Wer regiert die Welt?

Freihandelsabkommen_webSeit Mitte 2013 laufen hinter verschlossenen Türen Verhandlungen, die ein konkretes Ziel haben?: Die Wirtschafts-NATO soll entstehen. Ein Monster, das die ganze Welt regieren und beeinflussen soll. Kräftig vorangetrieben wird das Vorhaben von Banken und Grosskonzernen, um sämtliche Bereiche der ­Wirtschaft rund um den Globus zu liberalisieren und privatisieren. Doch ­Widerstand formiert sich – auch in der Schweiz?!

Wer regiert die Welt? Die Antwort ist einfacher, als sie auf den ersten Augenblick erscheinen mag. Karl Marx schrieb vor über hundert Jahren: «Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet.» Ein Ausdruck dieser kosmopolitischen Gestaltung, heute Globalisierung genannt, ist das «Transatlantic Trade and Investment Partnership» (TTIP). Dieses transatlantische Handels- und Investitionsabkommen soll die Privilegien von Konzernen und Investoren absichern und sogar noch ausweiten. Die Verhandlungen begannen im Juli 2013 in Washington mit der erklärten Absicht, in zwei Jahren ein Abkommen zu unterzeichnen, das eine transatlantische Freihandelszone «Transatlantic Free Trade Area» (Tafta) besiegelt, eine Art Wirtschafts-NATO. Eine neue Weltmacht, die von Lori Wallach, der Chefin der grössten Verbraucher-Schutzorganisation der Welt «Public Citizen», als «die grosse Unterwerfung unter die Interessen von Grosskonzernen» und als «Staatsstreich in Zeitlupe» bezeichnet wurde.

Geheime Verhandlungen

Es sind die Grosskonzerne und Banken, welche, selbstverständlich in ihren Interessen, die TTIP-Verhandlungen kräftig vorantreiben. Konkret sieht dies so aus: Die «Bank of America» und die «CitiGroup» zahlten Millionen-Boni an die von Mr. Yes-we-can Obama eingesetzten Unterhändler zum TTIP, Stefan M. Selig und Michael Froman. Eine zentrale Rolle spielt zudem das Büro des «Handelsvertreters der Vereinigten Staaten» (USTR). Daniel Mullaney, ein Diplomat des USTR, leitet die TTIP-Gespräche. Islam Siddiqui, der «Chefunterhändler für Landwirtschaft», war einst Lobbyist für «Croplife», den Verband der Saatgut-Konzerne. Melissa Agustin, ehemalige Direktorin für Landwirtschaft des USTR, ist heute registrierte Lobbyistin für «Monsanto», den weltgrössten Genmanipulierer. Sean Darragh arbeitet für den Verband der Lebensmittelproduzenten «GMA», in der die Agrarkonzerne «Monsanto» oder «Bayer CropScience» Mitglieder sind. Braucht es weitere Beispiele um zu verstehen, welche Interessen da im Vordergrund stehen? Die Verhandlungen finden hinter verschlossenen Türen statt. Kein einziges Parlament dieser Welt hat je etwas Offizielles über den Inhalt gesehen. Zugang zu den Dokumenten und ganz direkt zu den EntscheidungsträgerInnen haben nur 600 offizielle BeraterInnen der Grosskonzerne, in dessen Auftrag die Verträge ausgehandelt werden. Warum die Öffentlichkeit wie das Weihwasser vom Teufel gemieden wird, erklärte in einem Anfall von Ehrlichkeit der im Juni 2013 zurückgetretene US-Handelsminister Ron Kirk: «In einem früheren Fall ist der Entwurf für ein umfassendes Handelsabkommen publiziert worden, und deshalb sei es am Ende gescheitert.» Kirk bezog sich auf den ersten Anlauf zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen Nafta, dessen Text 2001 auf die Website der Regierung gestellt worden war und so eine Welle an Proteste und Widerstand auslöste.

Bei jeder Schweinerei ist die Schweiz mit dabei

Und die Schweiz? Sie ist an vorderste Front mit dabei – wie könnte es anders sein! Bestes Beispiel dafür sind die Verhandlungen – selbstverständlich auch diese unter dem Sigel «Top Secret» – für das TiSA. Diese Abkürzung steht für «Trade in Services Agreement» und ist nichts anderes als «Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen», an dem neben der EU, die ihrerseits 28 Länder umfasst, 20 Länder unter der Führung der USA und der EU beteiligt sind. Ziel ist die völlige Liberalisierung in möglichst vielen Sektoren wie Bildung, Wasser, Energiebereitstellung, Finanzdienstleistungen, Bau und Einzelhandel. Wie von «Public Services International» (PSI), einem Gewerkschaftsdachverband in mehr als 140 Ländern, zu erfahren ist, könnten «90 Prozent aller existierenden Dienstleistungen in das Abkommen aufgenommen werden». Das würde bedeuten, dass sämtliche Wirtschaftsaspekte einer Gesellschaft dereguliert und für den internationalen Wettbewerb geöffnet würden. Besonders im Fokus stehen jedoch die Bereiche Bildung und Gesundheit. In der Schweiz sind in den beiden Sektoren um die 500?000 Arbeitsplätze betroffen.

Wir haben die Wahl

Doch – und das ist die gute Nachricht – formiert sich weltweit Widerstand gegen die neue Weltmacht. In Vertretung von Hunderten Millionen von Mitgliedern haben rund 350 internationale zivilgesellschaftliche Organisationen in einem offenen Brief die Länder, die über das TiSA verhandeln, zur Aufgabe ihres Vorhabens aufgefordert. Im Schreiben wird festgehalten, dass die Verhandlungen einer weitgehend kommerziellen Agenda folgen, um «Konzernen grössere Profite zu Lasten von Arbeitnehmern, Bauern, Verbrauchern, Umwelt und vielen anderen zu beschaffen». Europaweit wurde eine Kampagne lanciert, die bis zu den europäischen Parlamentswahlen vom 25. Mai dauern wird. Und in der Schweiz hat sich Mitte März das Komitee «Stopp TiSA» gegründet. Als erste Aktion wurde eine Petition lanciert (Siehe dazu Seite 10). Ziel ist ein möglichst breiter Widerstand gegen das TiSA und somit auch das Aufzeigen der Gefahren, die sich hinter TiSA und all den anderen geplanten Abkommen verbergen. Wir haben die Wahl: Gemeinsamer Widerstand zu leisten oder beherrscht zu werden von einem Wirtschafts-Monster.

Länger arbeiten und weniger Rente

renteEs ist so klar, dass es selbst der SVP-Nationalrat, Unternehmer und Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV), Jean-François Rime zugeben muss: «Die Reform ‹Altersvorsorge 2020› ist ein Raubzug auf die Erwerbstätigen.» Doch was steckt hinter dem Reformvorschlag? Welche gesellschaftspolitischen Absichten sind zu erkennen? Die Antwort lautet: Die AHV soll von einer Sozialversicherung mehr und mehr zu einer Sozialhilfeleistung werden. Der kollektive soziale Grundgedanke der AHV soll immer mehr der individuellen Führsorgeleistung weichen. Gut erkennbar ist diese Stossrichtung bei den AHV-Ergänzungsleistungen. Diese wurden als «vorübergehende Massnahme» eingeführt. Sie sollen laut Merkblatt der AHV-Infostelle dort helfen, wo «die Renten nicht die minimalen Lebenskosten decken». Mit der Reform «Altersvorsorge 2020» sollen die Ergänzungsleistungen faktisch ein Bestandteil der AHV-Rente werden, so quasi die 4. Säule, die permanent bestehen bleiben soll. Aber die Rente hat laut Art. 12 Abs. b der Schweizer Bundesverfassung «den Existenzbedarf angemessen zu decken». Somit wurden die Ergänzungsleistungen «vorübergehend» eingeführt, weil die AHV-Rente dem Verfassungsauftrag nicht bei allen RentnerInnen gerecht wird. Warum werden mit der vom Bundesrat vorgeschlagene Reform nicht die Renten erhöht, sprich der Verfassungsauftrag erfüllt, anstatt die Ergänzungsleistungen zu einem fixen Bestandteil zu machen? Sozialversicherung und Sozialhilfe sind schlicht zwei verschiedene paar Schuhe: Die AHV-Rente ist ein generelles, für alle geltendes Recht. Alle haben darauf Anspruch. Sie muss daher nicht erbettelt werden und sie basiert auf einem Prinzip der Umverteilung. Bei den Zusatzleistungen sind der Anspruch sowie die Bemessung der Höhe von individuellen und komplexen Bedingungen abhängig. Sie müssen erbettelt werden, was für viele sehr beschämend ist. Es ist nicht zuletzt eine Frage der Würde, ob man von einer Rente lebt oder von der Sozialhilfe abhängig ist. Und die Würde des Menschen ist doch unantastbar, oder etwa nicht, Herr Bundesrat Alain Berset?

Der Raubzug

Eine gute Übersicht der Abbaupläne des Bundesrat mit politischen Kommentaren und Einschätzungen der Reform «Altersvorsorge 2020» liefert die ausführliche Vernehmlassungsantwort der Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS):

Erhöhung des Frauenrentenalters:

Das AHV-Rentenalter soll bei Frauen auf 65 Jahre steigen. Einmal mehr soll der Sozialabbau auf dem Rücken der Frauen stattfinden, so wie es bei der Kürzung der Witwenrente der Fall war. Die Erhöhung des Rentenalters für die Frauen mit dem Argument der «Gleichberechtigung» zu fordern, ist eine Provokation, da die Löhne der Frauen bei gleicher Arbeit nach wie vor viel tiefer liegen als jene der Männer. Wenn der Eidgenossenschaft die Gleichberechtigung so am Herzen liegt, warum wird nicht die Rente mit 64 Jahren für alle gefordert?

Senkung des Umwandlungssatzes:

Der Rentenumwandlungssatz bei den Pensionskassen wird von heute 6,8 auf 6,0 Prozent gesenkt. Die jährlichen Renten sinken damit um mehr als 10 Prozent! Der Umwandlungssatz ist ein zentrales Element des BVG. Daher muss die Festlegung des Umwandlungssatzes zwingend unter Kontrolle der Gesetzgeber bleiben und darf nicht von den Pensionskassen nach der Logik des freien Marktes bestimmt werden. Im 2010 hat das Volk die geplante Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6,4 Prozent mit 73 Prozent Nein-Stimmen wuchtig abgelehnt. Man kann nun nicht so tun, als hätte diese Abstimmung nie stattgefunden. Daher ist die erneut vorgeschlagene Senkung durch einen mysteriösen Mechanismus unakzeptabel.

Flexibilisierung:

Pensionieren lassen soll man sich künftig zwischen 62 und 70 Jahren. Die Aufforderung an die Senioren, bis zum Alter von 70 Jahren zu arbeiten, ignoriert unter anderem eine Tatsache: ArbeiterInnen, die mit über 55 Jahren entlassen werden, finden oft keine Arbeit mehr. Jede Flexibilisierung der Rente, die sich nach dem schwankenden Parameter der «gesellschaftliche Entwicklung», sprich der wirtschaftlichen Konjunktur richten, ist abzulehnen. Eine Flexibilisierung widerspricht dem generellen Anspruch auf die Rente, der ein wesentlicher Grundpfeiler der AHV ist. Auch für die Bestimmung der Rentenhöhe spricht sich die PdAS entschieden gegen jegliche «automatische Mechanismen» aus, die sich den demokratischen Entscheidungen entziehen.

Erhöhung der Mehrwertsteuer:

Diese besonders unsoziale Steuer soll ab 2019 um einen Prozentpunkt, 2027 nochmals um ein weiteres Prozent erhöht werden. Die PdAS widersetzt sich dieser Erhöhung. Dies umso mehr, als dass die Mehreinnahmen der geplanten Erhöhung nicht voll und ganz der AHV zufliessen sollen. So sollen lediglich zweimal 10 Prozent des Ertrags aus der Anhebung der Mehrwertsteuersätze in die Bundeskasse fliessen sollen.

Kürzung der Bundesbeiträge:

Der Bundesrat schlägt wie gesehen vor, den Beitrag des Bundes von 19,5 auf 10 Prozent zu senken. Damit geraten der gesellschaftliche Ausgleich und das Engagement gegenüber der AHV und dessen Finanzierung in ein schlechtes Gleichgewicht. Die Einnahmen eines Jahres zahlen die Renten des nächsten Jahrs und der Bund leistet dazu einen Beitrag von 19,5 Prozent der Kosten. Dieses System funktioniert so gut, dass der Bund nicht zögerte, 15 Milliarden Franken aus dem AHV-Fonds zugunsten der IV herauszunehmen. Eine Summe, die nun gemächlich vom Bund zurückbezahlt wird.

Was tun? AHV stärken!

Für die PdAS ist die AHV eine exemplarische Sozialversicherung, die nicht destabilisiert werden muss. Im Gegensatz zu den privaten Versicherungen, bei denen die Versicherten das Risiko selber tragen müssen, basiert die AHV auf einer kollektiven Übernahme der Risiken. Ein Prinzip, das auf Biegen und Brechen verteidigt werden muss! Es ist daher unnötig, Veränderungen zu akzeptieren, die sich gar nicht aufzwingen. Jedoch wäre es absurd zu übersehen, dass es in den nächsten Jahren zu gesellschaftlichen Veränderungen kommen wird. Daher gilt es, die AHV zu stärk, da dass komplexe System der Kapitalisierung bei der 2. Säule stark von der Entwicklung der internationalen Finanzmärkte abhängt. Bestes Beispiel dafür ist das Jahr 2008, als mehrere Milliarden des angehäuften Kapitals der Pensionskasse durch die Finanzkrise vernichtet wurden. Für die PdAS ist eine progressive Überführung der 2. Säule in die AHV die beste Lösung für die Zukunft der Renten. Die Partei hat angekündigt, dass sie bald entsprechende Vorschläge vorstellen wird. Man darf

Antifaschismus neu denken

antifaAm 29. März 2014 hätten in Bern auf der einen Seite Rechtskonservative, FaschistInnen und Neonazis, auf der anderen Seite AntirassistInnen und die Antifa demonstrieren sollen. Die Stadt wurde von circa 1000 PolizistInnen ­belagert und am Schluss fand keine Demo statt. Angesichts der Entwicklungen in der Schweiz und in Europa sollten wir uns wieder genauer mit Fragen des Faschismus und des Antifaschismus auseinanderzusetzen.

Ende 2012 versuchte die Gruppe «Stopp Kuscheljustiz» in Bern eine Kundgebung «gegen Ausländerkriminalität und gegen die Ausbeutung der Schweiz [sic!]» durchzuführen. Eine starke antifaschistische Gegenmobilisierung und die Erinnerungen an die Ereignisse rund um das SVP-Familienfest 2007 führten dazu, dass die VeranstalterInnen einen Rückzieher machten und die Kundgebung abgesagt wurde. Am 29. März 2014 versuchten sie erneut eine Kundgebung unter dem Namen «Volksversammlung» zu organisieren. Bewusst distanzierten sie sich diesmal von rechtsextremen Ideologien. Doch ihr Facebook-Auftritt zeigt, dass die Gruppe ein Sammelbecken für rechtskonservative und rechtsextreme Ideologien darstellt. Die «Helvetia» wird zur Heimat der «Eidgenossen» hochstilisiert und populistische Hetzberichte gegen AusländerInnen, Asylsuchende und Kriminelle von Seiten rechtsextremer Parteien wie der PNOS (Partei National Orientierter Schweizer) folgen regelmässig. Und auch Auf­forderungen wie «Schweiz erwache» in Anlehnung an das SA-Kampflied «Deutschland erwache», Aufrufe zu ethnischen Säuberungen oder die Forderung der Todesstrafe gegenüber Andersdenkenden oder MigrantInnen sind die Regel. Häufig findet sich zudem Werbung für die rechtspopulistische SVP. Obwohl sich die SVP von jeglichen rechtsextremen Positionen und Gruppen distanziert, wird damit ersichtlich, dass die SVP auch in diesen Kreisen gewählt wird. Auch die «Volksversammlung» vom 29. März wurde schlussendlich abgesagt. Angekündigte antifaschistische Gegenmobilisierungen im Rahmen von «Bern bleibt Nazifrei» hatten erneut so grossen Druck aufgesetzt, dass die VeranstalterInnen das Demogesuch zurückzogen. Das Polizeiaufgebot blieb jedoch bestehen und so war an jenem Samstag die gesamte Innenstadt von circa 1000 PolizistInnen besetzt. Einzelne rechtsextreme Personen und Gruppen begaben sich trotzdem in die Stadt, ­konnten sich aber nie zu einer Demo formieren. Und die Aktivitäten von «Bern bleibt Nazifrei» konzentrierten sich auf die Reitschule und auf das «FEST gegen Rassismus».

Überall Faschismus??

Es ist mit Sicherheit schwierig, einen Überblick über dieses Amalgam an rechtskonservativen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Positionen und Organisationen zu behalten. Umso schwieriger gestaltet sich die Formulierung eines ideologischen und praxisorientierten Antifaschismus, der sich einerseits über die Historie des Faschismus, des Nationalsozialismus und der antifaschistischen Widerstandsbewegung bewusst ist, andererseits aber nicht alles als Faschismus bezeichnet, was sich im rechten politischen Spektrum positioniert. Gerade in der Schweiz, wo wir weder einen Faschismus kennen, der in Zeiten akzentuierter Klassenkämpfe von der Bourgeoisie als staatstragende Macht eingesetzt wurde, noch eine antifaschistische Bewegung, die sich in einer mehr oder weniger gemeinsamen Tradition sieht, ist das Risiko gross, voreilig für alles die Bezeichnung «Faschismus» zu gebrauchen. Diese Einsicht ändert aber nichts an der Tatsache, dass faschistoide Tendenzen tatsächlich auch in Gruppen und Organisationen zu erkennen sind, die sich von rechtsextremen Positionen distanzieren. Historisch sind solche Züge in den national-konservativen und populistischen Positionen von James Schwarzenbach wiederzufinden, vorwiegend in der Konstruktion einer «generalisierten Masse» (damals die ItalienerInnen), die als Bedrohung für das angeblich Schweizerische definiert wird, von der direkten Demokratie bis hin zu den kulinarischen Gewohnheiten. Genauso verhält es sich bei der Gruppe «Stopp Kuscheljustiz»: Obwohl sich die VeranstalterInnen von rechtsextremen Positionen distanzieren und sich nicht als FaschistInnen oder Neonazis wissen wollen, zieht eine solche «Volksversammlung» sehr wohl offen deklarierte RassistInnen, FaschistInnen und RechtspopulistInnen an. Die faschistoiden Züge der Rechten in der Schweiz haben sich also durch rassistische Komponenten («zu viele AusländerInnen») und den Schutz der eigenen «Identität» und «Tradition» charakterisiert. Und sie sind vor allem auch immer bis in die «Mitte der Gesellschaft» vorzufinden.

Woran anknüpfen??

Die Verhinderung der «Volksversammlung» durch den Aufruf zu einer linken und antifaschistischen Gegendemo hat gezeigt, dass die Antifa «auf der Strasse» eine wichtige Arbeit leistet. Doch die faschistoiden Tendenzen in der «Mitte der Gesellschaft» manifestieren sich heute in der Annahme der Ausschaffungsinitiative von kriminellen AusländerInnen und der Masseneinwanderungsinitiative. Der Umgang mit Faschismus und Antifaschismus in der Antifa und vor allem die Aktualitätsbezogenheit einer antifaschistischen Intervention muss heute darum vermehrt auch die Frage stellen, warum diese faschistoiden Tendenzen bei unseren Nachbarn und ArbeitskollegInnen auf fruchtbaren Boden stossen. Eine Analyse zur Abstimmung am 9. Februar hat gezeigt, dass sich in erster Linie 50- bis 59-Jährige mit obligatorischem Schulabschluss und weniger als 3000 Franken Monatseinkommen aus den städtischen Agglomerationen für die Masseneinwanderungsinitiative ausgesprochen haben. Auch wenn solche Analysen mit Vorsicht zu geniessen sind, zeigen sie auf, dass vor allem ArbeiterInnen, die vom aktuellen Restrukturierungsprozess des schweizerischen Kapitalismus getroffen sind, auf rechtskonservative, rechtspopulistische und zum Teil auch rechtsextreme Positionen aufspringen. Das ist der Ausdruck davon, dass faschistische Tendenzen in der «Mitte der Gesellschaft» existieren. Eine Antifa sollte also dieses Spezifische aufnehmen und im Zusammenhang mit den heutigen Schwierigkeiten der Klassenkämpfe reflektieren. Dies bedeutet aber auch, dass sich die antifaschistische Intervention nicht auf die Strasse beschränken lässt, sondern vermehrt auch in den Quartieren, in den Schulen und an den Arbeitsplätzen anknüpfen muss.

Ungenügend!

40b1798b4dWenn der Bundesrat sich mit Lohnschutzmassnahmen befasst, können in der Regel keine grossen Fortschritte erwartet werden. So war es auch am 26. März, als die Landesregierung ihre Beschlüsse über die so genannten «flankierenden Massnahmen» bekannt gab. Es sind dies jene Bestimmungen, die vor Lohndumping schützen sollten und der SVP sauer aufstossen.

«Der Bundesrat hat die Chance verpasst, den Lohn- und Arbeitsschutz in der Schweiz entscheidend zu verstärken und somit auch die Lehren aus der Abstimmungsniederlage zu ziehen», schreibt die Gewerkschaft Unia in ihrer Stellungnahme. Was die Unia andeutet, ist in der Medienmitteilung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) ausführlicher zu lesen: «Das Abstimmungsresultat vom 9. Februar zur SVP-Zuwanderungsinitiative ist Ausdruck einer weit verbreiteten ­Sorge um Löhne, Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze. Deshalb muss der Lohnschutz ausgebaut werden.» Und der SGB tut gut daran, eine zwar weit verbreitete aber ebenso falsche Vorstellung aus der Welt zu schaffen: «Kontingente bringen nicht mehr Lohnschutz. Die Erfahrungen mit dem früheren Kontingentssystem zeigen, dass damals der Lohnschutz völlig ungenügend war und deshalb in zahlreichen Sektoren eine Tieflohnpolitik betrieben werden konnte.» Die Tausenden von Saisoniers, die über Jahrzehnte wie Zitronen ausgepresst wurden, lassen grüssen.

Grosse Lücken sind noch offen

Zurück in die Gegenwart: Der Bundesrat schlägt vor, in Branchen mit Lohndumping einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) auf Antrag der Vertragsparteien erleichtert allgemeinverbindlich zu erklären. Zudem ist der Bundesrat bereit, die Sanktionen zu verschärfen (Erhöhung der Busse von heute maximal 5000 auf 30?000 Franken) und die Kontrolltätigkeit in den Grenzregionen zu erhöhen. «Dies sind Schritte in die richtige Richtung, genügen aber nicht», schreibt die Unia, denn der Bundesrat lässt grosse Lücken offen. Erstens dürfen Firmen oder Scheinselbstständige weiterhin auch bei offensichtlichen Verletzungen der Mindestarbeitsbedingungen ungehindert weiterarbeiten. «Nach Abschluss der Arbeiten können sich aber viele Firmen – insbesondere Subunternehmer – den Sanktionen entziehen und kommen so ungeschoren davon», hält die Unia diesbezüglich fest. Zweitens gibt es im Gesetz nach wie vor kaum eine Möglichkeit, die in vielen GAV geforderten Kautionen durchzusetzen. Ohne Kaution fehlt oft die Möglichkeit, allfällige Bussen einzukassieren. Natürlich wird so die Durchsetzung der Mindestarbeitsbedingungen erschwert. Drittens ist eine wirksame Kontrolle der Mindestarbeitsbedingungen nur möglich, wenn die Vertragsparteien vor Ort präsent sein können. «Dies müsste im Gesetz ausdrücklich festgehalten sein», fordert daher die Unia. Und viertens bleiben die Arbeitnehmenden, die sich gegen Lohndumping zur Wehr setzten, weiterhin völlig ungenügend gegen Entlassung geschützt. Diese Tatsache sagt vieles – wenn nicht alles – über die Beschlüsse der Regierung. Unsinnig und unverständlich?? Zum Schluss ein Wort zur SVP, die einmal mehr ihr wahres Gesicht zeigt. Die zaghaften und ungenügenden Massnahmen des Bundesrats in Sachen flankierenden Massnahmen definiert die Partei als «unsinnig und unverständlich». Der angebliche Schutz der Schweizer Heimat und der hiesigen Werten hört immer dort auf, wo es um die Rechte der ArbeitnehmerInnen im ach so geliebten Heimatland geht. Ehrlicher und korrekter wäre es, wenn die SVP das V für Volk mit einem W für Wirtschaft ersetzen würde. Aber eben, mit Ehrlichkeit und Korrektheit lässt sich das Volk nicht blenden und es können keine Wahlen und Abstimmungen gewonnen werden. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Die Lektion der kubanischen ÄrztInnen

arzte_kuba«Die kubanischen Ärztinnen sehen wie Hausmädchen aus.» Mit dieser Aussage gab eine rechte brasilianische Journalistin der gegenwärtigen Welle von Intoleranz und rassistischer Diskriminierung Ausdruck und sprach, unbemerkt, Kuba damit ein bedeutungsvolles Lob aus.

Angesichts der prekären medizinischen Versorgung schloss die brasilianische Regierung, nachdem sie vergeblich die brasilianischen ÄrztInnen zu motivieren versucht hatte, Stellen in unterversorgten Regionen anzunehmen, mit Kuba ein Abkommen. Damit will sie Ärztinnen und Ärzte dieses Landes, welches unbestrittenermassen eines der besten, wenn nicht das beste sozialmedizinische System hat, nach Brasilien holen. Diese Einschätzung stützt sich auf die guten Gesundheitsindikatoren, von der Säuglingssterblichkeit bis zur Lebenserwartung, welche im Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung einzigartig sind. Dieses Abkommen, welches einfach als eines mehr in der Reihe der zahlreichen anderen zwischen Brasilien und Kuba unterzeichneten hätte betrachtet werden können, rief eine Welle von Reaktionen hervor, welche auf unerwartete und erhellende Weise eine soziale Diagnostik dieser beiden Gesellschaften ermöglicht. Fangen wir bei den brasilianischen ÄrztInnen an, welche zwar in ihrer Mehrheit an den öffentlichen Universitäten – die als die besten gelten – ausgebildet werden, aber praktisch nichts der Gesellschaft zurückgeben, welche sie gratis ausgebildet hat. In der Regel eröffnen sie nach dem Abschluss ihrer Ausbildung in den bestsituierten Grossstädten ihre Praxen, um eine Kundschaft mit grosser Kaufkraft zu versorgen. Aus diesem Grund kommt die Verteilung der Krankheiten und der ÄrztInnen auf unserer Landkarte nicht zur Deckung, ja ist geradezu verkehrt: wo die Krankheiten sind, fehlen die ÄrztInnen, wo die ÄrztInnen sind, hat es nicht viele Krankheiten.

Lob für Kuba, Kritik für Brasilien

Trotz der Weigerung, die bedürftigsten Regionen des Landes zu versorgen, versuchte die Rechte zu verhindern, dass die Regierung ÄrztInnen aus anderen Ländern – nicht nur Kuba – ruft. Die Ärzteschaft kündigte an, eine Kampagne gegen die Wiederwahl der Präsidentin Dilma Roussef zu starten, im Glauben, über politische Autorität gegenüber den PatientInnen zu verfügen. Die eingangs erwähnte Aussage über die kubanischen ÄrztInnen reiht sich in dieses Szenarium ein und zeugt vom Elitarismus und der mangelnden sozialen Sensibilität vieler brasilianischer ÄrztIn­nen. Der Versuch, die kubanischen ÄrztInnen zu disqualifizieren, weil sie nicht dem Bild des männlichen und weissen Arztes aus den Hollywood-­Filmen entsprechen, sondern ganz gewöhnliche Frauen aus dem Volk sind, entpuppt sich als enormes Lob der kubanischen Gesellschaft und als Kritik der bra­si­lianischen. In Kuba ist es für Frauen einfacher Herkunft, die in Brasilien Hausmädchen wären, normal, dass sie sich zu Ärztinnen ausbilden können und ihre Solidarität mit anderen Ländern bekunden.

Eine Lektion von grosser Tragweite

Den umgedrehten Sinn der zitierten Aussage begriffen offenbar auch breite Bevölkerungskreise, welche, zu Beginn noch verunsichert, bald sehr positiv reagierten und zu 80 Prozent die Arbeit der kubanischen ÄrztInnen in Brasilien unterstützten. Denn erstmals erreichte die medizinische Versorgung breite Sektoren der Bevölkerung, vor allem aber auch Gebiete, wo sie bisher fehlte oder äusserst prekär war. Städte, wo es nie ÄrztInnen gab, wo die Menschen grosse Distanzen zurücklegen mussten, um sporadisch medizinisch versorgt zu werden, erfuhren, was das grundlegende Recht auf direkte und permanente medizinische Versorgung bedeutet. Es handelt sich hier um ein Programm des Gesundheitswesens, beinhaltet aber gleichzeitig eine politische Lektion von grosser Tragweite – was die brasilianische Rechte am meisten stört. Fachkräfte, die an öffentlichen Universitäten ausgebildet sind – in Kuba sind dies alle – müssten prioritär die Bedürfnisse der breiten Bevölkerung befriedigen, welche ja schliesslich die Steuern für die Finanzierung der öffentlichen Universitäten bezahlt und welche im allgemeinen ihre Kinder nicht an die Fakultät schicken kann, an die medizinische am seltensten.

An den realen Bedürfnissen orientieren

Brasilien macht grosse Fortschritte wie nie in seiner Geschichte im Kampf gegen Ungleichheit, Armut und Elend, ohne dass sich dies bisher in den medizinischen Ausbildungsstrukturen nieder­geschla­gen hätte. Von daher die Bedeutung der kubanischen Unterstützung, für die sich Dilma Roussef anlässlich dem Treffen der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) in Havanna bedankte. Bei dieser Gelegenheit weihte sie den ersten Teil des Tiefseehafens Mariel ein, welcher Brasilien baut und so die US-Blockade durchbricht. Die kubanischen ÄrztInnen sind besser als ein grosser Teil der brasilianischen heutzutage, dies – abgesehen von ihrer vorzüglichen Ausbildung – als Bürger (cidadãos), welche in einer Gesellschaft ausgebildet wurden, die sich nicht an einer merkantilistischen Medizin, sondern an den realen Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren. Die Anwesenheit der kubanischen ÄrztInnen erlaubt, wie kaum ein Manual politischer Erziehung, die Prinzipien kapitalistischer Gesellschaften – die Orientierung am Tauschwert und an der Nachfrage des Marktes – und diejenigen sozialistischer – die Orientierung am Gebrauchswert und an den Bedürfnissen der Menschen – zu erhellen.

Freiheit und Papiere für O.!

01_liberty for O_webDer Fall von O., einem schwulen Flüchtling aus Nigeria, macht zur Zeit das wahre Gesicht der schweizerischen Asylpolitik? sichtbar: Homosexualität wird faktisch nicht als Asylgrund anerkannt. Dadurch wird die Unterscheidung von echten und unechten Flüchtlingen zementiert.

Das Asylwesen in der Schweiz hat sich längst selbst pervertiert und kommt einer bitterbösen Satire gleich. Eisern ist die Botschaft, die täglich neue Verbreitung findet: Es gibt echte und unechte Flüchtlinge. Es gibt Menschen, die auf der Flucht vor Gewalt in der Schweiz Asyl beantragen und echte Flüchtlinge sind. Sie haben ein wirkliches Anrecht auf Schutz, aber wenn es zu viele von den wirklich Verfolgten gibt, kontigentiert die Schweiz, wie im Fall des Syrienkrieges, auch die echten Flüchtlinge. Dieses Lotterieverfahren ist schon sehr wichtig, denn würden wir die Grenzen öffnen, kämen alle Menschen aus Afrika oder dem Osten in die Schweiz. Es wäre diesen Menschen dann auch ganz egal, ob sie in der Schweiz eine Arbeit finden würden und sich ein Leben aufbauen könnten – sie kämen einfach mal alle und blieben dann für immer. Diese Menschen übrigens nennen wir unechte Flüchtlinge oder Wirtschaftsflüchtlinge, am besten versteht man aber die Bezeichnung «ScheinasylantIn». Das Selektionieren von Menschen an der Grenze auf hegemoniale Machtansprüche oder gar auf die Einteilung in Rassen zurückzuführen, wäre absurd. Polizei- und Justizministerin Simonetta Sommaruga besitzt als linke Politikerin ein historisches Bewusstsein und weiss, was es bedeutet, Grenzen nur für Auserwählte zu öffnen. Deshalb hilft sie dem BFM, wo sie nur kann, damit die Auswahl der Menschen nach ihrer Herkunft gelingt. 2011 zum Beispiel hat Sommaruga mit Nigerias Aussenminister, Odein Ajumogobia, ein Abkommen unterzeichnet, das die Rückführung von nigerianischen Flüchtlingen in ihr Heimatland regelt. Seit 2013 gilt für die Prüfung von Asylgesuchen nigerianischer Staatsangehöriger ein beschleunigtes Asylverfahren (fast track). Erst kürzlich traf sich eine Delegation der Migrationspartnerschaft Schweiz Nigeria, um «Lösungen der irregulären Migration in die Schweiz zu finden», wie es im online Newsletter der Schweizer Bundesverwaltung heisst.

Der Fall O.

Für die sogenannte Reintegration der Flüchtlinge sichert die Schweiz Nigeria weitgehende Unterstützung bei der Rückführung zu. Gerade solche Entscheide geben dem BFM freilich Zuversicht, hatte sie doch bereits Ende 2010 das Asylgesuch von O. und seinem Freund nach nur einem Monat abgelehnt. Die beiden Männer mussten aus ihrem Dorf im südlichen Teil Nigerias fliehen, nachdem sie sich in der Öffentlichkeit als Paar gezeigt hatten. O.’s Freund ist bereits ausgeschafft worden, die Reintegration mit Hilfe der Schweiz hat perfekt geklappt – O.’s Freund wurde nackt auf einem Anhänger durchs Dorf gezogen, musste exorzistische Rituale über sich ergehen lassen und der gleichgeschlechtlichen Liebe abschwören. O. wird nicht müde zu erzählen, wie alles war, bevor sein Leben 2005 eine krasse Wende nimmt. Als Naturheilpraktiker entwickelt O. eine entzündungshemmende Arznei aus Pflanzen, mit der er sich auch ausserhalb seines Dorfes einen Namen machen kann. Sowohl schwangere Frauen als auch Kranke vertrauen sich ihm an. Nachdem sich aber O. öffentlich zu seinem Partner bekennt, beginnt eine Hetze, deren Anführer O.’s Vater wird, der Pastor des Dorfes. Er prangert seinen Sohn als Sündenbock an und macht ihn für jedes Unglück im Dorf verantwortlich. Eines nachts dringen schliesslich Bekannte in O.’s Haus ein. Sie fesseln das Paar – in letzter Minute gelingt ihnen die Flucht. Die Narben am Rücken O.’s erinnern noch heute an die Messerschnitte. O. und sein Freund fliehen zunächst in die Grossstadt Lagos, wo sie in der Anonymität ein neues Leben aufbauen, ohne sich als Paar zu erkennen zu geben. Nach vier Jahren finden Bekannte ihren Aufenthaltsort heraus, sodass sie erneut fliehen müssen. Sie bezahlen Schlepper und werden auf einem Transporter durch die Wüste nach Marokko gefahren. Von dort aus geht die Flucht in einem Schlauchboot weiter nach Spanien. O. berichet, wie er glaubte, dass er auf offenem Meer sterben werde, da zeitweise der Motor ausfiel.

Illegalisierung und Solidarität

Ende 2010 gelangt das Paar dann in die Schweiz, wo es einen Erstasylantrag stellt. Bereits nach einem Monat schmettert das BFM ihr Gesuch ab, mit der Begründung, ihr Fluchtgrund sei nicht glaubwürdig. Seitdem lebt O. illegalisiert und ohne Papiere in der Schweiz. Das Wiedererwägungsgesuch, welches Dank dem CCSI (Centre de Contact Suisses-Immigrés) Fribourg 2013 eingereicht werden kann, wird erneut abgelehnt. Das BFM zweifle die sexuelle Orientierung O.’s nicht an, heisst es im zweiten Negativentscheid, sie sei aber im Rahmen des Gesuchs unwichtig, da es für O. möglich sei, in Nigeria zu leben, wenn er seine Homosexualität diskret lebe. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) legt jedoch gerade fest, dass von Asylsuchenden nicht verlangt werden dürfe, ihre sexuelle Orientierung im Herkunftsland verdeckt zu halten. Inzwischen steht diese Regelung auch auf dem Handout für die GutachterInnen des BFM. Grundsätzlich ist die Schweiz aber nicht an den EuGH gebunden, was ein krasser Missstand darstellt, dem O. zum Opfer fällt. Auch das Bundesverwaltungsgericht sieht im Fall O. keinen Handlungsbedarf. Mittlerweile hat sich die homophobe Gesetzeslage (14 Jahre Gefängnis) in Nigeria weiter verschärft. Wer sich weigert, eine LGBT–Person zu denunzieren, läuft selbst Gefahr, sich strafbar zu machen. Lynchjustiz und Gewaltübergriffe haben keine rechtlichen Konsequenzen, so werden zum Beispiel lesbische Frauen vergewaltigt, um sie zu «heilen». Im Süden Nigerias wird die Hatz von evangelikalen Christen geschürt, was die katholische Bischofskonferenz Nigerias unlängst zur Gratulation veranlasste. Ende März 2014 wird O. wegen illegalem Aufenthalt in Bern in Haft genommen. Ihm droht die Ausschaffung. Innert kürzester Zeit haben sich Menschen in Bern mit O. solidarisiert und fordern nun die sofortige Freilassung und die Annahme seines Asylgesuches.

Wegdada

Abgesagte Kuscheljustiz-Demo Bern 2014Am 1. Mai 2011 führte die Zürcher Polizei über 500 «?Personenkontrollen?» durch und sprach etliche Wegweisungen aus. Gemäss Polizei hätten nur ­dadurch Ausschreitungen und Sachschäden verhindert werden können. Doch einige der weggewiesenen Personen wehren sich seitdem auf dem Rechtsweg gegen die sogenannte Personenkontrolle und sie haben nun vor Bundesgericht teilweise Recht bekommen.

Gegen 550 Frauen und Männer wurden am 1. Mai 2011 auf dem Helvetiaplatz und auf dem Gelände der Kanzlei von der Stadt- und der Kantonspolizei Zürich eingekesselt und etwa zweieinhalb Stunden dort festgehalten. Bis zu dreieinhalb Stunden verbrachten sie darauf in den Zellen der Kaserne – dieses Vorgehen wurde von der Polizei als Personenkontrolle bezeichnet. Zuletzt erhielten die «kontrollierten» Personen eine Wegweisungsverfügung mit Rayonverbot, weil sie, so der Text der Verfügung, «die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet» hätten. Sie mussten sich für 24 Stunden von den Stadtkreisen 1, 4 und 5 und damit auch vom 1. Mai-Fest fernhalten. Die Stadtpolizei mit Vorsteher Daniel Leupi freute sich: Endlich sei ein Rezept gegen die Ausschreitungen am 1. Mai gefunden.

Bundesgericht sagt?: Es war ein Freiheitsentzug

Eine Gruppe von elf Betroffenen hat sich bereits kurz nach dem 1. Mai 2011 zu einem Kollektiv formiert und sich mit Unterstützung des Zürcher Anwalts Viktor Györffy auf dem Rechtsweg gegen das Vorgehen der Polizei gewehrt. Das Kollektiv betrachtet die ganze Aktion als widerrechtlichen Freiheitsentzug, die zudem die Aushebelung der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum bedeutet. Damit ein derartiges Vorgehen seitens der Polizei nicht zur allgemeingültigen Strategie im Umgang mit öffentlichen Veranstaltungen wird – auch nicht an einem 1. Mai – hat das Kollektiv zunächst Beschwerden bei der Stadt- und der Kantonspolizei erhoben. Diese wurden abgewiesen und das Kollektiv rekurrierte. Der Rekurs durchlief mehrere Verwaltungsinstanzen, bis er schliesslich beim Bundesgericht landete. Seit dem 29. Januar steht dessen Antwort fest: Das Bundesgericht wertet zwar die Einkesselung auf dem Helvetiaplatz und dem Kanzleiareal für sich allein nicht als Freiheitsentzug, wohl aber das mehrstündige Festhalten in den Zellen der Kaserne und damit die ganze Ak­tion. Es gibt die Beschwerde zurück an das Zwangsmassnahmengericht Zürich, das es davor abgelehnt hatte, sich überhaupt damit zu befassen. Nun muss es den Fall doch auf Rechtswidrigkeit prüfen, und es dürfte schwierig werden, die sogenannte Personenkontrolle in der Kaserne anders zu bewerten als das Bundesgericht.

Kleiner Triumph der Weggewiesenen

Weil der Rechtsweg nicht billig ist – die Kosten für den Instanzenzug und den Anwalt betragen bis jetzt bereits über 10?000 Franken, – hat das Rekurs-Kollektiv nur drei Fälle exemplarisch weitergezogen. Während der vergangenen drei Jahre hat das Kollektiv Geld gesammelt, zum Beispiel mit Soli-Partys und Soli-Tombolas. Zudem erhielten zwei Rekurrierende unentgeltliche Rechtspflege, die sie im Falle einer Niederlage aber zurückzahlen müssten. Mit vereinten Kräften war die Finanzierung bisher also knapp möglich. Die Sache ist noch nicht ganz ausgestanden, aber ein Teilerfolg ist erzielt. Es kann nicht sein, dass gegen 550 Menschen, bloss weil sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einem bestimmten Platz aufhalten, stundenlang festgehalten werden. Es ist rechtsstaatlich äusserst bedenklich, wenn die Polizei ein ganzes Quartier zum Sperr­gebiet erklären kann. Fast drei Jahre nach den präventiven Massenverhaftungen haben die Rekurrierenden einen kleinen Triumph errungen. Es ist zu hoffen, dass es so weitergeht.

Arbeitsmarktreform gegen die ArbeiterInnen

07_jobact2Der neue, junge Ministerpräsident Italiens Matteo Renzi von der Demokratischen Partei (PD) hat nach dem «Mini-Putsch» gegen seinen Vorgänger Enrico Letta keinen Moment gezögert und die ersten Reformen eingeleitet. Schon nach wenigen Wochen zeigt sich, wen die Regierung Renzi tatsächlich vertritt.

Zwei Begriffe haben die letzten Monate die politische Diskussion in Italien geprägt: «spending review» und «jobs act». Diese Begriffe sind Anglizismen, die bewusst eingesetzt werden, um die Arbeitsmarkt- und Institutionenreformen den Proletarisierten unverständlich zu machen. Gleichzeitig stellen sie auch massive Ab- und Umbaupläne dar, welche direkte Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse der ArbeiterInnen zeigen werden. In dieser Hinsicht spricht Renzi eine klare Sprache, dies muss man ihm lassen. Die Regierung Renzi schreibt sich in eine politische Kontinuität ein, die mit der ersten Wahl Berlusconis in den 1990er Jahren begonnen hat und über die TechnokratInnen-Regierung von Mario Monti (November 2011 bis April 2013) bis zur «Regierung ohne Wahlen» von Enrico Letta (April 2013 bis Februar 2014) geht. Diese vermochten es nicht, diejenigen «Reformen» einzuleiten, welche für den italienischen Kapitalismus notwendig sind, um wieder Profite zu generieren und aus der Krise zu kommen. Zu gross waren die internen Widersprüche innerhalb der Bourgeoisie und innerhalb der politischen Parteien, die sie vertreten. So konnte sich Renzi – der sich selber «il rottamatore» (der Verschrotter) nennt – als etwas «Neues» präsentieren, das die alte politische Garde ersetzt und endlich mal «handelt» und seine Ideen «durchzieht». Mit 39 Jahren ist er der jüngste Premierminister in der Geschichte Italiens, der erneut ohne Wahlen und somit im bürgerlichen Verständnis «undemokratisch» eingesetzt wurde.

«Jobs act»: Der neue Arbeitsplan

Die herrschenden Klassen Italiens haben sich auf diese «neue» Figur gestützt, um aus der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Sackgasse zu kommen und einen qualitativen Sprung zu machen. Das erste Ziel besteht darin, den Arbeitsmarkt zu restrukturieren. Die «renzianische» Arbeitsmarktreform bestehen darin, durch neue Formen von Verträgen den Zugang und den Abgang bei einer Stelle zu flexibilisieren. So werden befristete Verträge komplett liberalisiert. Diese können den ArbeiterInnen ohne Erklärung auferlegt und während drei Jahren verlängert werden. Somit haben die UnternehmerInnen die nötigen gesetzlichen Instrumente, um die Proletarisierten nach ihren kurzfristig ausgerichteten Profitbedürfnissen einzustellen oder zu entlassen. Dieser neue Status kann bis auf 20 Prozent der Belegschaft eines Unternehmens angewendet werden. Eine weitere Vertragsform, die komplett liberalisiert und der Willkür der Unternehmen überlassen wird, sind die Lehrlingsverträge. Im Prinzip ist die Idee hinter den Lehrlingsverträgen, Jugendlichen eine Berufsausbildung und anschliessend eine feste Anstellung zu garantieren. Mit der Arbeitsmarktreform von Renzi besteht nun keine Pflicht mehr für die UnternehmerInnen, zu einem bestimmten Zeitpunkt den Lehrlingsvertrag in eine unbefristete Anstellung umzuwandeln. Im Gegenteil, mit dem Argument des «lebenslangen Lernens» können die Löhne gar nach unten angepasst und die Lehrlingsverträge immer wieder erneuert werden. Vor zwanzig Jahren wurden die ersten «prekären Verträge» eingeführt und die haben – entgegen allen Versprechen der Politik – weder als Sprungbrett in besser bezahlte Jobs, noch als Einstieg in einen stabilen Arbeitsmarkt gedient. Vielmehr ist in Italien feststellbar, dass Löhne und Arbeitsbedingungen stark unter Druck stehen – und neue Stellen wurden auch kaum geschaffen. Der renzianische «jobs act» garantiert nun der italienischen Bourgeoisie eine noch prekärere und flexiblere Arbeitskraft mit immer weniger sozialen Rechten.

«Spending review»: Die öffentlichen Ausgaben reduzieren

Renzi hat zeitgleich eine Steuererleichterung von zehn Milliarden Euro angekündigt. Dies mit dem Ziel, die jährlichen Einkommen unter 15?000 Euro zu entlasten. Sein Propagandaspruch: «10 Milliarden Euro für 10 Millionen Italiener». Auch hat der französische Präsident François Holland nach dem Besuch von Matteo Renzi am 15. März 2014 erklärt: «In den Ankündigungen von Präsident Renzi und in den Entscheidungen, die ich für Frankreich getroffen habe – vor allem mit dem Pakt der Verantwortung – hat es viele Übereinstimmungen. Wir haben beide erkannt, dass wir den Arbeitsmarkt modernisieren müssen, aber auch, dass unsere Beschäftigungspolitik von allen wirtschaftlichen Akteuren getragen werden muss.» Und tatsächlich hat Renzi eine allgemeine monatliche Lohnerhöhung von 80 Euro versprochen, die über die angekündigten Steuererleichterungen generiert werden sollen. Steuererleichterungen bedeuten aber auch eine Reduktion der öffentlichen Ausgaben. Und hier setzt das «spending review» an. Das eigentliche Ziel ist die Einführung einer Schuldenbremse für die öffentlichen Ausgaben, in erster Linie für die Sozial­ausgaben. Vor allem im Gesundheitsbereich, im öffentlichen Transport, in der Bildung und in der Sozialhilfe werden Schritt für Schritt solche Mechanismen eingeführt – alles Sektoren, in denen private Unternehmen eine immer wichtigere Rolle spielen, was zu einer Preiserhöhung der Basisleistungen führt. Parallel dazu ist die Regierung Renzi daran, eine grosse Zahl (85?000) an öffentlichen Stellen zu streichen. Was Renzi also mit einer Hand den ArbeiterInnen zu geben scheint, nimmt er ihnen mit der anderen Hand wieder weg.

Am 12. April gegen den «jobs act»

Matteo Renzi lässt so die Wünsche der italienischen Bourgeoisie in Erfüllung gehen, nämlich ein von jeglicher Autonomie und Interessenvertretung beraubtes Proletariat, das noch weiter ausgebeutet werden kann. Ob in Italien oder in anderen krisengeprägten Ländern der EU, die herrschenden Klassen wollen möglichst schnell den Arbeitsmarkt herstellen, der ihren Profiten zu Gute kommt. Diese Politik löst Kämpfe aus, die oft isoliert und auf sich bezogen bleiben. Doch gerade in Italien werden vermehrt Momente geschaffen, an denen die kämpfenden Proletarisierten zusammenkommen. Am 19. Oktober 2013 gingen in Rom fast 100’000 Menschen auf die Strasse, um für Einkommen, Wohnraum und Würde zu protestieren. Am 12. April findet erneut eine landesweiter Mobilisierungstag unter dem Motto «Geschlossen und unflexibel gegen den jobs act» statt. Bleibt zu hoffen, dass diese Mobilisierung einen ersten Schritt raus aus der Defensive und eine Vorbereitung der Offensive darstellt.