«Ohne private Unternehmen würde die Besatzung enden»

Redaktion. Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den besetzten palästinensischen Gebieten, veröffentlichte im Frühling ihren Bericht «Von der Besatzungswirtschaft zur Völkermordwirtschaft» und zeigte dabei die enge Verstrickung der Wirtschaft mit dem Krieg auf. Ein Gespräch mit ihr.

 

Wie ist der Bericht entstanden?
Wenn Palästina ein Tatort wäre, würden wir alle unsere Fingerabdrücke dort finden – in den Waren, die wir kaufen, den Banken, denen wir unsere Ersparnisse anvertrauen, und den Universitäten, an die wir unsere Studiengebühren zahlen. Unternehmen sind nicht mehr nur in die Besatzung verwickelt – sie sind möglicherweise Teil einer Wirtschaft des Völkermords. Ich begann 2023 darüber nachzudenken, nachdem ich gelesen hatte, wie viele Unternehmen an der Besatzung, der widerrechtlichen Aneignung natürlicher Ressourcen und am Bankensystem beteiligt sind, das die Siedlungen unterstützt. Doch das ist nicht alles: Es existiert ein Netzwerk wirtschaftlicher Aktivitäten, das nicht nur die Siedlungen, sondern auch das israelische Militär- und Technologiesystem trägt. Die Recherchen haben gezeigt, dass der Privatsektor – zahlreiche Unternehmen – weiterhin Profit daraus zieht. Während die israelische Gesamtwirtschaft in eine Krise zu geraten scheint, verzeichnet die Börse in Tel Aviv ein Wachstum in zweistelliger Milliardenhöhe. Als ich die einzelnen Elemente zusammenfügte, wurde mir klar: Es gibt eine Besatzungswirtschaft, die sich in eine Völkermordwirtschaft verwandelt hat.

Würde die Kriegsmaschine ohne den Beitrag von Konzernen zum Stillstand kommen?
Ohne die Unternehmen, die Waffen liefern, könnte Israel die Palästinenser:innen weder in Schach halten noch weiterhin von der Entwicklung und dem Verkauf dieser Waffen profitieren. Auch die Produktion neuer Waffentechnologien wäre ohne die Zusammenarbeit und die Legitimation durch Universitäten und Forschungszentren – etwa durch Institutionen wie unseren CNR, der beispielsweise mehrere Partnerschaften mit der Agrarindustrie unterhält – längst ins Stocken geraten. Ebenso wäre das System ohne die europäischen Gelder, die an israelische Unternehmen fliessen, nicht funktionsfähig. «Koloniale Bestrebungen und die damit verbundenen Völkermorde wurden in der Geschichte vom Unternehmenssektor vorangetrieben und ermöglicht. Kommerzielle Interessen haben zur Enteignung indigener Völker von ihrem Land beigetragen – eine Form der Herrschaft, die als kolonialer Rassenkapitalismus bekannt ist. Dasselbe gilt für die israelische Kolonisierung palästinensischer Gebiete, deren Ausdehnung auf die besetzten Territorien und die Institutionalisierung eines Regimes der Siedlerkolonial-Apartheid. Nachdem Israel den Palästinenser:innen jahrzehntelang das Recht auf Selbstbestimmung verweigert hat, bedroht es heute die Existenz des palästinensischen Volkes in Palästina.

Laut Bericht können diese Unternehmen für Kriegsverbrechen und Völkermord verantwortlich gemacht werden.
Historisch gesehen haben private Unternehmen stets versucht, sich ihren gesetzlichen Verpflichtungen zu entziehen – oft, indem sie selbst Einfluss auf die Definition dieser Pflichten und Verantwortlichkeiten nahmen. Man denke nur an die Waffenlobby, die bei der Ausarbeitung von Gesetzen und Vorschriften enormen Druck ausübt. Gleichzeitig existieren jedoch Grundsätze, die eine klare Sorgfaltspflicht festschreiben. Gegen Israel laufen derzeit Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof und dem Internationalen Strafgerichtshof. Auch wenn noch kein Urteil gefällt wurde, haben beide Institutionen auf die Gefahr hingewiesen, die eine fortgesetzte Unterstützung Israels darstellen würde – und damit auf die Pflicht, einen unter Untersuchung stehenden Staat nicht
weiter zu unterstützen. Diese Verpflichtung muss auch für Unternehmen gelten, deren Handlungen direkt zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Bestimmte Firmen sind nachweislich an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt: etwa das Zementunternehmen, das in den Minen der besetzten Gebiete natürliche Ressourcen abbaut, oder jene, die tödliche Waffen liefern. Es handelt sich dabei nicht nur um Verbindungen, sondern um aktive Mittäterschaft – um die bewusste Beteiligung an Verbrechen, die darauf abzielen, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen zu untergraben, die Annexion zu festigen und die dauerhafte Besatzung aufrechtzuerhalten.

Was kann dagegen getan werden?
Der unmittelbare und gerechteste Weg besteht darin, die Ungerechtigkeit juristisch zu verfolgen. Unternehmen wie das israelische Elbit oder das italienische Leonardo müssen vor Gericht gestellt werden – auch, um den Opfern Wiedergutmachung zu ermöglichen. Ein zweiter Weg ist die Verantwortung, die durch die öffentliche Meinung entsteht: Firmen wie Airbnb oder Booking.com können durch Boykotte unter Druck gesetzt werden. Dasselbe gilt für Volvo – dessen Fahrzeuge offenbar zum Zerstören von Häusern, zum Bergen palästinensischer Leichen aus den Trümmern Gazas oder zum Transport palästinensischer politischer Gefangener verwendet werden. Wir müssen zu einem System der Legalität zurückkehren. Mein Appell richtet sich in erster Linie an die Legalität und beruht auf einem zentralen Punkt: Schluss mit der mentalen Trennung in ein «gutes» Israel innerhalb der Staatsgrenzen und ein «böses» Israel in den besetzten Gebieten. Die
Kolonisierung ist ein staatliches Unterfangen, die Apartheid ist ein Verbrechen des Staates, und auch der Völkermord ist ein Verbrechen des Staates. Es reicht nicht mehr, sich lediglich aus den Siedlungen zurückzuziehen.

Quelle: Il Manifesto, Übersetzung sit

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