«Wir haben den Hafen von Ancona blockiert!»

sit. Die Basisgewerkschaft USB rief für den 22.September zum Generalstreik auf – im Zeichen der Solidarität mit Palästina und der Global Sumud Flotilla, die auf dem Seeweg Richtung Gaza unterwegs ist. In Ancona legten Aktivist:innen den Hafen lahm. Der vorwärts war dabei.

Ancona, 22.September 2025, kurz vor 16 Uhr: Nach einem kleinen Umweg erreiche ich den Treffpunkt der angekündigten Demonstration. Entlang der hauptsächlich von LKWs mit Nummernschildern aus ganz Europa stark befahrenen Strasse stehen etwa 100 Aktivist:innen, Palästina-Fahnen sind zu sehen, auf der mir gegenüberliegenden Strassenseite der Demowagen. Ist das alles? Wie wollen wir so den Hafen von Ancona lahmlegen, frage ich mich. Denn das ist das angestrebte Ziel unter dem Kampfruf «Blockieren wir alles». Die Aktion in Ancona steht im Kontext des landesweiten Generalstreiks, zu dem die Basisgewerkschaft USB aufgerufen hat. Ich hatte mehr erwartet, viel mehr. Eine gewisse Enttäuschung kommt in mir hoch.

Die Aktion beginnt
Wenig später kündigt ein Aktivist per Megafon an, dass «noch sehr viele Menschen erwartet werden», und daher die Demo so gegen 16.30 Uhr losgehen wird – also etwa eine halbe Stunde später als geplant. Immerhin begreife ich, wo wir stehen: Es ist die Hauptzufahrtstrasse zum Logistikteil des Hafens, internationale Transportunternehmen haben hier ihre Lager. Klar wird mir auch Folgendes: Zu dieser Demo hat das regionale «Solidaritätskomitee mit Palästina» aufgerufen, in Absprache mit der USB. Die Genoss:innen der USB hingegen werden versuchen, den Eingang zum Frachthafen zu blockieren. Der Plan ist also, von zwei verschiedenen Seiten her, den Zugang zu verhindern; der Frachthafen von Ancona soll so in die Zange genommen werden. Wird es gelingen? «Es hängt davon ab, wie viele wir sein werden», erklärt mir ein Aktivist der Demoleitung. Und er fügt mit einem Lächeln hinzu: «Wir sind ganz schön viele».
Und tatsächlich: Als sich die ersten Aktivist:innen mit den Transparenten auf die Strasse stellen, die LKWs anhalten müssen, zeigt sich, dass es in der Zwischenzeit mehrere Tausend Personen sein müssen, die sich entlang der Strasse aufgestellt haben – was ich so nicht bemerkt hatte. Klar wird es mir, als ich merke, dass ich im hinteren Teil der Demo stehe – und ich doch einige Minuten brauche, bis ich den Anfang erreiche. Die Demonstration bewegt sich langsam vorwärts. Das hat seinen Grund: Die Genoss:innen der USB haben mit der Blockade des Eingangs des Frachthafens begonnen – bis sie ihr Ziel erreichen, muss die Zufahrtsstrasse zum Logistikteil des Hafens für die LKWs unpassierbar bleiben.

Die Liveschaltung mit der Flotilla
«Wir sind über 5000 Personen an dieser Demonstration», wird vom Demowagen aus informiert. Die Menge jubelt, skandiert «Palästina libera». Und der Aktivist gibt weiter bekannt: «Seit Jahren hat Ancona nicht mehr eine so grosse und breite Mobilisierung erlebt». Vom Baby, das seinen Hunger an der Brust seiner Mutter stillt, bis zum Rentner, der mit der Fahne des ehemaligen Partito Comunista Italiano (PCI) an der Demo teilnimmt, Oberstufen- und Gymi-Klassen angeführt von der Lehrerschaft, Arbeiter:innen aus den verschiedensten Branchen, das «Colletivo difabbriche» (Fabrikkollektiv), das Komitee der «Präkären- und Arbeitslosen», Familien mit ihren Kindern im Buggy, Uni-Student:innen mit ihren Professor:innen, Aktivist:innen der autonomen Zentren (centri sociali), sie alle sind auf der Strasse. Kurz: Die Zivilgesellschaft von Ancona hat sich mobilisiert, für Palästina und für die Schiffe der Global Sumud Flotilla, die Richtung Gaza unterwegs sind.
Einen ersten Höhepunkt bildet die Liveschaltung mit einer Teilnehmerin der Flotilla. «Wir sind entschlossen, Gaza zu erreichen – und wir werden es schaffen, auch dank eurer grossartigen Unterstützung und Solidarität», ist ihre kämpferische Botschaft von
ihrem Schiff aus. Sie fügt hinzu: «In vier oder fünf Tagen werden wir dort sein!» Und die rund 5000 Menschen an der Demo antworten ihr: «Ihr seid nicht allein – wir stehen geschlossen hinter euch!» Es ist ein bewegenderGänsehaut-Moment. Und eines ist allen klar, die heute hier stehen: Sollte die israelische Armee die Flotilla aufhalten, werden wir wiederkommen. «Dann werden wir die ganze Stadt blockieren, das ganze Land», so die
Ansage der Aktivistin am Mikrofon des Demowagens, gefolgt von einem frenetischen Jubel der Menge. Es ist eine unmissverständliche Kampfansage.

«Und das war nur der Anfang»
Es geht weiter. «Bella ciao» und weitere Kampflieder der italienischen Arbeiter:innenbewegung werden gesungen. Gegen 18.15 Uhr kommt Hektik auf rund um die Demoführung. «Wir haben eine wichtige Nachricht», wird angekündigt, «Wir müssen aber sicher sein, dass es alle mitbekommen». Gut ein Dutzend Aktivist:innen mit Megafon verteilen sich mit raschem Schritt entlang des ganzen Demozugs. Es wird still, die Anspannung ist bei allen spürbar. Dann ergreift die Genossin das Mikrofon: «Freundinnen und Freunde», beginnt sie, ihre Stimme stockt, sie muss eine kurze Pause einlegen. Die Anspannung ist an der Grenze des Ertragbaren. Dann: «Freundinnen und Freunde, wir haben es geschafft. Soeben sah sich die Hafenleitung gezwungen, den Hafen für alle Schiffe zu schliessen, weil wir so viele sind. Wir haben den Hafen von Ancona blockiert!» Ein unbeschreiblicher Jubel bricht aus. Menschen umarmen sich, und viele wischen sich die Freudentränen von den Augen. Es ist der zweite Gänsehaut-Moment des Abends, einer, den man im Leben nicht so schnell wieder vergessen wird. Ein Dritter folgt wenige Minuten später, als die Spitze der Demo das Eingangsportal zum Frachthafen erreicht – dort wo die Genoss:innen der USB mit weit über 1000 Personen die Blockadeerfolgreich durchführen.
Das letzte Stück des Wegs der Demonstration führt symbolisch auf den Platz vor dem Zoll. Dort, wo sonst die LKWs ein- und ausfahren, ist es leer. Nur zwei Autos der Polizei stehen hinter der Zollbarriere. «Wir haben es geschafft», verkündet die Aktivistin mit dem Megafon vom Demowagen. Sie fügt hinzu: «Und das war nur der Anfang!»

Der Beginn einer neuen Geschichte
Ancona in der Region Marche war eine der 72 kleineren und grösseren Ortschaften, in denen es am 22.September beim Generalstreik zu Aktionen für Palästina und die Flotilla kam: In Rom und Mailand legten Zehntausende den Verkehr lahm, in Turin wurde die Autobahneinfahrt blockiert, in Neapel der Hauptbahnhof, in Genua und Livorno die Häfen. «Alles blockieren», hatten die Hafenarbeiter:innen der Basisgewerkschaft CALP von Genua gefordert – und alles wurde blockiert. Und dies «nicht, um eine Vertragsverlängerung oder eine Lohnerhöhung durchzusetzen, sondern umGerechtigkeit für ein fernes und geplagtes Volk zufordern», schreibt die Basisgewerkschaft USB, die zum Streik aufgerufen hatte, in ihrer Stellungnahme am Tag danach. All dies geschah, «als der Mut einer Gruppe von Freiwilligen – der Global Sumud Flotilla – auf den unbeugsamen Kampfgeist der Hafenarbeiter:innen von Genua traf und so der Motor des Widerstands ansprang», hält die Basisgewerkschaft fest. Ihre Mitteilung endet mit den Worten: «Am 22.September 2025 begann eine neue Geschichte. Eine Geschichte, die noch geschrieben werden muss.»

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2 Kommentare

  • Vielen Dank für diesen sehr guten und inspirienden Bericht! Sie blockieren Gaza, sie blockieren das Westjordanland, sie blockieren die Sumud Flotilla, sie blockieren auch Cuba!! BLOCKIEREN WIR EUROPA!!! FREE PALESTIE!

  • Peter Schöchlin

    Wie wäre es, wenn eine schweizerische Gewerkschaft zum Beispiel Flüge nach Israel und die USA in Zürich, Basel und Genf aus Solidarität mit den PalästinenserInnen in Gaza und Westjordanland blockieren würde? Wie wäre es, wenn viele Menschen tagtäglich in Bern vor der Israelischen Botschaft mit Palästinenserflaggen auftauchen würden? Wie wäre es, wenn es zu einer Grossdemo in Bern zugunsten der Anerkennung des Staates Palästina käme?

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