Wie kommen wir zum Sozialismus?
Tarek Idri. Soll die Bündnispolitik im Mittelpunkt der revolutionären Strategie der PdA stehen? Oder sollte nicht vielmehr die Ausweitung des Kontakts mit der Bevölkerung in den Fokus gestellt werden? Überlegungen zu den verschiedenen Vorschlägen, welche bei der strategischen Ausrichtung der Partei zur Debatte stehen.
Die Diskussion um das neue Parteiprogramm der Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) hat dazu geführt, dass man wieder über die Frage der Strategie spricht, die schon länger nicht mehr auf nationaler Ebene behandelt wurde. Wie kommen wir zum Sozialismus? So lautet knapp formuliert die zentrale Frage unserer Bewegung. Die strategische Resolution, welche die Grundlage für das neue Parteiprogramm bilden soll und dem Parteitag im November vorgelegt wird, gibt sehr präzis das Ziel an, das wir als Partei der Arbeiter:innenklasse verfolgen: Das «strategische Ziel» der PdAS «ist die Eroberung der politischen Macht und der Sturz der Herrschaft der Bourgeoisie. Dies ermöglicht den Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaft (…).» Mit dieser Formulierung wird ganz konkret das Ziel angegeben, auf das unsere Bewegung als Ganzes hinsteuert: Die Arbeiter:innenklasse muss die politische Macht erobern und der Bourgeoisie die Macht entreissen. Dieses Ziel wird mit fast denselben Worten bereits im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels genannt («Sturz der Bourgeoisherrschaft,
Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat») und hat nichts von seiner Richtigkeit verloren, solange wir uns im Kapitalismus befinden. Die schwierigere
Frage ist, wie wir dieses Ziel erreichen. Das ist im Grunde genommen die Frage der Strategie.
Mit der Zustimmung der Mehrheit
Die bürgerliche Herrschaft stürzen tönt nach einem Staatsstreich. Wir Kommunist:innen sind jedoch keine Putschist:innen. Wir zetteln keine Verschwörungen an. Wir stacheln die Arbeiter:innenklasse nicht einfach zum Umsturz der Regierung auf. Das sind uralte Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus. Schon Lenin schrieb: «Die Sozialdemokratie hat die Losung des Aufstands nicht unüberlegt ausgegeben. Sie hat stets die revolutionäre Phrase bekämpft und wird sie auch weiter bekämpfen, sie wird eine nüchterne Einschätzung der Kräfte und eine nüchterne Analyse der Lage fordern. Die Sozialdemokratie spricht schon seit 1902 von der Vorbereitung des Aufstands, ohne jemals diese Vorbereitung mit der sinnlosen künstlichen Inszenierung von Putschen zu verwechseln, die unsere Kräfte nur unnütz vergeuden würde. Und erst jetzt, nach dem 9.Januar (1905), hat die Arbeiterpartei die Losung des Aufstands auf die Tagesordnung gesetzt (…). Die Selbstherrschaft selber hat diese Losung zur praktischen Losung der Arbeiterbewegung gemacht.» Man beachte hier sehr genau die letzten zwei Sätze. Der 9.Januar 1905, der Petersburger Blutsonntag, als der Zar eine friedliche Demonstration niedermetzeln liess und im ganzen Land Unruhen ausbrachen, das war der Auslöser, der den Aufstand zur praktischen Losung (Parole) für die revolutionäre Partei machte. Es sind immer die Unterdrücker, die durch ihre Anwendung von Gewalt die Unterdrückten zum Widerstand herausfordern, nicht umgekehrt.
Die sozialistische Revolution ist ein Aufstand der Massen, kein Staatsstreich einer Minderheit. Die PdAS-Resolution ist in dieser Frage auch recht deutlich: «Der Sozialismus kann in der Schweiz nicht (…) erreicht werden, ohne dass eine Mehrheit der Bevölkerung der Idee einer gesellschaftlichen Veränderung zustimmt (…).» Wie aber erreichen wir das Ziel der politischen Machtergreifung und den Sturz der Bourgeoisherrschaft – mit der Zustimmung der Mehrheit?
Die kritische Masse erreichen
Bis zur Sitzung des Zentralkomitees (ZK) der PdAS im Juni standen zwei alternative Vorschläge zur revolutionären Strategie nebeneinander in der Programm-Resolution: die ursprüngliche Version der Parteileitung sowie ein Vorschlag der Sektion Zürich. Das ZK entschied mit knapper Mehrheit, dem PdAS-Parteitag im November nur die Originalversion vorzulegen. Ich möchte hier die Schwächen der Originalversion aufzeigen sowie die Gründe diskutieren, welche für die Zürcher Version sprechen.
Die Originalversion beschreibt die revolutionäre Strategie für unsere Partei folgendermassen: «Der Weg zum Sozialismus erfordert notwendigerweise die Vereinigung und die Sammlung aller Volkskräfte (Arbeiter:innen, Angestellte, Bauernschaft, Intellektuelle, Mittelklasse) (…).» Dabei soll die Grossbourgeoisie «politisch isoliert» werden, «denn alle Klassen und Schichten der Bevölkerung mit Ausnahme der Grossbourgeoisie sind heute ihrer Herrschaft unterworfen und haben objektiv ein Interesse daran, sie zu stürzen». Die PdAS soll zu diesem Zweck «Bündnisse mit Organisationen» aufbauen, «eine Volksbewegung und einen Zusammenschluss von repräsentativen Organisationen aller Bevölkerungsschichten, die an diesem Wandel interessiert sind», erschaffen und dadurch eine «kritische Masse» erreichen.
Hauptaufgabe: Bündnispolitik?
Dieser Vorschlag für die Strategie der PdAS wirft verschiedene Probleme und Fragen auf. Erstens: Geht es bei der Sammlung «aller Volkskräfte» zum Sturz der Bourgeoisie bereits um die sozialistische Revolution oder um eine Vorstufe? Da an keiner anderen Stelle von einer Vorstufe die Rede ist, schliesse ich daraus, dass tatsächlich «alle Klassen und Schichten» der Gesellschaft ausser der Grossbourgeoisie für die sozialistische Revolution gewonnen werden müssen – gemäss dieser Strategie-Version. Das ist in Wirklichkeit jedoch nicht möglich, einerseits wegen der Tatsache, dass man nicht einmal die gesamte Arbeiter:innenklasse vom Sozialismus überzeugen kann: Gemäss Lenin ist es falsch, «wollte man glauben, dass irgendwann unter der Herrschaft des Kapitalismus fast die gesamte Klasse oder die gesamte Klasse imstande wäre, sich bis zu der Bewusstheit und der Aktivität zu erheben, auf der ihr Vortrupp, ihre sozialdemokratische Partei, steht». Vor allem aber ist es «objektiv» nicht möglich, alle Klassen und Schichten zu gewinnen. Der Sozialismus bedeutet unter anderem die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Weite Teile der Kleinbourgeoisie verfügen über eigene Produktionsmittel und haben deshalb genau kein «objektives» Interesse am Sozialismus. Die Originalversion behauptet aber genau das Gegenteil. Es heisst dort: «alle Klassen und Schichten der Bevölkerung (…) haben objektiv ein Interesse daran», die Herrschaft der Grossbourgeoisie zu stürzen.
Das Hauptproblem der Originalversion besteht darin, dass die Strategie der PdAS im Kern Bündnispolitik sein soll: die «kritische Masse» wird durch «Bündnisse mit Organisationen» und den Zusammenschluss von «repräsentativen Organisationen» erreicht. Die Aufmerksamkeit wird auf andere Organisationen, die potenziellen Bündnispartner, gelenkt, statt auf die stärkere Verbindung mit der Bevölkerung und auf den Parteiaufbau. Die zentrale Bedeutung der revolutionären Partei für den Weg zum Sozialismus wird dadurch weniger klar.
Der Zürcher Vorschlag
Sehen wir uns den Vorschlag der Sektion Zürich an. Der erste Teil bleibt gleich wie in der Originalversion: eine Mehrheit der Bevölkerung muss die revolutionäre Umwälzung unterstützen, damit sie erfolgreich sein kann. Die darauffolgende Stelle über die Sammlung «aller Volkskräfte»wird jedoch korrigiert. Statt «alle» ist es «die Mehrheit», statt der gesamten Kleinbourgeoisie sind es realistischerweise nur Teile davon: «Der Weg zum Sozialismus erfordert notwendigerweise die Vereinigung und die Sammlung der Mehrheit der Bevölkerung (Arbeiter:innen, Angestellte, Intellektuelle, Teile der Bauernschaft und Mittelklasse).» Was danach kommt, unterscheidet sich deutlich vom Original. Statt auf die Bündnispolitik mit anderen Organisationen wird der
Fokus darauf gelenkt, den Einfluss der PdAS auf die breite Bevölkerung zu verstärken. Auch wird die wichtige Frage, wie man die Mehrheit für den Sozialismus
gewinnt, deutlicher: «Um die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen und den Weg zum Sozialismus zu ebnen, ist es notwendig, dass die PdAS einen breiten Einfluss auf die Massen aufbaut. Durch den Kampf auf politischer, ökonomischer und ideologischer Ebene, durch breite Agitation und Propaganda, durch disziplinierte Organisation und systematischen Kampf werden die Arbeiter:innen und weitere unterdrückte Schichten auf die Seite der Kommunist:innen gezogen und für die Revolution gewonnen werden.» Es wird eine Verbindung hergestellt zwischen den wichtigsten Aufgaben der Partei (Agitation, Propaganda, Organisation auf allen Ebenen der Gesellschaft) mit der revolutionären Gesamtstrategie.
Die strategische Rolle der Kader
Der Vorschlag der Zürcher Sektion geht danach weiter mit der Klärung der Frage, welche Rolle die Kader in dieser Strategie spielen und wie das Verhältnis zwischen der Partei und den Massenorganisationen aussieht: «Insbesondere durch die Arbeit der Kader in Massenorganisationen und Massenbewegungen, welche Bevölkerungsschichten weit über die Partei hinaus erreichen, kann die Mehrheit der Bevölkerung organisiert und für den Kampf vereint werden. Die Kader sind dabei das verbindende Glied zwischen der Partei und den Massenorganisationen. Die Kader bauen nach und nach ein Netz zwischen der Partei und den Massenorganisationen auf, zentralisieren die Kämpfe der verschiedenen Massenorganisationen und geben ihnen so eine einheitliche Schlagrichtung hin zur Revolution. So kann eine wirkliche Volksbewegung für die Revolution entstehen und der Kampf für den Sozialismus gewonnen werden.» Man darf sich keine Illusionen machen: Die Partei kann innerhalb der eigenen Organisation nur einen Teil, den klassenbewussten und sozialistischen Teil der Bevölkerung organisieren. Sie ist jedoch einerseits bestrebt, den klassenbewussten Teil der Bevölkerung ständig zu vergrössern durch Propaganda und Agitation. Andererseits wirkt die Partei auch aktiv dabei, dass möglichst die gesamte Bevölkerung in irgendeiner Weise organisiert wird: vor allem in den Gewerkschaften und Berufsverbänden, den wichtigsten Massenorganisationen der Arbeiterschaft, sowie in Organisationen,
welche die Bevölkerung zu anderen wichtigen Fragen zusammenschliessen (Frauen, Migration, Mieter:innen, LGBT+, Frieden etc.). Unsere Kader können genauso, wie sie der Partei Festigkeit geben, die Massenorganisationen stärken und vorwärtsbringen, einerseits weil Kader gute Aktivist:innen sind, andererseits weil sie die vielen Einzelkämpfe zu einem einheitlichen Kampf gegen das Grundübel unserer Gesellschaft, den Kapitalismus, vereinen können. Mit dem Zürcher Vorschlag wird erklärt, wie man tatsächlich eine Mehrheit für die Revolution schafft: mit harter, kommunistischer Arbeit unter der Bevölkerung.
Die nächsten Aufgaben der Partei
Was bedeuten die verschiedenen Strategie-Vorschläge für unsere konkrete Arbeit? Die Originalversion läuft im Grunde genommen darauf hinaus, die gegenwärtige Praxis der Partei fortzusetzen. Die Partei versucht, Bündnisse zu bestimmten Themen zu schaffen, oder was häufiger der Fall ist, sie schliesst sich diesem oder jenem Bündnis an und versucht, auf gut Glück die anderen Organisationen von ihren Positionen zu überzeugen.
Die Zürcher Strategie kann nicht einfach eins zu eins umgesetzt werden, weil wichtige Voraussetzungen noch nicht herangereift sind: Erstens, dass die Partei alle grundlegenden Aufgaben (Agitation, Propaganda, Organisation) beherrscht. Und zweitens, dass sie genügend Kader und Kapazitäten hat, um systematisch auf die Massenorganisationen einzuwirken. Aber die Strategie muss ja eben nicht bloss den nächsten Schritt, sondern den ganzen Weg zur sozialistischen Revolution in seinen Grundzügen aufzeigen. Im Gegenzug ergibt sich aus dieser Strategie gleich auch der nächste Schritt: Entwicklung von Kadern und die bewusste, systematische Durchführung der grundlegenden Aufgaben der Partei.
Grosses Aber: Der Strategie-Vorschlag der Zürcher Sektion wurde abgelehnt vom ZK. Wie gehen wir damit um? Die Sektion Zürich wird den Vorschlag vermutlich in abgeänderter Form als Ergänzung zur Originalversion einbringen (wobei man die theoretischen Fehler der Originalversion korrigieren sollte). Ich denke, es schadet der Strategie-Resolution nicht, wenn sie einen Paragrafen über die Bündnispolitik beinhaltet und einen, der die Rolle der Kader innerhalb der Gesamtstrategie klärt. Es wird zwar den Fokus der Strategie etwas weniger scharf machen, kann aber gleichzeitig die Grundlage für die zukünftige Klärung der Bündnisfrage sowie der Kaderfrage bilden.
Tarek Idri ist Mitglied des Vorstands
der PdA-Sektion Zürich.