Zu viel Kafka gelesen Mister Erdogan? [Teil 1/2]

24.Februar 2012 – Nr 07/08 Am 6. Februar 2012 fand der vierte «kafkaeske Prozesstag» gegen die sozialistisch-kommunistische Linke in Istanbul statt. Immer noch sitzen 24 GenossInnen der TÖP und SDP seit bis zu über 500 Tagen in Untersuchungshaft. Ein Bericht vor Ort.

Am 21. September 2010 rollteDemonstration vor dem Devrimci Karagah Prozess gegen die sozialistisch-kommunistische Linke in der Türkei die erste Verhaftungswelle über die Türkei. 17 Personen, darunter Journalistinnen, führende Vertreter der Sozialistisch Demokratischen Partei (SDP) und der Plattform für gesellschaftliche Freiheit (TÖP) wurden durch Anti-Terror Spezialeinheiten verhaftet und in Untersuchungshaft gesetzt. Sofort wurden von privaten-, dem Staatsfernsehen und den Medienorganen der «Fethullah Gülen Bewegung» (eine der Regierungspartei AKP nahestehenden neoislamischen- und neoliberalen Bewegung) vorbereitete Videos veröffentlicht. Die Videos waren eine regelrechte Diffamierungskampagne gegen die Gruppierungen der Verhafteten. Von Verbindungen zu «Ergenekon», einer vermeintlichen nationalistisch-putschistischen Untergrundorganisation, über Terrorismus, bis hin zu Vorwürfen der Kinderpornografie wurde nichts ausgelassen. Dies um die sozialistische Linke nach ihrem Aufruf zum Boykott des Verfassungsreferendums zu diskreditieren.
Interessanterweise wurde auch der ehemalige Geheimdienstchef, Hanefi Avc?, verhaftet. Avc? bedeutet auf Türkisch «der Jäger». Dies war bei diesem Mann Programm. Avc? war jahrelang unter den Linken gefürchtet als «Linken-Jäger» und «Linken-Folterer». Seit Herbst 2010 wurden weitere Verhaftungswellen durchgeführt und momentan sind zehn sozialistische Organisationen im DK-Prozess involviert. DK steht für «Devrimci Karargah», was «revolutionäres Hauptquartier» bedeutet. DK ist eine bewaffnete, kommunistische Untergrundorganisation. Zwischenzeitlich wurden einige AktivistInnen und JournalistInnen zumindest aus der Untersuchungshaft entlassen.Die letzte Internationalen Delegation mit Beteiligung der Partei der Arbeit (PdA) im August 2011, bei welcher Genosse Marcel Bosonnet die türkischen Medien mit seinem juristischen Fachwissen beindrucken konnte, dürfte ihren Teil dazu beigetragen haben.

Politische Gründe des Prozesses
Was ist all diesen Verhafteten gemeinsam? Zuerst der Vorwurf des Staatanwalts, Teil des revolutionären Hauptquartiers zu sein. Beziehungsweise sich in dessen Strukturen bewegt zu haben, oder sich wie(!) eine terroristische Gruppierung zu verhalten. Das  «sich wie eine terroristische Gruppierung zu verhalten», wird seit einiger Zeit im präventiven Kampf gegen den Terror mit Untersuchungshaft oder tatsächlichen Verurteilungen bestraft. So reicht es für eine Verurteilung bereits aus, bei Demonstrationen teilzunehmen, einen «Arafat-Schal» zu tragen oder die «falschen»Bücher bei sich zu Hause zu lesen. Daher verwundert es nicht, dass die Staatsanwaltschaft als Beweise zum Beispiel folgende Dinge ins Feld führt: An der gleichen (legalen) Demo wie DK-Mitglieder teilgenommen zu haben.  Fotos, welche Angeklagte bei der Beerdigung einer der führenden DK-Mitglieder zeigt; notabene waren hunderte SozialistInnen und KommunistInnen verschiedenster Organisationen an dieser Beerdigung anwesend. Oder einem der Angeklagten wird vorgeworfen, in den kurdischen Bergen eine Guerilla-Kampfausbildung genossen zu haben, obschon er gleichzeitig in einer anderen Provinz in einem Gerichtsprozess involviert war und es Rechnungsbelege gibt, die er zu der fraglichen Zeit bezahlt hat.
Was aber ist den Angeklagten politisch gemeinsam? Fast alle sind aktiv am Aufbau einer  sozialistische Dachorganisation beteilig. Zudem haben die TÖP und SDP beim Boykott gegen das Verfassungsreferendum teilgenommen und beide Parteien bekennen sich in ihrem Parteiprogram solidarisch mit dem Unabhängigkeitskampf der Kurden.
Der islamisch-konservative Polizeivorsteher Avc? steht aus einem anderen Grund auf der Abschussliste der AKP. Avc? schrieb ein autobiographisches Buch, in welchem er aufzeigt, dass ein Grossteil der (Geheim-)Polizei von der «Fethullah  Gülen Bewegung»unterwandert und in deren Händen sei. Kurz nach der Veröffentlichung seines Buches wurde er verhaftet und im DK-Prozess angeklagt. Für einen allfälligen Freispruch im DK-Prozess wurde bereits vorgesorgt: In der Zwischenzeit wurde Avc? auch im Ergenekon-Prozess angeklagt.

Politische Prozesse in der Türkei

Der türkische Staat führt einen erbitterten Kampf gegen jegliche Opposition. Da die AKP einen EU-Beitritt als Ziel hat, kann sie nicht mehr so wie früher die Opposition bedenkenlos liquidieren. Sie muss «westliche Mittel» anwenden: Den politischen Prozess unter dem Vorwand des präventiven Kampfs gegen den Terror. Die Opposition in Freiheit wird eingeschüchtert, die Kader auf lange Zeit weggesperrt und wenn möglich auch noch gleich psychisch gebrochen. Eine kleine Randnotiz: Untersuchungshaft kann gut und gerne zehn Jahre dauern. So gibt es für die rechte-liberale-säkulare Opposition den Ergenekon-Prozess. Der Vorwurf: Mitglied der nationalistisch-putschistischen Untergrundorganisation «Ergenekon» zu sein, welche den Sturz der jetzigen Regierung vorbereite und durch Desinformation und Anschlägen bereits betreibe. Über 350 Leute- gewählte PolitikerInnen, JournalistInnen, Armee- und Polizeikader sitzen in Untersuchungshaft – laufend kommen neue «Verdächtige» dazu. Fast die gesamte Armeeführung ist 2011 aus Protest gegen diesen Prozess zurückgetreten. Wie in politischen Prozessen üblich, beruht die Anklage nur auf langen Reihen von Indizketten. Bis heute gibt es keinen Beweis, dass diese Untergrundorganisation tatsächlich existiert.
Gegen die kurdische Opposition wird der KCK-Prozess geführt. KCK ist die Länder übergreifende Dachorganisation der nach Befreiung strebenden Kurden, an dessen Spitze Abdullah Öcalan steht. Den Angeklagten wird vorgeworfen, mit ihrer Forderung nach einer politischen Lösung der Kurdenfrage, im Auftrag der PKK und der KCK zu handeln oder Teil einer dieser Organisationen zu sein. Hier ist anzumerken, dass gegen die Kurden sehr wohl auch noch Knüppel, Kugeln und Bomben eingesetzt werden. So wurden im Dezember 2011 mir nichts dir nichts 35 kurdische jugendliche Schmuggler per Kampfflieger weggebombt. Die Stellungnahme der Regierung: «Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit waren es PKK-KämpferInnen, welche die Grenze überquerten». Dass die getöteten Jugendlichen Handys bei sich hatten, was PKK-KämpferInnen per se nicht haben, ist der hochentwickelten türkischen Armeeintelligenz erstaunlicherweise entgangen.

6. Januar 2012 – «Der Prozess»
Seit Herbst 2010 wurde nun die DK-Prozess-Offensive gegen die sozialistisch-kommunistische Linke gestartet. Würde Kafka heute leben, er hätte seine Freude daran, sein Buch «Der Prozess» professionell als Schauspiel umgesetzt zu sehen. Leider ist es aber – ausser vielleicht für die Richter – kein Spiel, sondern zynischer Ernst. Im nächsten Vorwärts folgt eine ausführliche Reportage über den Prozesstag. Soviel sei aber hier schon gesagt: Die Richter liessen nach anstrengende fünf Prozessstunden, in welchen sie gerne Mal vor sich hin dämmerten und dösten, keinen der noch in Untersuchungshaft sitzenden Angeklagten aus dem Untersuchungsgefängnis.  «Der Prozess» findet seine Fortsetzung am 30. April 2012.

 

Nachtrag
In der Zwischenzeit (Ende August 2012) sind „nur“ noch 11 Genossen und Genossinnen in Untersuchungshaft. Zudem wurden weitere Genossen und Genossinnen angeklagt. Der letzte inhaftierte Genosse der TÖPG, Tuncay Yilmaz, wurde Anfang August überraschenderweise aus der Untersuchungshaft entlassen. Der Prozess läuft weiter.

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