieser Fülle von Unterschieden vereint alle diese Menschen eine grundlegende Idee, welche es zu verteidigen oder wieder zu erlangen gilt: Die Ernährungssouveränität. Dieser auf der Welternährungskonferenz 1996 im wesentlichen von La Via Campesina geprägte Begriff bezeichnet das Recht der agrar- und ernährungspolitischen Selbstbestimmung von Ländern, Regionen und Volksgruppen und ist als politisches Konzept zu verstehen. Er beschreibt einen Zustand, in dem Lebensmittel regional durch angepasste Formen der Landwirtschaft so produziert werden, dass einerseits die Versorgung der Bevölkerung vor Ort sichergestellt ist und andererseits die natürlichen Ressourcen nicht ausgebeutet werden. Ernährungssouveränität ist das Recht aller Menschen auf gutes und kulturell angepasstes Essen, das mittels nachhaltiger Produktionsmethoden hergestellt wurde, sowie das Recht der Menschen, Nationen und Staatengemeinschaften, ihre Ernährungs- und Agrarpolitik selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität ist aber auch die Verpflichtung, die Landwirtschaft anderer Länder nicht zu beeinträchtigen. Sie beruht auf der Etablierung von lokalen Produktionssystemen, der Stärkung der lokalen Kontrolle und der internationalen Solidarität.

2007 veranstaltete La Via Campesina gemeinsam mit einigen anderen Organisationen in Mali das erste weltweite Forum für Ernährungssouveränität, das nach einer berühmten malischen Bäuerin «Nyeleni» genannt wurde. Durch dieses Forum stieg die Anzahl von Bewegungen und Initiativen, für die Ernährungssouveränität zu einem zentralen Thema geworden ist, enorm. Heute zählen dazu unter anderem die Umweltschutzorganisation Friends of the Earth International, das europäische Attac-Netzwerk, die Menschenrechtsorganisation FIAN sowie die Frauenbewegung World March of Women.

Gemeinsam und stark in Europa

Die Europäische Koordination Via Campesina (ECVC) trifft sich einmal jährlich, dieses Jahr war es in Brüssel. Die Themen Freihandelsabkommen und die Klimapolitik waren sehr bestimmend. In Arbeitsgruppen wurden Positionen erarbeitet und Informationen ausgetauscht. So berichtete die rumänische Delegation von riesigen Landaufkäufen von finanzstarken InvestorInnen (es sollen sich bereits mehr als sechs Prozent des Agrarlands in den Händen von transnationalen Konzernen befinden) und dem Verbot von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) in der Region. BäuerInnen aus Italien sprachen etwa von der Weltausstellung in Mailand. Sie wollen Gegenveranstaltungen organisieren und boykottieren die Expo. Für die Expo wurden bereits 200 Hektaren Kulturland verbetoniert und asphaltiert, für die Bauplätze, für Parkplätze und die Zufahrtsstrassen. Im Zuge der Bautätigkeiten kam es zu Landenteignungen. Der Fokus der Gegenveranstaltungen ist die regionale bäuerliche Landwirtschaft. Uniterre wird die Anliegen der italienischen Bauern und BäuerInnen im Rahmen der Anti-Syngenta-Tagung in Basel einbringen. Einzelne Organisationen stehen diesen Problemen in ihren Ländern häufig machtlos gegenüber. Aber im Bündnis mit Via Campesina bekommen wir das nötige Gewicht.

Uniterre in der Schweiz

In der Schweiz hat Uniterre als Mitglied von La Via Campesina das Thema der Ernährungssouveränität mit der Initiative auf die politische Bühne gebracht. Wir vertreten die Anliegen von Via Campesina und suchen den Dialog mit der Bevölkerung. So wie hier entstehen überall auf der Welt Initiativen für Ernährungssouveränität, welche sich vernetzen und gemeinsame Aktionen planen. Viele Leute in der Schweiz setzen die Vision bereits um. Getragen werden die Ideen von Vertragslandwirtschaftsprojekten, von Hofgemeinschaften, von Gemüsegenossenschaften, von Food-Coops, von Agriculture-Projekten in der Stadt und auf dem Land. Alle diese Initiativen sind die Basis von neuen Landwirtschafts- und Ernährungssystemen. Um uns gegen die Liberalisierungspolitik unserer Regierung zu wehren und um dem Vorhaben von Bundesrat Schneider Ammann, immer mehr Freihandelsabkommen abzuschliessen, die Stirn zu bieten, brauchen wir die politische Debatte. Weltweit kämpfen wir, so unterschiedlich die Bedingungen auch sind, mit den gleichen Problemen: Ausbreitung der GVO, die Veränderung des Weltklimas, Patentierung von Pflanzen und Saatgut, kranke Tiere in der Massentierhaltung, Antibiotikaskandale, Landgrabbing und der Industrialisierung unserer Nahrungsmittelproduktion. Unsere Initiative greift diese Problematik auf und ist, wie von La Via Campesina gefordert wird, ein umfassendes Gegenkonzept zum Ausverkauf von Landwirtschaft, Natur, Gesundheit und Ernährung.

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Barrikaden statt Bankett

FFMDer Blockupy-Aktionstag in Frankfurt war nicht nur Ausdruck eines gut organisierten internationalen und antikapitalistischen Massenprotests. Die Stimmung auf der Strasse war ebenso eine der sozialen Unruhe.

Ursprünglich war eine prunkvolle Feier geplant, doch am Ende gab es nicht mal Sekt, bloss Mineralwasser, kein Bankett, nur ein paar Oliven und anstatt überschwänglicher Lobeshymnen, hielt EZB-Präsident Mario Draghi eine fast selbstkritische Rede. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihr neues Hochhaus eröffnet. Noch gerade rechtzeitig sahen auch die EZB-FunktionärInnen ein, dass eine Feier für eine von vielen EuropäerInnen verhassten Troika-Institution nicht sehr angebracht ist. Dort Verarmungsprogramme, hier ein Freudenfest der Herrschenden. Schlechte Presse war zu befürchten. Erst recht, wenn draussen der Ausnahmezustand herrscht. Und tatsächlich war in Frankfurt am 18. März – am Tag der Pariser Kommune sowie am internationalen Tag der politischen Gefangenen – ein kleiner Aufstand im Gange. Gegen 25 000 Leute aus ganz Europa protestierten gegen die bestehenden Verhältnisse. Mehrere Tausend beteiligten sich an Blockaden und anderen direkten Aktionen. Mobilisiert hatte das nun vierjährige internationale Bündnis «Blockupy», das sich in Deutschland – von Attac bis zum linksradikalen Bündnis «…umsGanze» – aus verschiedenen Gruppen, Parteien und Initiativen zusammensetzt.

Dilettantische Polizei

Noch im kühlen Dunkel des frühen Morgens versammelten sich an vier Punkten in der Frankfurter Innenstadt immer mehr vorwiegend junge Menschen. Punkt sieben Uhr setzten sich die Gruppen in Bewegung, um die Zufahrtsstrassen zum EZB-Neubau zu blockieren. Der Blockupy-Aktionskonsens lautete «Wir sagen, was wir tun, wir tun, was wir sagen» und «von uns geht keine Eskalation aus». Natürlich ist es unmöglich, eine Grossveranstaltung mit solchen Weisungen vollständig zu kontrollieren. Darüber hinaus wird diese Strategie bei weitem nicht von allen TeilnehmerInnen akzeptiert. Die Eskalation, zu der es dann auch gekommen ist, ist aber zu einem guten Teil auf das Verhalten der Polizei zurückzuführen. Schon Tage vor der Eröffnung sperrte diese die neuralgischen Punkte mit über 100 Kilometer Nato-Draht ab und am Tag selbst waren rund 8000 PolizistInnen, vier Hubschrauber, ein Flugzeug, Polizeiboote, 28 Wasserwerfer, Panzerräumfahrzeuge und sogar die Sondereinheit GSG9 im Einsatz. Dabei vergass die Polizei aber völlig, ihre Wachen zu schützen, was schier einer Einladung gleichkam. Und anstatt hinter ihren Absperrungen zu stehen, hielten sich auf der Route vereinzelte Kastenwagen und kleinere Einheiten auf. Beim Anrücken der Masse versuchten diese wenigen PolizistInnen, ihr den Weg zu versperren. Eine völlig sinnlose Aktion, war doch etwas weiter hinten bereits die unbezwingbare Hauptabsperrung befestigt. Diese dilettantische Polizeiaktion scheiterte kläglich, die Beamten wurden von der Masse weggedrängt, die Kastenwagen angezündet. Angerückte Verstärkung prügelte sich den Weg frei und verschoss – in Deutschland ungewöhnlich – mit Gewehren Tränengaskartuschen. Auch hier ist die Frage, ob diese Eskalation von der Polizei gewollt provoziert oder aus koordinativer Inkompetenz entstanden ist, reine Spekulationssache. Die Polizeigewalt hinterliess jedenfalls 200 Verletzte, 50 davon wegen Schlagstockeinsätzen.

Ob gewaltfrei oder militant …

Natürlich gab es auch Angriffe auf Polizeieinheiten und Infrastruktur. Sieben Polizeiwannen wurden abgefackelt, eine Wache attackiert, die gesamte Strassenbahn zeitweise sabotiert, Strom- und Telekommunikationsleitungen angezündet, Banken entglast, Rüstungsproduzenten, Arbeitsagenturen und Stadtvermarktungsbüros eingefärbt, brennende Barrikaden errichtet. Doch weder das Bekennen zu gewaltfreien Aktionen noch die Anwendung von Militanz führte zu einer wahrnehmbaren Spaltung der Protestierenden. So protestierten an der abendlichen Grossdemonstration alle Spektren der Bewegung gemeinsam und mehr oder weniger ohne geschlossene Blöcke. Die Teilnahme war zudem doppelt so hoch, wie von den OrganisatorInnen erwartet – und dies trotz der morgendlichen Ausschreitungen. Eine solch besonnene Entschlossenheit ist nicht gewöhnlich. Zu oft spalten sich Bewegungen wegen unterschiedlicher Ansichten über die Taktiken. Dass es in Frankfurt nicht zu einer wesentlichen Zerklüftung kam, liegt sicherlich auch an der sich unübersehbar zuspitzenden Misere in Europa. Noch wesentlicher dürfte aber ein Lerneffekt sein, der sich immer mehr durchzusetzen scheint. Anders als bei vorangegangenen Gipfeltreffen und Gegendemonstrationen spielten sich die militanten Aktionen meistens in einiger Ferne zu den Blockadepunkten ab. Die Respektierung der gewaltfreien Ansammlungen funktionierte weitgehend. Nur selten handelten Militante aus gewaltfreien Massen heraus, sodass diese durch Polizeigewalt gefährdet gewesen wären. Es schien so, als hätte sich unter den Blockierenden ein allgemeines Bekenntnis zur Vielfalt der Aktionen etabliert. Die zahlreichen gelegten Brände, welche von der Masse nicht gelöscht, sondern verteidigt wurden, der verbreitete Wille, das EZB-Sperrgelände zu stürmen oder die Bereitschaft, die Blockadepunkte zu verteidigen, waren ein klarer Ausdruck der sozialen Unruhe.

… wichtig ist der Widerstand!

Dass mit dem rein symbolischen Protest gegen die EZB-Eröffnungsfeier der Kapitalismus nicht gestürzt wird, war auch den meisten Teilnehmenden klar. Bemerkenswert ist hierzu, dass sich rund um die seit 2012 andauernden Vernetzung des Blockupy-Bündnisses vielerlei Zusammenschlüsse gebildet haben, welche die Beschränktheit eines Gipfelprotests durchbrechen wollen. Das Ziel von Blockupy ist «eine europäische Bewegung schaffen, einig in ihrer Vielfalt, die die Macht des Krisenregimes und der Austeritätspolitik überwindet und damit beginnt, Demokratie und Solidarität von unten aufzubauen». Widerstand ist dann am wirksamsten, wenn er sich dezentral im Betrieb, in den Schulen, in den Quartieren und Strassen verschiedenster Orte äussert. Und Initiativen für die grenzüberschreitende Organisierung eines solchen Widerstandes gibt es immer mehr. So hält etwa das internationale antiautoritäre Bündnis «Beyond Europe» fest: «Die letzten Jahre haben uns die gegenwärtigen Grenzen unserer Organisierung gezeigt. Diese Grenzen wollen wir überschreiten. Nur durch koordinierte internationale Aktivität kann eine Gesellschaft jenseits von Staat, Nation und Kapital erreicht werden.» Auch fand im Februar in Rom ein von Blockupy organisiertes Treffen statt, welches einen europaweiten «Sozialen Streik» zum Ziel hat. Die Zeit für solche Vorhaben ist bestimmt nicht die schlechteste!

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Die Revolution in Rojava ist die Revolution der Frau

KobanêWo anfangen, um den Stimmen der Frauen und Frauenbefreiungsbewegung in Kurdistan Gehör zu verschaffen, zur Solidarität mit dem kurdischen Freiheitskampf und für Frauenbefreiung international aufzurufen und gegen Rassismus und europäische und andere «westliche» Kriegstreiber die Stimme zu erheben?! Das fragten sich autonome Feministinnen aus Wien und schrieben dazu eine Broschüre. Wir veröffentlichen hier in leicht gekürzte Fassung die Abschnitte über die Hintergründe der Revolution.

Die Revolution begann in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 in Kobanê. Die Selbstverteidigungseinheiten der YPG nahmen die Strassen, die in die Stadt hinein- und hinausführen unter ihre Kontrolle. Die Bevölkerung setzte zeitgleich die Belagerung und Einnahme aller staatlichen Institutionen der Stadt ein. Schliesslich versammelte sich die Bevölkerung vor dem Militärstützpunkt der Assad-Armee in Kobanê. Eine Delegation aus der Bevölkerung ging hinein, um mit dem Militär zu verhandeln. Sie sollten ihre Waffen abgeben und man werde für ihre Sicherheit garantieren, das war das Angebot der kurdischen Seite.

Frauenbewegung, Frauenräte und Frauenzentren

Unter diesen Umständen haben sich die Frauen organisiert, aus der langjährigen Überzeugung, dass die Revolution ohne Befreiung der Frauen nicht möglich ist. Delsha Osman, Mitglied der Koordination der Yekitîya Star: «Wir können die Situation in Westkurdistan und Syrien nicht losgelöst von den Entwicklungen im Mittleren Osten und in Nordafrika betrachten. Auch viele Frauen haben sich an diesen Aufständen (…) mit grossen Hoffnungen und Emotionen beteiligt. Allerdings waren sie nicht organisiert. Deshalb konnten sie ihre Forderungen nicht durchsetzen und wurden vereinzelt aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt. Demgegenüber können Frauen in Westkurdistan heute auf die Analysen und die 30jährige Erfahrung der Organisierung der kurdischen Befreiungsbewegung zurückgreifen. Das war die Grundlage, die den Weg dafür geöffnet hat, dass wir unter dem Namen ‚Yekitîya Star‘ im Jahr 2005 unsere eigene Organisierung aufbauen konnten. Yekitîya Star ist zu einer neuen Identität geworden, über die sich Frauen definieren und organisieren können. Die Zielsetzung von Yekitîya Star ist es, eine demokratische, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft aufzubauen und als Frauen eine treibende und gestaltende Kraft in diesem Prozess zu sein.»

«Früher konnten wir als Frauen nicht am öffentlichen Leben teilnehmen. Entweder stand uns unser Vater oder unser grosser Bruder im Weg», sagt Zeynep Muhammed, eine Koordinatorin der Yekitiya Star. In Rojava sind die Frauen heute eine treibende Kraft in der Rätedemokratie, denn «die Frau kann in den Bereichen, in denen sie organisiert ist, die männliche Dominanz hinterfragen und bekämpfen», sagt eine kurdische Aktivistin. Sie organisieren sich eigenständig, bauen Frauenräte und Frauenzentren in den befreiten Kommunen und Städten auf und spielen eine tragende Rolle in den allgemeinen Strukturen, bei denen eine vierzigprozentige Geschlechterquote gilt und die über eine geschlechterparitätische «Doppelspitze» verfügt.

In den Stadtteilen und Dörfern werden Frauenräte organisiert, die Frauenkommunen. Aus Vertreterinnen der Frauenkommunen setzt sich der Frauen-Stadtrat zusammen und dies entsendt Delegierte an den Frauenrat des Kantons. Zuletzt gibt es noch eine Frauenkoordination, die sich aus den Frauen der drei Frauenräte der Kantone zusammensetzt. «Die Frauenräte sind das verbindende und beschlussfassende Gremium aller Frauen (…) Nuha Mahmud erklärt zum Beispiel, dass auch zahlreiche arabische und christliche Frauen sich an den Rat wenden, zum Beispiel wenn die Frauen den Wunsch haben sich scheiden zu lassen. (…) [auch aufgrund] sexueller Gewalt wenden sie sich an Räte. (…) Frauen, die vergewaltigt wurden, [werden] oft von ihren Familien verstossen, manchmal sogar ermordet. Daher hätten Frauen logischerweise oft geschwiegen, nun sieht es anders aus», schreibt Anja Flach.

Patriarchale Praktiken überwinden

Die Frauen bauen ihre eigenen Frauenbildungseinrichtungen und Frauenzentren auf. Delsha Osman sagt: «Dutzende Frauen konnten vor dem Tod bewahrt werden. Es wurde verhindert, dass sie Opfer von ‚Ehrenmorden‘ werden. In diesen Häusern finden Frauen Solidarität und Unterstützung.» Zusätzlich gibt es ein wöchentliches Bildungsangebot für die Frauen zu Themen wie den gesellschaftlichen Sexismus, die Geschichte der Frau, die demokratische Autonomie oder die legitime Selbstverteidigung.

Die Yekitîya Star konnte wichtige Beschlüsse auf der Konferenz des Volksrates durchsetzen: Morde «im Namen der Ehre» werden als Verbrechen gegen Frauen und die Gesellschaft verurteilt und bestraft. Patriarchale Praktiken, wie die Verheiratung im jungem Alter, arrangierte Ehen bei der Geburt, Zwangsverheiratung usw., werden geächtet und nicht akzeptiert. Verheiratete Männer, die zusätzlich eine weitere Frau heiraten, werden aus allen Organisationen und Gremien ausgeschlossen. Für die «Frauenarbeit» als Frauenorganisierung für Frauenbefreiung gilt eine gemeinsame Verantwortung. Zum Beispiel können Männer die Frauenarbeit unterstützen, indem sie sich mit sich selbst auseinandersetzen und ihre patriarchalen Denk- und Verhaltensweisen überwinden. Gleichzeitig baut die Yekitîya Star eine Zusammenarbeit mit Frauen anderer Bevölkerungsgruppen auf. «Wir haben gemeinsame Plattformen mit arabischen, assyrischen und ezidischen Frauen sowie Beziehungen zu verschiedenen Frauen und Frauenorganisationen aufgebaut. Ein wichtiges Anliegen ist es hierbei, ein demokratisches Zusammenleben aller Volksgruppen und Religionen mit ihrer eigenen Identität zu verwirklichen, sowie Nationalismus und religiösen Spaltungen entgegenzuwirken», so Delsha Osman.

Neuer Gesellschaftsvertrag

Die Selbstverwaltung durch Rätedemokratie wird mit Volksräten, Frauenräten, Räten von Bevölkerungs- und religiösen Gruppen aufgebaut. Die unterste Organisationsstruktur ist die Kommune, die meist aus 30 bis 150 Haushalten besteht. Die nächsthöhere Organisationsstruktur ist in einem Stadtteil bzw. in einer Dörfergemeinschaft, die etwa sieben bis zehn Dörfer umfasst, dann folgt die Organisierung auf Kommunalebene und in Kantonen. Den Räten sind Komitees angegliedert.

Auf die Bildung der Bevölkerung wird besonderen Wert gelegt. «Alle Mitglieder der Komitees und der Verwaltung nehmen an der Ausbildung in den allgemeinen Volksakademien teil, wo das neue Paradigma detailliert erläutert wird. Zudem findet Unterricht statt zu Themen wie demokratische Kultur und Volksverwaltung. Für die Bevölkerung selbst gibt es in den Stadtteilen und den Dörfern regelmässig Seminare und Diskussionsrunden. Und in regelmässigen Abständen organisieren wir Volksversammlungen. Dort wird über die politische Situation und über Lösungen für gesellschaftliche Probleme diskutiert. Wir nehmen die Kritik, Vorschläge und Bewertungen aus der Bevölkerung sehr ernst», sagt Asya Abdullah von der PYD.

Alle Bedürfnisse der Bevölkerung, von Gesundheit bis Sicherheit, werden durch die Komitees abgedeckt. Aber es gibt natürlich auch Einschränkungen, Engpässe und Schwierigkeiten, vor allem durch die Kriegssituation in Syrien, aber auch durch das Embargo – unter anderen von der Türkei und der Regionalregierung in Südkurdistan (im Nordirak).

Für eine kollektive Ökonomie

Dara Kurdaxi, Wirtschaftswissenschaftlerin und Vertreterin des Komitees für wirtschaftliche Belebung und Entwicklung von Afrîn: «Es soll kein kapitalistisches System sein, das seiner Umwelt keinen Respekt zollt; und auch kein System, das die Klassenwidersprüche fortsetzt und letzten Endes nur dem Kapital dient». Das Wirtschaftsmodell Rojavas sei eine Antwort auf den Neoliberalismus der kapitalistischen Moderne und eine Kritik am Staatskapitalismus realsozialistischer Prägung. Eine volksnahe Wirtschaft sollte deshalb auf Umverteilung und Nutzorientierung beruhen, statt sich ausschliesslich an der Anhäufung und am Raub von Mehrwert und Mehrprodukt zu orientieren. Das Modell Rojavas soll ein Modell für den ganzen Mittleren Osten sein.

Eine besondere Bedeutung hat das neue Rechtssystem. Auf der untersten Ebene arbeiten die «Friedens- und Konsenskomitees», die in den Dörfern und Stadtteilen gebildet wurden. Damit wird eine traditionelle Struktur der «Ältestenräte» aufgebaut, aber mit den Werten des Gesellschaftsvertrages von Rojava gefüllt, in dem Rätedemokratie, Geschlechterbefreiung und Menschenrechte festgeschrieben stehen. Auf der Kommunalebene besteht eine Doppelstruktur dieser Komitees, ein allgemeines Komitee und ein Frauenkomitee, das für Fälle von patriarchaler Gewalt, Zwangsehe, Mehrehe, Vergewaltigung etc. zuständig ist. Diese Frauenkomitees sind direkt an die Yekitîya Star angebunden und sollen garantieren, dass sich in Fällen patriarchaler Gewalt nicht patriarchale Rechtsbesprechung durchsetzt.

Das Recht auf Selbstverteidigung

Der kurdische Freiheitskampf sieht seit Ende der 90er Jahren, nach ausführlichen Diskussionen, nicht mehr den «Volkskrieg zur Befreiung von Kolonialherrschaft», als strategisches Konzept, sondern die «Legitime Selbstverteidigung». Diese beinhaltet eine soziale Revolution und internationale Perspektive und hat zum Ziel die Selbstorganisierung der Bevölkerung zu verteidigen und zu schützen. «Die Organisierung von Selbstverteidigungskräften ist eine grundlegende Voraussetzung, um gegen jede Form von Unterdrückung, Fremdbestimmung und Herrschaft einen eigenen Willen und Entscheidungskraft entwickeln zu können. Damit ist die Fähigkeit zur Selbstverteidigung das Fundament der Selbstbestimmung», sagt Hevala Servin, feministische Internationalistin im kurdischen Freiheitskampf. Die Frauenbefreiungsbewegung Kurdistans schreibt 2010: «In der sexistische Gesellschaft, in der wir leben, stellt nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft eine Quelle der Gewalt dar. In dieser Situation können Frauen, die keine Verteidigungsmöglichkeiten haben, in jedem Land und in jeder Kultur leicht zum Ziel von Gewalt werden.» Sie sehen Selbstverteidigung als eine wichtige Grundlage für die Frauenbewegung.

Aus der Printausgabe vom 27. Februar 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Syriza in den Startlöchern

crimeDer Athener Genosse Spyros Dapergolas beschreibt in diesem Artikel für die Zeitung Internationell Solidaritet der schwedischen syndikalistischen Gewerkschaft SAC, wie revolutionär die Pasok einst war, wie Syriza tickt und was von ihr erwartet werden kann. Der Text erschien noch am Vortag der Wahlen und liegt hier übersetzt vor. 

Der 18. Oktober 1981 war ein symbolischer Tag für das Nachkriegs-Griechenland. Nicht einmal sieben Jahre nach der Rückkehr griechischer Linker aus dem Exil und nach den Folterungen, die auf den Fall der Militärjunta folgten, schaffte es eine linke Partei plötzlich, ihre Wählerprozente zu multiplizieren und die Macht zu ergreifen. Ihr politisches Programm schreckte die rechten Kräfte der griechischen Gesellschaft (die GewinnerInnen des griechischen Bürgerkriegs), wie auch Teile der Oberschicht auf. Das Programm der Partei beinhaltete etwa den Austritt Griechenlands aus der Europäischen Gemeinschaft, die Loslösung von der NATO und der US-Einflusssphäre, eine massenhafte Sozialisierung von Unternehmen und gesellschaftliche Kontrolle in Fabriken, eine Auflösung/Desintegration des militärischen Parastaates, eine Attacke auf die rechtsaussen stehende orthodoxe Kirche sowie Freiheiten, die heute selbstverständlich sind. Die Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) war eine wirkliche Linkspartei, die eine friedliche sozialistische Transformation propagierte (und für den Notfall dennoch Gewehre hortete). Sie war eine radikale Partei, selbst für die 1980er-Jahre. Die Parallelen mit Syriza sind offensichtlich.

Was ist Syriza?

Syriza startet als eigenartige Sammlung. Sie ist die Evolution einer abscheulich vulgären und reformistischen, historischen eurokommunistischen Strömung, in der linke Gruppen des gesamten Spektrums – von leninistischen KetzerInnen bis zu den Basisbewegungen und anderen AktivistInnen – koexistieren. Syriza «wird aus dem Nichts kommend alles», genau wie damals die Pasok. Aber verglichen zur Pasok, transformiert sich Syriza schneller, ihr politisches Programm ist nie so radikal, wie jenes von Pasok in den 1980er, zudem besteht Syriza nur aus ein paar Tausend Mitgliedern.

Die Machtübernahme in der Syriza durch Tsipras – er war der Auserwählte des früheren Parteichefs – im Jahr 2008 bedeutete die Aufgabe des Eurokommunismus und die Schaffung einer neuen politischen Identität. Mit einer Rhetorik, die mit der libertären Tradition flirtet, mit einer Fixierung auf politische Rechte und mit einer Mitglieder-Präsenz auf der Strasse, zielte diese neue Identität darauf ab, soziale Kämpfe und Forderungen zu unterstützen. Schliesslich brachten die linken Parteien ihre Erfahrungen in Kämpfen der Strasse sowie eine kleinere Anzahl kämpferischer Mitglieder mit, für welche die erwähnte Neuorientierung für eine gewisse Einheitsbildung notwendig war.

Keine linke Einheitspartei

Zur selben Zeit versuchte Tsipras, den Einfluss von Syriza in den Gewerkschaften zu mehren, dies hauptsächlich im öffentlichen Sektor und unter den organisierten Studierenden der Universitäten. Zusätzlich propagierte Syriza, welche damals nicht mehr als 4 Prozent der WählerInnen hinter sich hatte, kontinuierlich die generelle und emotionale Einheit des gesamten linken Spektrums in Griechenland, auch wenn dies zuvor sowohl von der Griechischen Kommunistischen Partei (KKE), als auch von anderen linken Kräften ausserhalb der Syriza offen abgelehnt worden war.

Ferner musste die 4-Prozent-Partei als Sündenbock für das gesamte rechte und faschistische Spektrum herhalten: Syrizas einwanderungsfreundlichen Positionen, ihre relativ säkularen Ideen, ihre Polemiken gegen die sozialen Diskriminierungen und ihr Antinationalismus standen unter ständigem und manchmal hysterischem Beschuss.

Diese alte Syriza zog eine riesige Wählerdynamik auf sich, welche die Parteikader niemals vorhersagen oder planen hätten können. Von einer Oppositionspartei, die sich bemühte, die für den Parlamentseinzug nötige 3-Prozenthürde zu erreichen, wandelte sich Syriza zu einer Partei, welche die KKE weit überholte, die symbolische Hegemonie in der Linken übernahm und mit der Machtübernahme zu liebäugeln begann.

Einige Worte zum politischen Klima

In Griechenland erlebten die ArbeiterInnen das Ende des Traumes der Prosperität und wurden Zeugen der Lüge hinter den systematischen Versprechen der EU und Griechenland. Die ArbeiterInnen sahen sich mit Arbeitslosigkeit oder mit viel tieferen Löhnen konfrontiert, gezwungen, für ihre Gesundheit zu zahlen, und gleichzeitig Leistungen zu verlieren.

Für die Älteren ist die Situation noch schlechter, da sie nicht nur ihre Renten verlieren, sondern auch von dem verschlechterten Gesundheitswesen abhängig sind. Alles was den «Wohlfahrtsstaat» ausmachte, schrumpfte, wurde teurer und schlechter. Die allgemeine Korruption war aufgeteilt. In diesem Rahmen diente die Korruption, die unter den Leuten der gesellschaftlichen Basis gefunden werden konnte, als Alibi für massenhafte Kürzungen bei Sozialleistungen. Ging es jedoch um die bourgeoise oder staatliche Korruption, blieben die Mitglieder der oberen Klasse unangetastet.

Die zwei früheren grossen Parlamentsparteien (Pasok und Neue Demokratie) wurden schwerwiegend entwertet. Da diese nicht länger Stimmen «kaufen» können durch simple «Austausche» (etwa Anstellungen im öffentlichen Sektor oder Steuerreduktionen) und zugleich versuchen, so viel zurückzunehmen wie sie durch ihren politischen Klientelismus weggegeben haben, sind sie nur noch Schatten ihrer Vergangenheit.

Die rechte Neue Demokratie (ND) überlebte, weil sie genug Glück hatte, die Bombe des wirtschaftlichen Zusammenbruchs 2009 an die Pasok-Regierung weiterzugeben. ND war seit 2012 an der Regierung und sammelte eine heterogene Dynamik von WählerInnen, die rechtsaussen, konservativ, liberal, bourgeois oder oligarchisch waren. Doch auch politische Professionelle, verängstigte KleinbürgerInnen und ältere WählerInnen, die damit rechnen, dass sie nur noch wenige Jahre leben werden und deshalb nicht ihre Pensionen und ihren Frieden durch eine linke Regierung aufs Spiel setzen wollen, stehen hinter ND. Dennoch erreicht die Partei bloss die Hälfte der vergangenen parlamentarischen Stärke.

Der andere Pol des Zweiparteiensystems und Mitglied der Regierungskoalition, die Pasok, schrumpfte auf 4 Prozent und ist mit dem Risiko konfrontiert, nicht einmal ins Parlament einzuziehen, besonders angesichts der Abspaltung durch Papandreou vor einigen Wochen.

Die zwei Parteien, die von jenen profitieren werden, die entschieden haben, nicht mehr ND oder Pasok zu wählen, sind die FaschistInnen von der Goldenen Morgenröte und die Syriza. In ein paar Tagen, am 25. Januar, werden diese Dynamiken in den Wahlresultaten abzulesen sein.

Syriza ante portas

Die Geschichte von der Realpolitik, die jede radikale Kraft kreiert, sobald sie mit der Macht konfrontiert ist, wurde schon oft erzählt. Syriza ist noch nicht an diesem Punkt angelangt. Die aktuelle Realpolitik von Syriza ist es, es allen Recht zu machen. Sie propagiert ihre Verpflichtung zu den demokratischen Institutionen, während sie gleichzeitig ihre Verbindungen zu den Basisbewegungen rühmt. Freimütig unterstützt sie das Szenario des Verbleibs in der EU unter der Bedingung, dass letztere eine Union der Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit wird. Syriza predigt Basiskämpfe, will aber deren Dynamiken in Wählerzahlen reflektiert sehen. Sie verurteilt Gewalt und Brüche mit der Rechtsordnung während verschiedener Kämpfe, doch tut sie dies nur halbherzig. Sie verurteilt den Imperialismus und alle Arten von Interventionen, während sie zu Griechenlands Position in der NATO schweigt. Sie flirtet mit Russland, China und den USA. Es kursieren Gerüchte über Arrangements mit der besitzenden Klasse. Gleichzeitig unterstützt Syriza von Repression bedrohte anarchistische Besetzungen und anarchistische Hungerstreikende.

Syrizas Hauptanliegen ist alle zufrieden zu stimmen. Was sonst könnte sie tun, besonders da sie bloss daran interessiert ist, die Wahlen zu gewinnen?

Wir müssen uns einer Sache bewusst sein: Wenn wir von Syriza sprechen, verweisen wir auf eine politische Kraft, deren Wahl und soziale Dynamiken unausgeglichen sind. Wer denkt, dass Syriza in Griechenland oder in Europa wichtige sozialistische Änderungen einführt, peitscht ein totes Pferd.

Veränderung für aber ohne die Klasse?

Die notwendigen Bedingungen, die Radikalismen erlauben würden, sind schlicht nicht vorhanden: Das Gewerkschaftswesen im Privatsektor ist eine unbedeutende Bewegung, die von der KKE kontrolliert wird. Die Studierendenbewegung ist laut und bestimmt aber sie ist auch relativ klein, saisonal und hat einen Hang zum Linkspopulismus. Zwar gibt es ein paar lokale Kämpfe, doch wird Syriza auf diesem Gebiet ernsthaft von den AnarchistInnen und der revolutionären Linken herausgefordert. Selbst in den Bereichen der sozialen Rechte, der Solidarität mit Gefangenen und im Antifaschismus versucht Syriza verzweifelt, von der von AnarchistInnen auf der Strasse geschaffenen Medienaufmerksamkeit und von diesem politischen Kapital zu profitieren.

Die griechische Gesellschaft, die ArbeiterInnen, die soziale Basis gingen durch fünf harte Jahre, in denen sie alle Kampfmittel ausprobiert haben, die von früheren sozialen Konflikten und Kämpfen bekannt waren. Und es war ein totaler Reinfall. Mit wenigen Ausnahmen, die aktiv blieben (und diese werden Syriza in den Wahlen kaum unterstützen), sind die ArbeiterInnen isoliert zu Hause. Viele von ihnen warten auf Syriza mit einer schwachen Hoffnung.

Ist es in einer derart globalisierten Umgebung möglich, grössere Umbrüche ohne allgemeine soziale Unterstützung der Klasse voranzutreiben? Sind Veränderungen für die Massen ohne die Massen möglich? Nein, das ist unmöglich und die Aktiven in Syriza wissen das ganz genau.

Zweifelsohne gibt es ehrliche Kader in der Partei (und für die griechischen systemischen Gewohnheiten ist das selten). Es gibt in der Syriza erfahrene linke AktivistInnen, die sich nie an die Pasok verkauft haben, obwohl sie es gekonnt hätten, gutwillige Radikale aus den Nachbarschaften und Arbeitsstätten. Diese Leute kämpfen heute und morgen innerhalb der Partei für die ewige linke Illusion eines freien sozialistischen Staatswächters der ArbeiterInnenklasse. Klar ist es amüsant, zu beobachten, wie überraschter Ekel sich auf den Gesichtern der Rechtsextremen breitmacht angesichts des nahenden «Sieges der national-nihilistischen Bolschewiken». Es ist gut, dass sich mehr Menschen der repressiven Agenda des Faschismus widersetzen. All dies ist dennoch temporär.

Ein Teil der altgedienten Mitglieder der Pasok ist schon zu Syriza übergelaufen und greift, entlang den Überbleibseln der eurokommunistischen Tendenz, nach der Macht in der Partei, denn je näher diese an der Macht ist, desto weniger Platz bleibt für die «verrückten Linken». Diese Tendenz zeigt etwa der Fakt, dass sie beim Konflikt mit Deutschland und der EU über die Schulden- und Austeritätsmassnahmen bereits zurückkrebsen.

Kompromiss statt Umsturz

Zusätzlich müssen wir beachten, dass Syriza einen Staat zu regieren haben wird, in dem der bürokratische Mechanismus aus ehemaligen Pasok-Mitgliedern und der repressive Mechanismus, das heisst der tiefe Staat (Armee, Polizei und Justizsystem) aus Rechten und FaschistInnen bestehen. Wenn wir davon ausgehen, dass Syriza keine Junta etablieren kann, wie soll sie den Staat kontrollieren, wenn nicht durch Austausch und Verhandlungen mit diesen Akteuren?

Die alte radikale Syriza der 4 Prozent träumt noch immer von Umstürzen. Sie wollten, doch sie konnten nicht! Syriza bleibt nur der Kompromiss. Er ist das einzig mögliche Ziel auf dem Regierungsweg einer linken Partei, welche die Macht nicht mit Gewalt ergreifen will. Was bleibt, ist eine Partei, die nicht einmal organisierte Massen loyaler WählerInnen hinter sich hat. Die Regierungs-Syriza der 30 Prozent träumt vom Überleben an der Macht. Umstürze kann sie nicht herbeiführen, doch schlimmer ist, sie will auch nicht mehr umstürzen.

Was wird nach den Wahlen passieren?

In den ersten zwei Jahren nach 1981 realisierte Pasok, die aus mindestens 400 000 fanatischen Mitgliedern bestand, welche der Partei die Linie vorgaben, einige Punkte aus ihrem Programm. Sie erhöhte Löhne, etablierte Gewerkschaftsrechte und sozialisierte (heuchlerisch und von oben herab) ein paar Unternehmen, die eigentlich geschlossen werden sollten. Nach fünf Jahren an der Macht fokussierte Pasok nur noch darauf, im grossen Stil Linke im öffentlichen Sektor anzustellen, was zuvor 40 Jahre verboten war. Auch beendete sie einige mittelalterliche Gesetze und solche aus dem Bürgerkrieg. Als nächstes wurde die Partei sozialdemokratisch und dann liberal. Pasok tauchte in die Korruption ab und vor ein paar Jahren schliesslich öffnete sie Tür und Tor für die von der EU angeführten wirtschaftlichen Überwachung und die auferlegten Austeritätsmassnahmen.

Es gibt die Möglichkeit, dass Syriza diese Art der Parteievolution wiederholen wird, nur viel schneller und nicht in einem so grossen Umfang.

Eine mögliche erfolgreiche Verhandlung über die Schulden, eine essentielle Entlastung von der Austerität und was immer Positives Tsipras der griechischen Gesellschaft garantieren kann, wird als Sieg über die internationalen Kredithaie präsentiert werden, wird die Syriza in der Macht stärken und das alte politische Personal kaputtmachen.

Wenn man sie nicht ertragen müsste, wäre es extrem amüsant, dieses alte politische Personal nun zu beobachten: Sie haben Angst, sind parasitär, korrupt, religiös besessen und mit Bürgerkriegskomplexen versehrt, eine unglaubliche Kombination von NationalistInnen und KollaborateurInnen. Wenn der Kontrast zwischen der Regierung und Syriza riesig erscheint, so ist das, weil die gegenwärtige Regierung widerwärtig ist.

Deshalb wird Syriza, obwohl sie offensichtlich undurchsichtig ist, die Wahlen gewinnen. Wenn Syriza mit irgend etwas durchkommt, selbst mit einer kleinen Sache, wird das politisch für lange Zeit halten. Wenn sie scheitert, das heisst, wenn Deutschland als dominanter Staat in der EU beabsichtigt, mit Griechenland zu brechen, dann wird die Entwicklung der Ereignisse zweifelsohne völlig unvorhersehbar.

Es gibt nichts, das anzeigen kann, was in einem solchen Szenario die Reaktion der griechischen Gesellschaft sein wird. Nicht einmal, ob die Gesellschaft in eine emanzipatorische oder reaktionäre Richtung schreiten wird.

Was sollte geschehen?

Wenn es darum geht, ein intaktes Management der griechischen Schuldenkrise sowie dem Wahnsinn der Austerität zu bewerkstelligen, dann, ja, ist Syriza die Lösung. Das wäre eine fortschreitende systemische und beruhigende Lösung für den schrumpfenden «Mittelstand» wie auch für die kleinbürgerlichen Teile der griechischen Gesellschaft, welche die Illusion haben, dass all dies vorübergehend sei.

Für jene, die mehr wollen, für jene, die an ihrer Klasse interessiert sind, für jene, die nach Selbstorganisierung und Partizipation streben, für die Menschen der Kämpfe aller Sorten ist Syriza eine Illlusion. Es ist nicht Syrizas Fehler, dass die ausgebeutete Gesellschaft ruhig ist. Und es ist nicht Syrizas Fehler, wenn die neue Generation dem Parlamentarismus und dem Unsinn linker Herrschaft verfällt.

Es ist ein langer Weg und er verlangt viel Arbeit an der Basis: Die Verbindung der ArbeiterInnen mit den Gemeinplätzen durch einen militanten und horizontalen Syndikalismus, durch Selbstorganisierung in Nachbarschaften und durch ein radikales politisches Engagement mit libertären/anarchistischen Ideen und Praktiken.

Die wenigen Kräfte in Griechenland, die im Klassensyndikalismus, in lokalen sozialen Bewegungen und in der anarchistischen Bewegung daheim sind, umfassen ein subversives politisches Kapital, welches klein ist, aber nicht so klein.

Sozialer Wandel erlaubt keine indirekten Wege und der Weg der Macht ist die ultimative Sackgasse. Es kann den Anschein machen, dass Zeit vorhanden ist, aber es könnte auch nicht so sein: Momente der Krise, Momente, in denen die Ohren der ArbeiterInnen offen sind, Momente, die verlangen Risiken einzugehen, treten nicht nur durch bewusste Vorbereitung ein, sondern oft auch «wie Diebe während der Nacht». In jedem Fall kann nur eine soziale Bewegung, die sich der Basisarbeit verschrieben hat, die Kanäle der Kommunikation und der politischen Gärung geschaffen hat, und die ihre Beständigkeit bewiesen hat, der Funke sein, welcher die Massen befähigt, zu explodieren.

Alles andere ist ein Rezept für das Versagen, Enttäuschung, ein Verlust von Zeit und natürlich eine politische und individuelle Korruption, also das, was Macht und Staat immer kreieren. Wie einst mit Pasok, so einmal mit Syriza…

Das englische Original gibt es hier: http://internationellsolidaritet.com/2015/01/24/syriza-at-the-gates/

«Syriza, lasst Acunbay frei!»

SoliaktionSeit Juni 2014 sitzt der in der Schweiz als politischer Flüchtling anerkannte Muzaffer Acunbay in Griechenland in Auslieferungshaft. Am 13. Februar entscheidet nun die höchste griechische Instanz, ob er in die Türkei ausgeliefert wird, wo ihm lebenslange Haft und Folter drohen. Rund sechzig Personen demonstrierten am Freitagnachmittag, dem 6. Februar, in Bern mit der Parole «Syriza, lasst Acunbay frei!». Die Demo führte von der Heiliggeistkirche über den Casinoplatz zur griechischen Botschaft. Die Demonstration ist Teil einer Kampagne, die sich seit mehreren Monaten mit dem in vielerlei Hinsicht brisanten Schicksal von Muzaffer Acunbay beschäftigt. Neben dem Komitee «Freiheit für Muzaffer Acunbay» und «Solidarité sans frontières» fordern verschiedene Organisationen seine umgehende Freilassung und ungehinderte Rückkehr in die Schweiz.

Politisch anerkannter Flüchtling

Muzaffer Acunbay lebt seit mehr als zehn Jahren als politisch anerkannter Flüchtling in der Schweiz. Er ist im Oktober 2003 in die Schweiz eingereist und lebt seither in Zürich. Sein Asylgesuch wurde schon im Juni 2004 positiv beantwortet. Muzaffer Acunbay war in den 90er Jahren auf Grund seiner politischen Aktivitäten in der Türkei verhaftet und während seiner Vernehmung durch die türkische Geheimpolizei aufs Schwerste gefoltert worden. Schliesslich wurde er vom berüchtigten türkischen Staatssicherheitsgericht (DMG), welches schon mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für seine ungerechten und politisch motivierten Urteile kritisiert wurde, zu lebenslanger Haft verurteilt. Acunbay war über neun Jahre in verschiedenen türkischen Gefängnissen inhaftiert, wo er aufgrund seines sehr schlechten Gesundheitszustandes in Folge der unmenschlichen Haftbedingungen sowie eines mehrmonatigen Hungerstreiks vorübergehend freigelassen wurde. Von einer erneuten Inhaftierung bedroht, floh er schliesslich in die Schweiz.

Knast statt Ferien

Im Sommer 2014 machte Muzaffer Acunbay Ferien in Griechenland. Zuvor hatte er beim Bundesamt für Polizei (Fedpol) abgeklärt, ob gegen ihn ein internationaler Haftbefehl vorliegt, denn schon mehrfach wurden in der Schweiz anerkannte Flüchtlinge im Ausland verhaftet, da sie seitens der Türkei per Interpol zur Fahndung ausgeschrieben waren. Schliesslich beschied ihm das Fedpol schriftlich, dass kein internationaler Haftbefehl gegen ihn vorläge. Trotzdem wurde er bei einer routinemässigen Strassenkontrolle in Griechenland im Juni 2014 völlig überraschend verhaftet. Seither sitzt Acunbay im Knast. Am 7. November 2014 beschloss ein griechisches Gericht erstinstanzlich seine Auslieferung in die Türkei. Nach einem Rekurs steht am 13. Februar 2015 die höchstinstanzliche Verhandlung an. Dann wird entschieden, ob die griechischen Behörden daran festhalten, Acunbay an die Türkei auszuliefern.

«Das neu gewählte politische Linksbündnis Syriza soll dieses Unrecht verhindern», fordert Ahmet Taner vom Komitee «Freiheit für Muzaffer Acunbay». Da sein Status als politischer Flüchtling seitens der Schweiz anerkannt wurde, darf Acunbay gemäss der 1951 verabschiedeten Genfer UN-Flüchtlingskonvention nicht an ein Land, aus dem er auf Grund politischer Repressionen und Verfolgung geflohen ist, ausgeliefert werden. Doch obwohl diese Konvention auch für Griechenland rechtlich bindend ist, haben die dortigen Behörden Acunbay festgenommen und erstinstanzlich entschieden, ihn an die Türkei auszuliefern. Dieses Urteil verstösst sowohl gegen internationales als auch griechisches Recht.

Türkei missbraucht Interpol

«Der Fall Acunbay ist aufgrund mehrerer Aspekte brisant. Er zeigt, dass die Schweiz keinen uneingeschränkten Zugang zu der Interpol-Datenbank hat, in der die internationalen Haftbefehle aufgeführt sind. Dieser eingeschränkte Zugang kann, wie sich nun zeigt, Menschenleben gefährden. Die Schweiz müsste deshalb gewährleisten können, dass anerkannte Flüchtlinge automatisch von der Interpol-Datenbank gelöscht werden, sofern dies nicht die internationale öffentliche Sicherheit gefährdet», fordert «Solidarité sans frontières» in ihrer Solidaritätsbotschaft vom 6. Februar.

Mehrere ähnlich gelagerte Fälle aus der jüngeren Vergangenheit belegen, wie die Türkei Interpol instrumentalisiert und missbräuchlich gegen politisch unliebsame Personen einen internationalen Haftbefehl erlässt, sie so terrorisiert und in ihrer Bewegungsfreiheit massiv einschränkt. Sollte Griechenland tatsächlich die Auslieferung von Muzaffer Acunbay an die Türkei beschliessen, droht ihm eine lebenslange Haft sowie schwerste Misshandlungen. Deshalb fordert «Solidarité sans frontières» die Schweizer Behörden auf, sich vehement für seine Freilassung und seine Rechte einzusetzen. Die Situation in türkischen Knästen ist bis heute schockierend: Es wird massiver Druck auf die Häftlinge ausgeübt. Insbesondere Personen, die auf Grund ihrer politischen Aktivität zu Haftstrafen verurteilt wurden, werden von anderen Häftlingen isoliert. Kranke Häftlinge werden oftmals dem Tod überlassen. Nahezu wöchentlich veranstalten deshalb Menschenrechtsorganisationen in der Türkei Kundgebungen gegen diese unmenschlichen Zustände. Auch kann Muzaffer Acunbay mit keinem fairen und rechtsstaatlich angemessen Verfahren rechnen, da die türkischen Gerichte bis heute nicht unabhängig sind, wie selbst Staatspräsident Abdullah Gül unlängst einräumen musste.

Aus der Printausgabe vom 13. Februar 2015. Unterstütze uns mit deinem Abo

Italien-Rückführungen – Das Elend mit dem Schweizer Humanlabel

lampe-sos«Solidarité sans frontières» hat eine Petition mit dem Titel «Stoppt die Rückschaffungen nach Italien» lanciert. Es ist offensichtlich, dass Italien die Neuankünfte über das Mittelmeer nicht mehr bewältigen kann. Die Forderung ist also inhaltlich folgerichtig, taktisch jedoch umso bemerkenswerter. Die Schweizer Asylpolitik kann nicht ohne Blick nach Italien verstanden werden. Allen «Bemühungen» der letzten zwanzig Jahren zum Trotz – Rückübernahme-Abkommen, Militär an der Tessiner Grenze, diplomatische und technische Gespräche auf allen Ebenen – bleibt die Zahl der über das Land in die Schweiz eingereisten Asylsuchenden hoch. In seiner kommentierten Asylstatistik für das Jahr 2014 zieht das «Staatssekretariat für Migration» (SEM) folgenden Schluss: «Aufgrund des hohen Migrationsdrucks auf die Küsten Italiens und der damit einhergehenden Überlastung des italienischen Asyl- und Aufnahmesystems ist die Dublin-Zusammenarbeit mit Italien, dem wichtigsten Dublin-Partnerstaat, im Jahr 2014 (…) anspruchsvoller geworden und war während mehrerer Monate stark beeinträchtigt.»

Fürwahr: Über das Mittelmeer sind allein letztes Jahr 166000 Bootsflüchtlinge in Süditalien eingetroffen. Ginge es nach dem Dublin-Assoziierungsabkommen, müsste das Land für sie alle aufkommen, eine Unterkunft zur Verfügung stellen, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Schule, etc. So wie schon für die 42925 gestrandeten Bootsflüchtlinge 2013 und die über 13 000 ein Jahr zuvor. Ende 2014 verfügte Italien jedoch nur über 24 771 Plätze. Das reichte bei weitem nicht einmal, um die 76?263 bereits anerkannten Flüchtlinge und subsidiär Aufgenommene zu versorgen. Letztes Jahr kamen fast so viele Asylgesuche dazu. Die Schweizer Öffentlichkeit mag sich zwar empören über die angebliche Renitenz Italiens, das Dublin-Abkommen streng umzusetzen. 2014 stellte die Schweiz Italien 11322 Dublin-Überstellungsgesuche, wovon nur 3019 gutgeheissen und «nur» 1367 durchgesetzt wurden. Mit ihrer Empörung blendet sie jedoch aus, dass sich diese Überstellungen angesichts des eklatanten Mangels an geeigneten Empfangsstrukturen verheerend auf die Betroffenen selbst auswirken können und erheblich zur Verschärfung der gesamten Unterbringungssituation in Italien beitragen, wo seit geraumer Zeit und in Kenntnis derselben Schweizer Öffentlichkeit täglich Zehntausende von MigrantInnen in besetzten Gebäuden, leerstehenden Hallen oder schlicht auf der Strasse darben müssen. Nur logisch, dass Neuankömmlinge versuchen, sich der Abnahme der Fingerabdrücke in Italien zu entziehen, das Weite suchen und nach Norden ziehen. Um der Diskrepanz zwischen Neuankünften und Platzressourcen einigermassen Herr zu werden, ist Italien ohnehin darauf angewiesen, ein Rotationsprinzip in den Zentren aufrecht zu erhalten: Spätestens mit dem Erhalt des Asylentscheides werden die Schutzsuchenden aus den Camps geworfen, um Neuankömmlingen Platz zu machen. Vorausgesetzt, sie erhielten zuvor überhaupt je Eingang in eine der grösstenteils maroden Empfangsstrukturen namens SPRAR, CARA, CPSA und CDA.

Dublin ad absurdum geführt

Unzählige Urteile in verschiedenen europäischen Ländern lassen daran keine Zweifel aufkommen. Im November letzten Jahres verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechtskonvention und befand, eine afghanische Familie dürfe nicht ohne Garantien nach Italien zurückgeschafft werden. Während Dänemark zum Beispiel daraufhin umgehend alle Rückschaffungen von Familien nach Italien stoppte, traf das SEM eine Vereinbarung mit dem italienischen Pendant. Seitdem garantiert der italienische Staat dem schweizerischen jeweils auf Anfrage, die rückzuführende Familie anständig zu behandeln. Wieviel diese Garantien wert sind, zeigen neuste Ermittlungen, die in Italien unter dem Stichwort «mafia capitale» für Schlagzeilen sorgten, nicht aber in der Schweiz. Im November wurde bekannt: Mafia, extreme Rechte, PolitikerInnen und soziale Institutionen haben sich jahrelang just an den Asylstrukturen masslos bereichert, für die nun Garantien abgegeben werden.

Doch selbst wenn Italien seine Versprechen tatsächlich einhielte: Ist es zum Beispiel in Ordnung, Alleinstehende verelenden zu lassen, junge Erwachsene, Gesunde? Dass sogenannt besonders verletzliche Personen andere verdrängen, die über kein solches Label verfügen? Nicht genug, dass sie aufgrund der Dublin-Verordnung in Italien feststecken, wo sie keine Zukunft haben, und es ihnen verboten wird, auch nur die Nähe ihrer Verwandten und Bekannten zu suchen. Das Schweizer Humanlabel schafft in Italien ein Zweiklassensystem, das über den spärlichen Zugang zur Existenzsicherung entscheidet. Auf den Punkt gefragt: Sollen nun alle asylsuchenden Familien, die nachweislich durch Italien gereist sind, in die Schweiz fahren und ein Asylgesuch stellen, nur um sich so ein Label und damit eine Unterkunft und Nahrung in Italien zu sichern?

Wider besseres Wissen

Der Bundesrat, das SEM, aber auch das Parlament und die Medien beharren nichtsdestotrotz und wider besseres Wissen auf die strikte Anwendung der Dubliner Konvention, offenbar ohne Rücksicht auf Kollateralschaden. Der Konsens geht politisch bis weit in die SP- und Grünen-Fraktion hinein: Dublin muss durchgesetzt werden, Italien seine Aufgaben machen. Natürlich soll Italien seine Aufgaben machen und deutlich mehr und bessere Aufnahmeplätze zur Verfügung stellen als bisher! Die 166 000 letztes Jahr in Italien angekommenen Flüchtlinge kann aber ein einziges Land, das sich zudem in der Dauerkrise befindet, nicht ohne die Solidarität seiner Partner bewältigen. Mit ihrer sturen Haltung unterwandert die Schweiz nicht nur jegliche Bemühung Italiens, menschenwürdige Empfangsstrukturen aufzubauen und zu unterhalten, sondern produziert auch unnötig menschliches Leid.

Es ist inhaltlich nichts als logisch, taktisch jedoch umso bemerkenswerter, dass «Solidarité sans frontières» eine Kampagne lanciert, um ein Moratorium der Rückschaffungen nach Italien gemäss Dublin-Konvention durchzusetzen. Die Forderung stellt nüchtern betrachtet bei weitem keine Revolution dar, fühlt sich aber im heutigen Migrationsdiskurs genauso an. Wir kennen diese Situation aus dem letzten Referendum gegen Asylverschärfungen. Gut möglich, dass wir auch diese Schlacht verlieren. Auch im Kampf für Menschenrechte, zu denen Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit nun mal gehören, ist und bleibt jedoch die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist.

Weitere Infos, Materialien und
Online-Petition: www.stoprenvois.ch

Aus der Printausgabe vom 13. Februar 2015. Unterstütze uns mit deinem Abo

Wir werden das ändern!

syriza_junge frauHerr Katrougkaos, der Präsident des europäischen Parlaments, Martin Schulz, war am Donnerstag in Athen. Am Freitag soll der Vorsitzende der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, sich mit der neuen Regierung treffen. Die Vertreter der europäischen Institutionen, die Syriza vor den Wahlen scharf geisselten, eilen heute nach Athen. Ist dies ein Zeichen, dass der Sieg der gegen die Sparzwangpolitik auftretenden Linken das europäische Spielbrett durcheinander wirft?

Katrougkalos: Das ist klar. Vor den Wahlen sagten uns unsere politischen Gegner, dass selbst das Prinzip einer Neuverhandlung der Schulden ausgeschlossen sei. ‚Ein abgeschlossenes Abkommen wird nicht wieder neu verhandelt‘, wiederholten sie. Nun scheint es, dass die Logik beide Seiten zu Neuverhandlungen zwingt. Ganz einfach, weil das Resultat der Memoranden, der Sparpolitik, ein eklatantes Scheitern ist. Diese antisoziale Politik bringt desaströse ökonomische Auswirkungen hervor. Der Sieg von Syriza hat bereits Rückwirkungen auf dem Kontinent. Zwei grosse Lager zeichnen sich nunmehr ab: die harte deutsche Rechte und ihre Verbündeten aus den Nordstaaten. Das andere Lager vereinigt die Parteien der europäischen Linken, zu denen SYRIZA gehört, und neu aufkommende Kräfte wie PODEMOS. Möglicherweise kann sich dieses Lager ausweiten auf manche Sozialdemokraten, wenn sie begreifen, dass die absolute Identifizierung mit der Politik der Rechten zum Zusammenbruch führt, wie dies in Griechenland mit der PASOK schon geschehen ist. Um deutlich zu sein: wir erkennen in den Entscheidungen von François Hollande keine linke Politik. Aber wir sagen, dass man von den Rissen in der Front der Austerität profitieren sollte, um Unterstützungen zu finden und unsere Positionen zu stärken. Die Deutschen können nicht weiterhin ihre Entscheidungen ganz Europa aufzwingen.

Sie stehen in der ersten Linie, um die Austeritätpolitik zu stoppen, da die Troika zu Beginn der Austeritätsprogramme die Streichung von 150 000 Stellen noch vor 2015 forderte, von den 667 000, die die griechischen öffentlichen Dienste insgesamt aufwiesen. Wieviele Stellen sind tatsächlich schon gestrichen worden? Werden Sie die entlassenden Beschäftigten wieder einstellen?

Katrougkalos:Wir werden alle diejenigen wieder einstellen, die entlassen worden sind. Man hat von 20.000 Entlassungen gesprochen, aber die reale Zahl ist sicherlich geringer. Was den harten Kern des Staates anbetrifft, sind nach den ersten Berichten, die ich einsehen konnte, 3.500 Staatsangestellte, die in den Ministerien arbeiteten, vor die Tür gesetzt worden. Aber dazu muss man beispielsweise noch alle entlassenen Beschäftigten infolge der brutalen Schliessung des öffentlichen Rundfunk- und Fernsehsenders ERT hinzurechnen. Wir werden das ändern.

Wie wollen Sie der Vetternwirtschaft ein Ende machen, die sich wie ein Funktionsmodell im Zug des Wechsels zwischen Pasok und Neue Demokratie durchgesetzt hat?

Katrougkalos:Das wird eine wesentliche Schiene sein, um einen Rechtsstaat wiederaufzubauen. Wir brauchen ein klares und wirksames Beurteilungssystem. Nicht um Entlassungen zu rechtfertigen, wie dies bisher konzipiert wurde, sondern um unsere Verwaltung zu verbessern. Ohne Hexenjagd werden wir einen klaren Diskurs mit den Staatsangestellten führen, über all das, was geändert werden muss. Wir werden die Gewerkschaften in diese Änderungen einbeziehen, um das System der Vetternwirtschaft zu zerbrechen und den Staat auf gesunden Grundlagen wieder aufzubauen.

Sie sind Verfassungsrechtler. Soll das griechische Grundgesetz, das die vorhergehende Regierung von jeder sozialen Verpflichtung säubern wollte, bestehen bleiben?

Katrougkalos:Das wird Gegenstand einer Debatte in der Regierung und in den Reihen von SYRIZA sein. Mein Gesichtspunkt ist, dass eine Verfassungsgebende Versammlung gebraucht würde. Wenn ein Land einer schweren Krise entgegentreten muss, wie das 1958 in Frankreich im Moment des algerischen kolonialen Befreiungskrieges der Fall war, muss es sich Institutionen schaffen, die es ihm ermöglichen, die Schwierigkeiten zu überwinden. Wir brauchen eine neue Verfassung einer IV. griechischen Republik, die auf direkte Demokratie gegründet ist. Mit zum Beispiel der Möglichkeit, korrumpierte Abgeordnete abzuberufen, und mit Anerkennung der Volksinitiative für Gesetze oder Referenden. Auf sozialem Gebiet müssten schon bestehenden Garantien auch ausgeweitet werden. Die eigentliche Ausarbeitung dieser neuen Verfassung sollte eine Übung in direkter Demokratie sein, wie in Island.

gr_george katrougalosZur Person: Georgios Katrougkalos ist stellvertretender Innenminster und zuständig für die Staatsreform Griechenlands.  Er ist 51 Jahre alt, Verfassungs- und Völkerrechtler, Professor für Staatsrecht. Katrougkalos studierte in Athen und später an der Sorbonne Paris, war Gastprofessor in Dänemark, absolvierte Studienaufenthalte in den USA, war Professor für Öffentliches Recht in Athen. Er war als Experte und Mitarbeiter von Stiftungen und anderen Einrichtungen für verschiedene griechische Ministerien tätig; Mitarbeiter an Forschungsprojekten des Europarats, Beratungstätigkeiten im internationalen Rahmen u.a. in Usbekistan, Mazedonien, Albanien, Armenien, Syrien; Verfasser zahlreicher Bücher und Artikel in juristischen Zeitschriften; zuletzt Abgeordneter für SYRIZA im Europäischen Parlament.

 

Aus der französischen kommunistischen Tageszeitung «Humanité» vom  30. Januar 2015. Übersetzung: G. Polikeit

Quelle: www.kommunisten.de

Happy Birthday, Ulrike Meinhof

09_MeinhofAm 7. Oktober 2014 wäre die Journalistin und Aktivistin Ulrike Marie Meinhof 80 Jahre alt geworden. Ein kurzer Blick auf eine etwas vergessen gegangene Seite ihres Engagements.

Wochen nach Ulrike Meinhofs Tod bringt «Emanzipation», die Zeitung der Progressiven Frauen Schweiz (PFS) den kurzen Text «Ulrike Meinhof zur Frauenfrage» und zitiert eine ihrer konkret-Kolumnen aus dem Herbst 1968: «Ersticken doch täglich Millionen von Frauen an dem, was sie alles herunterschlucken, schlagen ihre Kinder, werfen mit Kochlöffeln nach ihren Ehemännern, motzen und machen vorher die Fenster zu, damit keiner hört, was alle wissen: dass es so, wie es geht, nicht geht.» Ulrike Meinhof fordert, dass «mehr Frauen über ihre Probleme nachdenken, sich organisieren und ihre Sache aufarbeiten und formulieren lernen.» Sie ist eine der ersten Frauen in der BRD, die sich als Journalistin und erwerbstätige Mutter öffentlich Gedanken macht zu feministischen Anliegen und wie Geschlechterrollen durch das kapitalistische System bedingt sind. Sie wünscht sich nicht privaten «permanenten Ehekrach», sondern eine «Öffentlichkeit des Krachs», da, wo Kommunikation und Verständigung herstellbar sind (…), damit Argumente zum Zuge kommen und nicht nur die Überlegenheit des Mannes aufgrund seiner gesellschaftlich überlegenen Stellung.»

Bewegte Geschichte

Ulrike Meinhof wächst im Nachkriegsdeutschland in bürgerlichem Milieu auf, beide Eltern sind Intellektuelle. Obwohl die einzige Protestantin in einer katholischen Schule, ist sie beliebt und wird zur Klassensprecherin gewählt. Meinhof spielt Geige, liest viel, hört Jazz und wird als verträumt beschrieben. Sie beginnt ein Studium, möchte eine Abschlussarbeit über Pestalozzi schreiben. Als 24-Jährige ist sie Mitbegründerin des Arbeitskreises für ein kernwaffenfreies Deutschland und hält eine Rede vor 10 000 DemonstrantInnen. Wie viele andere setzt sie sich gegen eine Wiederaufrüstung Deutschlands im Bündnis mit der Imperialmacht USA ein. Ihr politisches Engagement führt sie zu journalistischer Tätigkeit bei konkret. Ab 1962 ist Meinhof dort mehrere Jahre Chefredaktorin, später freischaffende Kolumnistin. 1966 veröffentlicht sie in den linkskatholischen Frankfurter Heften den Reportageessay «Heimkinder in der Bundesrepublik». Sie verfasst ein Drehbuch: Bambule. Auch im Rundfunk der ARD werden Reportagen von ihr ausgestrahlt. Sie lässt so Stimmen zu Wort kommen, die sonst niemand hören kann. Meinhof spricht auch hier an, wie Gewalt gesellschaftlich entsteht und wo sich kapitalistisch verursachte Armut und Gewalt aus Ohnmacht wie an wem austobt. Eine sich diesen Kindern gegenüber kriminell verhaltende Umwelt mache diese zu Kriminellen. Berühmt ist sie heute vorwiegend als Gründungsmitglied der RAF und mutmassliche (Mit-)Verfasserin deren ideologischen Konzeptes. Nach ihrer Festnahme ist sie Mitangeklagte im Stammheimprozess und stirbt 1976 im Gefängnis Stuttgart-Stammheim.

Fussball und Solidarität – ein Widerspruch?

12_bukanerosPraktisch immer bleibt der Fussballclub Rayo Vallecano im Schatten von Real und Atlético, den beiden grossen Clubs der spanischen Hauptstadt. Doch nun steht der fest im ArbeiterInnenstadtteil Vallecas verankerte Club weltweit im Rampenlicht, denn er schaut den Zwangsräumungen von Wohnungen in seinem Quartier nicht mehr tatenlos zu. Solidarität und -sozialen Verantwortung gehören zum Erbgut des Clubs.

 

Es war kein speziell schönes oder komisches Tor, es war auch kein Sieg im Derby gegen Real oder Atlético, das den spanischen Erstliga-Club Rayo Vallecano aus dem Arbeiterviertel Madrids weltweit aus dem Schatten der beiden grossen und reichen Clubs der Hauptstadt führte. Viel mehr war es etwas, das man mit Geld nicht kaufen kann: Die Solidarität! «Es war die grösste Pressekonferenz in der neueren Geschichte des Clubs», sagte der Trainer Paco Jémez. Am Anlass nahmen 15 TV-Sender teil, darunter auch solche aus Deutschland, Italien und Mexiko. Ein Sender übertrug sogar live. Hinzu kamen viele Radiostationen, Zeitungen und Fotografen. Eigentlich wollte der Club keinen Medienrummel auslösen, doch musste er zwei Tage nach der Pressekonferenz zugeben, dass er von den Reaktionen fast überfordert wurde. Der Grund dafür ist beeindruckend und zwar nicht nur für die Fussballwelt: Trainer, Spieler und Verein wollen nicht länger tatenlos zuschauen, wenn Menschen aus ihrer Wohnung geschmissen werden. Vor allem dann nicht mehr, wenn eine 85jährige Anhängerin im Stadtteil Vallecas auf die Strasse gesetzt wird. Stadtteil, dem der Club seinen Namen verdankt und zutiefst mit ihm verbunden ist. Carmen Martínez Ayuso wurde trotz massiven Protesten der Bevölkerung Ende November von der Polizei auf die Strasse gesetzt. Eine Ersatzwohnung wurde der alten Frau nicht angeboten. 50 Jahre lang hatte sie in ihrer Wohnung gelebt. Diese wurde geräumt, da sie für einen Kredit ihres Sohns über 40’000 Euro gebürgt hatte. Das hatte sie nicht verstanden. «Ich kann weder lesen noch schreiben und habe die Unterlagen einfach unterzeichnet, um meinem Sohn zu helfen», erklärte die verzweifelte Frau. Mit überhöhten Zinsen eines «Kredithais» und den Verfahrungskosten stiegen die Schulden des Sohns auf über 77 000 Euro an.

Klassenstolz und die Stimme des Bewusstseins

Die unmenschliche Behandlung konnte den Club nicht kalt lassen. Der Rayo sprang sofort dafür ein, wozu eigentlich der Staat verantwortlich sein sollte. «Wir werden nicht zuschauen und der Frau helfen», sagte der Trainer an der Pressekonferenz. Und er versprach: «Nicht ich alleine, sondern der gesamte Trainerstab, die Spieler, der Verein werden dafür sorgen, dass Carmen bis zu ihr Lebensende eine Miete zahlen, ein würdiges Leben führen kann und sich nicht einsam fühlen wird.» Zwangsräumungen gehören in Spanien mittlerweile zur täglichen «Normalität». Dies obwohl die Verfassung im Artikel 47 «das Recht auf eine menschenwürdige und angemessene Wohnung» garantiert. Manuel San Pastor, der Anwalt der «Plattform der Hypothekengeschädigten» (PAH), spricht von einer «Politik des Sozialterrorismus», denn die Stadt versilbere ihre Sozialwohnungen an «Geierfonds». Ein Drittel stünde leer, «während tausende geräumte Familien kein Angebot erhalten», erklärt San Pastor. Nach dem Eingreifen des Clubs hat die Stadt der alten Rayo-Anhängerin eine Sozialwohnung angeboten. Angebot, das laut Verfassung vor der Zwangsräumung hätte kommen müssen und wohl nie gekommen wäre, hätte der Verein durch seine Aktion nicht für weltweiten Wirbel gesorgt. Der Club hat nun ein Spendenkonto eingerichtet, das von Trainern, Spielern und privaten Spenden aus der Bevölkerung gefüllt wird. Hinzu kamen fünf Euro pro Eintrittskarte, die für das Heimspiel gegen Sevilla vom 7. Dezember verkauft wurden. Jémez erklärte an der Pressekonferenz: «Als bescheidener Verein sind wir einen Schritt vorwärts gegangen, weil Solidarität und soziale Verantwortung zu unserem Erbgut gehören. Wenn die Institutionen nun Carmen eine würdige Wohnung geben, werden wir mit dem gespendeten Geld anderen bedürftigen Menschen im Stadtteil helfen.»

Der Verein, seine Fans und das im Süden Madrids gelegene ArbeiterInnenviertel mit gut 300 000 EinwohnerInnen bilden eine Symbiose. «Rayo ist nicht einfach ein Fussballclub, sondern der Klassenstolz und die Stimme des Bewusstseins», meint Pedro Roiz. Sein Vater war von 1965 bis 1972 Präsident des Clubs. Roiz erklärt den Stadtteil so: «Vallecas ist die Erde der einfachen und engagierten Leute». Es sind ZuzüglerInnen aus allen Teilen Spaniens und EinwanderInnen, die sich mit «grosser Mühe ihr Brot verdienen und KämpferInnen sind. » Der Verein wurde 1924 gegründet. Er steht in der antifaschistischen und klassenkämpferischen Tradition, genauso wie seine Fans, allen voran die Ultras-Gruppe «Bukaneros». Als im November 2012 in ganz Spanien gemeinsam mit Griechenland und Portugal gegen die Kürzungspolitik und die tiefen Einschnitte in die Sozialsysteme gestreikt wurde, schlossen sich der Club und seine AnhängerInnen ganz selbstverständlich dem Kampf an. Ganz im Gegensatz dazu der Manager der königlichen von Real Madrid, Pedro Duarte. Er verbreitete per Twitter die Meinung, dass «Gewerkschaftler einer nach dem anderen an die Wand gestellt werden sollten».

Solidarität mit verhaftetem Fan

Während dem Streiktag im November 2012 wurde in ganz Spanien nur eine einzige Person verhaftet. Und es ist wohl kaum ein Zufall, dass diese Person ein Mitglied der «Bukaneros» ist. Der 21jährige Alfonso Fernández Ortega (Alfon) verhaftet, bevor er am Streikposten eintraf. Mit schwammigen Anschuldigungen wurde er fast zwei Monate in Untersuchungshaft gesteckt. «Es ist eine Inszenierung der Polizei, um ein Exempel zu statuieren», erklärte seine Mutter Elena Ortega kürzlich auf einer Veranstaltung in Berlin. Alfon wird der Besitz eines Rücksackes vorgeworfen, der mit Utensilien zum Bau von Molotow-Cocktails im Stadtteil gefunden wurde. Ihm drohen nun wegen «Besitz von Explosivstoffen» fünfeinhalb Jahre Knast. Beweise dafür gibt es wohl nicht. Weder wurden seine Fingerabdrücke, noch wurde bei Hausdurchsuchungen belastendes Material gefunden. Im Prozess vom 18. November erklärte Alfon, von der Polizei erpresst zu werden. Sie habe ihm mit dieser Anklage gedroht, wenn er nicht andere «Bukaneros» und Mitglieder der «Antifaschistischen Brigaden» identifiziere. Der Club, seine AnhängerInnen und das ganze Quartier haben Alfon ihre Unterstützung und Solidarität zugesichert.

Den Protest auf die (Berg-) Strassen tragen

sciopero-generaleAm 7. und 8. Juni 2015 treffen sich auf Schloss Elmau in den bayerischen Alpen die -Staats- und RegierungschefInnen Deutschlands, der USA, Japans, Grossbritanniens, Frankreichs, Italiens und Kanadas. Sie werden über Aussen- und Sicherheitspolitik, Weltwirtschaft, Klima und «Entwicklung» beratschlagen. Die G7 stehen für neoliberale Wirtschaftspolitik, für Militarisierung und Kriege, Ausbeutung, Hunger und für Abschottung gegenüber Flüchtenden. Wir betrachten die Mobilisierung gegen den G7-Gipfel als Teil vielfältiger Protestbewegungen für soziale Gerechtigkeit, für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, für Frieden und für ungeteilte Menschenrechte.

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«An die Linken Europas und der Welt»

linerarecibehonoriscausaencuyu_infodiezMuy buenas tardes a todos ustedes. Lasst mich bei dieser besonderen Begegnung der Europäischen Linken zunächst im Namen unseres Präsidenten Evo Morales, im Namen meines Landes und meines Volkes für die Einladung danken, um auf diesem so bedeutenden Kongress der Europäischen Linken eine Reihe von Gedanken und Überlegungen vorzubringen. Lasst mich offen und ehrlich sein .?.?. aber auch konstruktiv.

Was sehen wir Aussenstehenden von Europa? Wir sehen ein Europa, das dahinsiecht, ein niedergeschlagenes Europa, ein selbstversunkenes und selbstzufriedenes Europa, das bis zu einem gewissen Grad apathisch und müde ist. Ich weiss, es sind sehr hässliche und sehr harte Worte, aber so sehen wir es. Das Europa der Aufklärung, der Revolten, der Revolutionen ist Vergangenheit. Weit, sehr weit zurück liegt das Europa der grossen Universalismen, die die Welt bewegten, die die Welt bereicherten und welche die Völker in vielen Teilen der Welt anspornten, Zuversicht zu schöpfen und sich von dieser Zuversicht tragen zu lassen.

Vorbei sind die grossen intellektuellen Herausforderungen. Hinter dem, was von den Postmodernisten als das Ende der grossen Erzählungen gedeutet wurde und gedeutet wird, scheint sich angesichts der jüngsten Ereignisse nichts weiter als der gross angelegte Klüngel der Konzerne und des Finanzsystems zu verbergen.

Es ist nicht das europäische Volk, das seine Tugend, das seine Hoffnung aufgegeben hat, denn das Europa, das ich meine, das müde, das erschöpfte Europa, das selbstversunkene Europa, ist nicht das Europa der Völker – dieses wurde lediglich zum Schweigen gebracht, eingesperrt, erstickt. Das einzige Europa, das wir in der Welt sehen, ist das Europa der grossen Wirtschaftskonzerne, das neoliberale Europa, das Europa der Märkte – und nicht das Europa der Arbeit.

In Ermangelung grosser Dilemmas, grosser Perspektiven und grosser Erwartungen hört man lediglich – um es frei nach Montesquieu zu sagen – den bedauerlichen Lärm der kleinen Ambitionen und des grossen Appetits.

 

Das Wesensmerkmal

des modernen Kapitalismus

Demokratien ohne Hoffnung und ohne Glauben sind gescheiterte Demokratien. Demokratien ohne Hoffnung und ohne Glauben sind verknöcherte Demokratien. Genau genommen sind es keine Demokratien. Es gibt keine echte Demokratie, die nichts weiter als langweiliges Beiwerk verknöcherter Institutionen ist, mit denen alle drei, alle vier oder alle fünf Jahre Rituale wiederholt werden, um diejenigen zu wählen, die künftig mehr schlecht als recht über unser Schicksal entscheiden werden. Wir alle wissen, und in der Linken sind wir uns einigermassen einig darüber, wie es zu einer solchen Situation gekommen ist. Die Fachleute, Gelehrten und die politischen Debatten liefern uns eine ganze Reihe von Deutungsansätzen, warum es uns schlecht geht und wie es soweit kommen konnte. Ein erstes gemeinsames Urteil zu der Frage, wie es zu dieser Situation kommen konnte, lautet, dass nach unserem Verständnis der Kapitalismus zweifelsohne eine weltumspannende, geopolitische Dimension erreicht hat, die absolut ist. Die Welt ist nun im wahrsten Sinne eine runde Sache. Und die ganze Welt wird zu einer grossen globalen Werkstatt. Ein Radio, ein Fernseher, ein Telefon hat keinen Entstehungsort mehr, vielmehr ist die Welt als Ganzes zu seinem Entstehungsort geworden. Ein Chip wird in Mexiko hergestellt, das Design in Deutschland entworfen, der Rohstoff stammt aus Lateinamerika, die Arbeitskräfte sind Asiaten, die Verpackung kommt aus Nordamerika und der Verkauf findet global statt. Dies ist ein Wesensmerkmal des modernen Kapitalismus – daran besteht kein Zweifel – und genau hier muss man mit entsprechenden Massnahmen ansetzen.

Ein zweites Charakteristikum der letzten zwanzig Jahre ist eine Art Rückkehr zur fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation. Die Texte von Karl Marx, der den Ursprung des Kapitalismus im 16. und 17. Jahrhundert beschrieb, sind heute wieder aktuell, ja gehören ins 21. Jahrhundert. Wir erleben eine permanente ursprüngliche Akkumulation, bei der sich die Mechanismen der Sklaverei, die Mechanismen der Unterordnung, der Verunsicherung, der Fragmentierung, die auf so aussergewöhnliche Weise von Karl Marx dargestellt wurden, wiederholen. Nur dass der moderne Kapitalismus die ursprüngliche Akkumulation aktualisiert. Er aktualisiert sie, erweitert sie und dehnt sie auf neue Bereiche aus, um mehr Ressourcen und mehr Geld herauszuholen. Doch neben dieser fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation – die für die gegenwärtigen sozialen Klassen sowohl in unseren Ländern als auch weltweit kennzeichnend sein wird, weil durch sie die örtliche, das heisst die territoriale Arbeitsteilung und die globale Arbeitsteilung neu organisiert werden – erleben wir eine Art Neoakkumulation durch Enteignung. Wir erleben einen Raubtierkapitalismus, der akkumuliert, indem er oftmals auf strategischen Gebieten produziert: Wissen, Telekommunikation, Biotechnologie, Automobilindustrie. Doch in vielen unserer Länder akkumuliert er durch Enteignung, indem er nämlich die gemeinschaftlichen Sphären in Beschlag nimmt, wie etwa Artenvielfalt, Wasser, überliefertes Wissen, Wälder, natürliche Ressourcen… Hierbei handelt es sich um eine Akkumulation durch Enteignung, und zwar nicht durch Schaffung von Reichtum, sondern durch Enteignung des gemeinsamen Reichtums, der in privaten Reichtum überführt wird. Das ist die neoliberale Logik. Wenn wir den Neoliberalismus so sehr kritisieren, dann wegen seiner Verdrängungslogik und seines parasitären Charakters. Anstatt Reichtum zu schaffen, anstatt die Produktivkräfte zu entwickeln, enteignet der Neoliberalismus die kapitalistischen und nicht-kapitalistischen, kollektiven, örtlichen, ja gesellschaftlichen Produktivkräfte.

Doch auch das dritte Merkmal der modernen Wirtschaft ist nicht nur eine fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation, eine Akkumulation durch Enteignung, sondern auch durch Unterordnung: Marx würde es die reelle Unterordnung des Wissens und der Wissenschaft unter die kapitalistische Akkumulation nennen. Einige Soziologen nennen dies Wissensgesellschaft. Es besteht kein Zweifel, dass es sich hierbei um die Bereiche handelt, die für die Produktionskapazitäten der modernen Gesellschaft am mächtigsten sind und die grösste Tragweite -besitzen.

Das vierte Merkmal wiederum, das immer mehr Konflikt-? und Risikopotenzial birgt, ist der Prozess der reellen Unterordnung des Lebenssystems Erde als Ganzes, das heisst der Wechselwirkungsprozesse zwischen Mensch und Natur.

 

Was tun?? – die alte Frage Lenins

Diese vier Merkmale des modernen Kapitalismus sorgen für eine Neubestimmung der Geopolitik des Kapitals auf globaler Ebene, eine Neubestimmung der Klassenstruktur der Gesellschaften; eine Neubestimmung der Klassenstruktur und der sozialen Klassen weltweit. Da ist sicher die Verlagerung der traditionellen Arbeiterklasse, die wir im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entstehen sahen, in periphere Gebiete wie Brasilien, Mexiko, China, Indien oder die Philippinen zu nennen. Aber nicht nur! Es entsteht auch in den am weitesten entwickelten Gesellschaften eine neue Art des Proletariats. Eine neue Art der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse der Höherqualifizierten: Lehrer, Forscher, Wissenschaftler, Analysten, die sich selbst nicht als Arbeiterklasse sehen, sondern sich wahrscheinlich als Kleinunternehmer begreifen, die aber im Grunde die neue soziale Struktur der Arbeiterklasse des beginnenden 21. Jahrhunderts ausmachen. Doch zugleich entsteht auf der Welt etwas, was wir als «diffuses Proletariat» bezeichnen könnten: nicht?kapitalistische Gesellschaften und Nationen, die der kapitalistischen Akkumulation förmlich untergeordnet werden. Lateinamerika, Afrika, Asien: Wir reden hier von Gesellschaften und Nationen, die im engeren Sinne nicht kapitalistisch sind, insgesamt aber in Erscheinung treten, als seien sie untergeordnet und als Formen der diffusen Proletarisierung ausgestaltet. Dies nicht allein wegen ihrer wirtschaftlichen Eigenschaften, sondern auch wegen ihres fragmentierten Charakters selbst beziehungsweise wegen der oftmals schwierigen Fragmentierung und aufgrund ihrer geographischen Streuung.

Wir haben es also nicht nur mit einer neuen Art und Weise zu tun, wie sich die kapitalistische Akkumulation ausbreitet, sondern auch mit einer Neuordnung der Klassen und des Proletariats und der nichtproletarischen Klassen auf der Welt. Die Welt von heute ist konfliktgeladener. Die Welt von heute ist stärker proletarisiert, nur dass sich die Formen der Proletarisierung von denen, die wir im 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts kennenlernten, unterscheiden. Und die Proletarisierung dieses diffusen Proletariats, dieses Proletariats der Höherqualifizierten, nimmt nicht unbedingt die Gestalt von Gewerkschaften an. Das Modell Gewerkschaft hat in einigen Ländern seine zentrale Stellung verloren. Es entstehen andere Formen von Zusammenschlüssen für die Belange der Bevölkerung, der Beschäftigten und der Arbeiter. Was tun? – die alte Frage Lenins – Was sollen wir tun? Wir sind uns einig bei der Erklärung, was nicht stimmt, wir sind uns einig bei der Erklärung, was sich in der Welt verändert, doch können wir auf diese Veränderungen nicht reagieren, oder besser: Die Antworten, die wir früher hatten, sind unzureichend, denn sonst würde hier in Europa nicht die Rechte regieren. Irgendetwas fehlte in unseren Antworten und tut es auch heute noch. Irgendetwas fehlt in unseren Vorschlägen. Erlaubt mir, fünf bescheidene Anregungen vorzubringen, wie sich die Aufgaben, vor der die europäische Linke steht, gemeinsam gestalten liessen.

 

Ein neuer, gesunder

Menschenverstand

Die europäische Linke kann sich nicht damit begnügen, einen Befund zu erstellen und sich zu beklagen. Befund und Klage dienen zwar dazu, moralische Empörung zu erzeugen, und die Verbreitung der moralischen Empörung ist wichtig, aber sie erzeugen keinen Willen zur Macht. Die Klage ist kein Wille zur Macht. Sie kann die Vorstufe zum Willen zur Macht sein, aber sie ist kein Wille zur Macht. Die europäische Linke, die Linke weltweit muss angesichts dieses zerstörerischen, räuberischen, Natur und Mensch mitreissenden Strudels, der vom zeitgenössischen Kapitalismus angetriebenen wird, mit Vorschlägen oder Initiativen aufwarten. Die europäische Linke, ja die Linke in allen Teilen der Welt, muss einen neuen gesunden Menschenverstand entwickeln. Im Grunde genommen ist der politische Kampf ein Kampf um den gesunden Menschenverstand. Um die Gesamtheit von Urteilen und von Vorurteilen. Um die Frage, wie die Leute – der junge Student, die Fachkraft, die Verkäuferin, der Angestellte, der Arbeiter – auf einfache Weise die Welt ordnen. Genau das ist gesunder Menschenverstand. Die grundlegende Weltauffassung, mit der wir unser tägliches Leben ordnen. Die Art und Weise, wie wir das Gerechte und das Ungerechte, das Wünschenswerte und das Mögliche, das Unmögliche und das Wahrscheinliche bewerten. Die Linke weltweit und die europäische Linke müssen deshalb für einen neuen gesunden Menschenverstand kämpfen, der progressiv, revolutionär, universalistisch ist, der in jedem Fall aber einen neuen gesunden Menschenverstand darstellt.

 

Demokratie ist Handeln,

gemeinsames Handeln

Zweitens müssen wir uns den Begriff der Demokratie wieder ins Gedächtnis rufen. Die Linke hat immer die Fahne der Demokratie hochgehalten. Es ist unsere Fahne. Es ist die Fahne der Gerechtigkeit, der Gleichberechtigung, der Partizipation. Doch dafür müssen wir uns von der Vorstellung lösen, Demokratie sei eine rein institutionelle Tatsache. Demokratie – sind das Institutionen? Ja, das sind Institutionen, aber sie ist viel mehr als nur Institutionen. Bedeutet Demokratie, alle vier oder fünf Jahre zu wählen? Ja, aber es bedeutet viel mehr als das. Bedeutet es, ein Parlament zu wählen? Ja, aber es bedeutet viel mehr als das. Bedeutet es, das Prinzip des Machtwechsels einzuhalten? Ja, aber es bedeutet viel mehr als das. Das ist das liberale, verknöcherte Verständnis von Demokratie, in dem wir manchmal stecken bleiben. Demokratie – sind das Werte? Es sind Werte, Organisationsprinzipien für die Verständigung der Welt: Toleranz, Vielfältigkeit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Es sind also Prinzipien, es sind Werte, aber es sind nicht nur Prinzipien und Werte. Es sind Institutionen, aber es sind nicht nur Institutionen. Die Demokratie ist praktisch. Demokratie ist Handeln, gemeinsames Handeln. Demokratie ist im Grunde genommen wachsende Teilhabe an der Bewirtschaftung der gemeinschaftlichen Güter, die eine Gesellschaft besitzt. Demokratie herrscht dann, wenn wir an dem, was wir Bürgerinnen gemeinsam besitzen, teilhaben. Wenn wir als Gemeingut Wasser besitzen, dann bedeutet Demokratie, an der Bewirtschaftung des Wassers teilzuhaben. Wenn wir als Gemeingut die Sprache haben, dann bedeutet Demokratie die gemeinsame Pflege der Sprache. Wenn wir als Gemeingut die Wälder, den Boden, das Wissen haben, dann bedeutet Demokratie, dass die Bewirtschaftung, die Pflege gemeinsam stattfindet. Eine wachsende gemeinsame Teilhabe an der Bewirtschaftung des Waldes, des Wassers, der Luft, der natürlichen Ressourcen. Es bedarf einer Demokratie – und es gibt sie – im lebendigen und nicht im verknöcherten Sinn des Begriffs, und dies gelingt, wenn die Bevölkerung und die Linke die gemeinsame Bewirtschaftung der gemeinsamen Ressourcen, Institutionen, Rechte und Güter unterstützen und sich an ihr beteiligen.

Die alten Sozialisten der 70er Jahre sprachen davon, dass die Demokratie an die Tore der Fabriken klopfen müsse. Das ist eine gute Idee, aber es reicht nicht aus. Sie muss an die Tore der Fabriken, die Tore der Banken, die Tore der Unternehmen, die Tore der Institutionen, die Tore zu den Ressourcen, die Tore zu all dem klopfen, was den Menschen gemeinsam gehört. Unser Delegierter aus Griechenland fragte mich zum Thema Wasser, wie wir es in Bolivien angegangen seien, diese Grundfrage, diese Überlebensfrage, Wasser! Nun, was das Wasser betrifft, ein Gemeingut, das enteignet worden war, begab sich das Volk in einen «Krieg», um so das Wasser für die Bevölkerung zurückzugewinnen, und danach gewannen wir nicht nur das Wasser zurück, sondern führten einen weiteren sozialen «Krieg» und gewannen das Gas und das Öl und die Minen und den Telekommunikationssektor zurück, wobei noch viel mehr zurückzugewinnen ist. Doch in jedem Fall war dies der Ausgangspunkt, die wachsende Beteiligung der BürgerInnen an den gemeinschaftlichen Gütern, dem Allgemeingut, das eine Gesellschaft, eine Region besitzt.

 

Das ist doch verkehrte Welt?!

An dritter Stelle muss die Linke auch wieder ihre Forderungen nach dem Universellen, den universellen Leitbildern, den gemeinschaftlichen Gütern in den Vordergrund stellen. Die Politik als Gemeingut, die Partizipation als eine Beteiligung an der Bewirtschaftung der gemeinsamen Güter. Die Wiedererlangung des Gemeinschaftlichen als Recht: das Recht auf Arbeit, das Recht auf Ruhestand, das Recht auf kostenlose Bildung, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf saubere Luft, das Recht auf den Schutz von Mutter Erde, das Recht auf den Schutz der Natur. Es sind Rechte. Aber es sind universelle Gemeingüter, angesichts derer sich die Linke, die revolutionäre Linke, überlegen muss, welche konkreten objektiven Massnahmen sie ergreift und wie sie die Menschen mobilisiert. Ich las in der Zeitung, wie in Europa öffentliche Mittel eingesetzt wurden, um private Güter zu retten. Das ist absurd. Da wurde das Geld europäischer Sparer verwendet, um den Konkurs der Banken abzuwenden. Da wurde das Gemeinschaftliche verwendet, um das Private zu retten. Das ist doch verkehrte Welt! Es muss umgekehrt sein: die privaten Güter verwenden, um das Allgemeingut zu retten und zu fördern, und nicht das Allgemeingut, um die privaten Güter zu retten. Bei den Banken muss ein Prozess der Demokratisierung und der Vergesellschaftung ihrer Verwaltung stattfinden. Denn sonst werden die Banken Euch am Schluss nicht nur die Arbeit nehmen, sondern auch Eure Wohnung, Euer Leben, Eure Hoffnung, alles .?.?., und das darf nicht zugelassen werden.

 

Wieder Hoffnung aufbauen

Dabei müssen wir aber auch – in unserem Konzept als Linke – eine neue Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und der Natur einfordern. In Bolivien nennen wir dies aufgrund unseres indigenen Erbes «neue Beziehung zwischen Mensch und Natur». Präsident Morales sagt, die Natur kann ohne den Menschen existieren, der Mensch jedoch nicht ohne die Natur. Dabei darf man jedoch nicht der Logik der «Green Economy» verfallen, die eine scheinheilige Form des Umweltschutzes darstellt. Es gibt Unternehmen, die bei Euch EuropäerInnen als Naturschützer auftreten und für saubere Luft sorgen, doch dieselben Unternehmen liefern uns, dem Amazonasgebiet, Lateinamerika oder Afrika, die ganzen Abfälle, die hier erzeugt werden. Hier sind sie UmweltschützerInnen, dort werden sie zu UmwelträuberInnenn. Die Natur haben sie in einen weiteren Geschäftszweig verwandelt. Dabei ist ein kompromissloser Schutz der Umwelt weder ein neuer Geschäftszweig noch ein neues Unternehmenskonzept. Es muss wieder ein neues Verhältnis aufgebaut werden, das zwangläufig gespannt ist. Denn für einen Reichtum, der Bedürfnisse befriedigen soll, muss die Natur verändert werden, und bei der Veränderung der Natur verändern wir ihre Existenz, verändern wir ihr BIOS. Doch mit der Veränderung des BIOS zerstören wir oftmals im Gegenzug den Menschen und auch die Natur. Den Kapitalismus stört das nicht, denn für ihn ist es ein Geschäft. Uns aber, die Linke, die Menschheit, ja die Menschheitsgeschichte stört es sehr wohl. Wir müssen uns für eine neue Art der Beziehung stark machen, die vielleicht nicht unbedingt harmonisch, aber die doch wechselseitig ist und von der beide Seiten profitieren, der natürliche Lebensraum und der Mensch, seine Arbeit, seine Bedürfnisse.

Und schliesslich müssen wir ohne Frage die heroische Dimension der Politik einfordern. Hegel sah die Politik in ihrer heroischen Dimension. Und wohl in Anlehnung an Hegel sagte Gramsci, dass in den modernen Gesellschaften die Philosophie und ein neuer Lebenshorizont sich in einen Glauben in die Gesellschaft verwandeln müssten, beziehungsweise nur als Glaube im Innern der Gesellschaft existieren könnten. Dies bedeutet, dass wir wieder Hoffnung aufbauen müssen. Dass die Linke eine flexible, immer stärker geeintere Organisationsstruktur bildet, die in der Lage ist, bei den Menschen die Hoffnung neu zu beleben. Ein neuer gesunder Menschenverstand, ein neuer Glaube – nicht im religiösen Sinne des Wortes, sondern eine neue allgemeine Zuversicht, aus der heraus die Menschen heroisch ihre Zeit, ihre Energie, ihr eigenes Reich aufs Spiel setzen und sich engagieren.

 

Vereinigen, ausgestalten, fördern

Ich begrüsse, was meine Genossin vorhin ansprach, als sie sagte, dass wir hier 30 politische Organisationen zusammengebracht haben. Das ist toll! Es ist also möglich, zusammenzufinden. Es ist also möglich, den Stillstand zu überwinden. So geschwächt wie die Linke heute in Europa ist, kann sie sich den Luxus nicht leisten, zu ihren Gefährten auf Distanz zu gehen. Vielleicht gibt es Differenzen in 10 oder 20 Punkten, dafür aber Einigkeit in 100. An diesen 100 Punkten, in denen Übereinstimmung oder eine Berührung herrscht, sollte gearbeitet werden. Heben wir uns die restlichen 20 Punkte für später auf. Wir sind zu sehr geschwächt und können uns nicht den Luxus leisten, uns weiter Scharmützel zu liefern, zu streiten und uns dabei voneinander zu distanzieren. Wir sollten auch hier wieder einer Logik Gramscis folgen: vereinigen, ausgestalten, fördern.

Man muss die Macht im Staat übernehmen, man muss für den Staat kämpfen, doch vergessen wir niemals, dass der Staat weniger eine Maschine, sondern eher eine Beziehung ist. Weniger Materie, sondern eher Idee. Der Staat ist in erster Linie Idee. Ein Teil von ihm ist Materie. Materie ist er, wenn es um soziale Beziehungen, um Stärke, um Druck, um den Haushalt, um Abkommen, um Vorschriften, um Gesetze geht. Doch in erster Linie ist er Idee im Sinne des Glaubens an eine gemeinsame Ordnung, an einen Gemeinschaftssinn. Im Grunde ist der Kampf um den Staat ein Kampf um eine neue Art und Weise, uns zu vereinen, um eine neue Universalität. Um eine Art Universalismus, der die Menschen freiwillig vereint.

Doch hierfür müssen wir zuvor Überzeugungen gewinnen. Hierfür müssen wir zuvor die GegnerInnen mit Worten, mit gesundem Menschenverstand bezwungen haben. Hierfür müssen wir zuvor die herrschenden Auffassungen der Rechten mit unseren Argumenten, unserer Weltsicht, unseren moralischen Einstellungen zu den Dingen bezwingen. Und hierfür wiederum ist sehr harte Arbeit nötig. Politik ist nicht allein eine Frage des Kräftemessens oder der Mobilisierungsfähigkeit – der Zeitpunkt dafür kommt später. Politik ist zuerst Überzeugung, Gestaltung, gesunder Menschenverstand, Glauben, eine gemeinsame Idee und gemeinsame Urteile und Vorurteile hinsichtlich der Weltordnung. Und hier kann sich die Linke nicht allein mit der Einheit der linksgerichteten Organisationen begnügen. Sie muss sich in den Bereich der Gewerkschaften ausdehnen, welche die Stütze der Arbeiterklasse und die organische Form ihres Zusammenschlusses bilden. Wir sollten jedoch auch, liebe Genossinnen und Genossen, die völlig neuen Formen der gesellschaftlichen Organisation genau im Auge behalten. Die Neuordnung der sozialen Klassen in Europa und weltweit wird zu anderen Formen von Zusammenschlüssen führen, flexibleren und weniger organischen Formen, die sich vielleicht stärker auf das Gebiet und weniger auf die Arbeitsstätte beziehen. Notwendig ist dabei alles: Zusammenschlüsse an den Arbeitsstätten, gebietsbezogene Zusammenschlüsse, Zusammenschlüsse je nach Thematik, je nach Ideologie und so weiter. Es ist eine Reihe flexibler Strukturen, denen gegenüber die Linke in der Lage sein muss, sich gestalterisch einzubringen, Vorschläge zu unterbreiten, einend zu wirken und schliesslich voranzukommen.

Lasst mich im Namen des Präsidenten und in meinem eigenen Namen Euch zu dieser besonderen Begegnung gratulieren und mit allem Respekt und in aller Freundschaft den Aufruf an Euch richten: kämpft, kämpft, kämpft! Lasst uns, die anderen Völker, die an manchen Orten wie in Syrien, teils in Spanien, in Venezuela, in Ecuador, in Bolivien, auf sich gestellt kämpfen, nicht allein. Lasst uns nicht allein, wir brauchen Euch, und erst recht ein Europa, das nicht nur aus der Ferne sieht, was in anderen Teilen der Welt vor sich geht, sondern ein Europa, das wieder von Neuem beginnt, die Geschicke des Kontinents und die Geschicke der Welt mitzubestimmen.

Meine Glückwünsche und herzlichen Dank!

 

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