Ein Schweizer Sommermärchen?

sit. Die Frauen-EM 2025 in der Schweiz wird überall abgefeiert, unter anderem als Meilenstein der Gleichstellung – als Abbild einer offenen und scheinbar perfekten Gesellschaft. Doch worum geht es, um echte Emanzipation? Oder um die Inszenierung eines angeblichen Fortschritts, der bestehende Machtverhältnisse im Glanz des Events zementiert?

«Das Turnier hat unsere kühnsten Erwartungen übertroffen», sagte die sichtlich zufriedene Turnierdirektorin Doris Keller an der Abschlussmedienkonferenz zur Fussball-Europameisterschaft (EM) der Frauen in der Schweiz. 97 Prozent der Tickets verkauft, das heisst rund 660’000 Fans in den Stadien (ein Rekord), davon 50 Prozent Frauen, über 500 Millionen Menschen vor dem TV, packende Spiele, friedliche und ausgelassene Stimmung unter den Fans ohne nennenswerte Zwischenfälle: ein Schweizer Sommermärchen. Eines, das mit Nachdruck vermitteln soll: Schaut her, liebe Leute, keine Gewalt, keine Diskriminierung, und die Frauen sind den Männern gleichgestellt – die perfekte Gesellschaft. Schauen wir also hin.

Alles gleich, ausser dem Lohn
Organisiert wurde das Turnier vom europäischen Fussballverband Uefa. Gastgeber und wichtiger Akteur bei der Umsetzung war der Schweizerische Fussballverband (SFV). Wie sieht es bei ihm mit Gleichstellung aus? Der Präsident ist ein Mann. Im Zentralvorstand sitzen sieben Männer und zwei Frauen. Der Generalsekretär ist ein Mann. Die Geschäftsleitung ist in sieben Abteilungen aufgeteilt – fünf werden von Männern geführt, zwei von Frauen: «Finanzen und Personal» sowie «Frauenfussball» (immerhin). Unter dem Strich: Von den 17 einflussreichsten Personen im SFV sind 13 Männer und vier Frauen.
Sie scheinen alle so sehr mit dem runden Leder beschäftigt zu sein, dass sie offenbar keine Zeit finden, sich mit dem Gleichstellungsgesetz zu befassen. Dieses ist seit dem 1.Juli 1996 in Kraft und konkretisiert den Verfassungsauftrag zur rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung im Erwerbsleben. Dazu gehört die Lohngleichheit nach dem Grundsatz: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Ein Grundsatz, der im Fussball leicht zu begreifen ist: Regeln, Grösse des Spielfelds sowie der Tore, Spielzeit, Ballgewicht – alles gleich.
Aber: Etwa 45’000 Franken erhalten die Spieler:in-nen, die das EM-Viertelfinale erreichten und hunderttausende Eidgenoss:innen in Begeisterung versetzten. Auch den Bundesrat, der im Herbst 2024 den Unterstützungsbeitrag für die Frauen-EM von ursprünglich 15 Millionen auf vier Millionen Franken kürzen wollte. 45’000 Franken Prämien, ein Betrag, für den sich die männlichen Kollegen der Nationalmannschaft nicht mal die Schnürsenkel binden würden.

Gleichstellung der Geschlechter? Eine Nebenrolle
Der SFV wird dagegenhalten und vorrechnen, dass die von der Uefa ausgeschütteten Prämienpools nicht vergleichbar seien: bei der Frauen-EM 38 Millionen Franken, 308 Millionen bei der Männer-EM in Deutschland vor einem Jahr. So flossen dank der Männer, die das Halbfinale erreichten, über zwölf Millionen Franken in die Kasse des SFV, bei den Frauen sind es «nur» etwa 2,3 Millionen. Wo aber steht im Gleichstellungsgesetz geschrieben, dass die Lohngleichheit von der Höhe der Uefa-Prämien abhängt? Für den SFV wäre die Umsetzung des Grundsatzes «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» simpel: Er müsste festlegen, dass unabhängig dem Geschlecht für das Erreichen eines bestimmten Ziels (Viertelfinal, Halbfinal) X Franken ausbezahlt werden. Warum tut er es nicht?
Sicher, der SFV verweist auf Fortschritte: «Der Prämienanteil aus Verbandsmitteln sowie partnerbezogene Prämien und materielle Leistungen einzelner Partner sind an das Niveau der Männer-Nati angepasst worden», heisst es im Blick. Mit Verlaub: Das muss eine Selbstverständlichkeit sein – und nicht ein Beispiel, das unterstrichen werden muss. Das Gleichstellungsgesetz und die Bundesverfassung lassen grüssen. Letztere hält
bereits seit 1981 fest: «Mann und Frau sind gleichgestellt.»
Diese Fakten dürfen im ganzen Jubel und Lobgesang um das Sommermärchen nicht vergessen gehen. Sie zeigen: Im Frauenfussball spielt Gleichstellung eine
Nebenrolle – wenn überhaupt. Worum geht es dann?

Eine Milliarde US-Dollar
Einer der Slogans der Frauen-EM lautete «Here to stay» (Hier, um zu bleiben). Der Frauenfussball erhebt damit seinen berechtigten Anspruch, in der Welt des Fussballs – ja, in der ganzen Gesellschaft – endlich so wahrgenommen zu werden, wie er es verdient. Der Slogan besagt aber auch, dass man «hier» in der kapitalistischen Gesellschaft bleiben will. Eine Frage drängt sich auf: Welche Rolle spielt der heutige Spitzenfussball rund um Grossereignisse wie die Frauen-EM in dieser Gesellschaft?
Eine mögliche Antwort liefert die Klub-Weltmeisterschaft der Männer, die vom 15.Juni bis 13.Juli in den USA stattfand. Der Weltfussballverband Fifa schüttete an die 32 teilnehmen-den Klubs eine Milliarde (!) US-Dollar aus. Das Turnier zeigte die vollständige Integration des Fussballs in die kapitalistische Profitlogik: Fussball wird vom Spiel zur Ware, Fans zu Kund:innen, Stadien zu Profitzonen, Teams zu globalen Marken. Es geht um Geld, um Profite – und vieles mehr.

Ein ideologischer Apparat
Das Bild des Turniers in den USA, das Bände spricht, ist jenes der Siegerehrung: Präsident Donald Trump überreicht dem Kapitän des Siegerteams Chelsea FC den Pokal. Fifa-Präsident Gianni Infantino applaudiert daneben – beide stehen im Mittelpunkt der gesamten Feierlichkeiten. Infantino, der seit langem mit Golfmonarchien, osteuropäischen Oligarchien und transnationalen Machtzentren kooperiert, hat mit Trump den idealen symbolischen Partner gefunden, um diesen Kreis zu schliessen. Trump, mit seiner offenen Unterstützung für den Genozid in Palästina, seiner transfeindlichen Politik und repressiven Agenda gegen Migrant:innen und Minderheiten, steht im Zentrum der globalen Sportszene – akzeptiert, anerkannt, legitimiert, gefeiert. Und während der US-Präsident über das ganze Turnier hinweg der freundliche Gastgeber spielte (und so ganz nebenbei den Irak bombardierte), liess die Fifa stillschweigend alle Spuren ihrer Kampagnen gegen Rassismus und Homophobie verschwinden. Slogans wie «No to Racism» oder «Football Unites the World» verschwanden von den Grossbildschirmen und aus den offiziellen Videos, um das Umfeld der Präsidenten nicht zu «verstimmen».
Der Fussball wird so zum ideologischen Apparat, mit der Fähigkeit, Formen der Zustimmung und Entpolitisierung zu erzeugen, die weit über die kapitalistische Ideologiepropaganda des 20.Jahrhunderts hinausgehen. Er erzeugt Zuneigung, Beteiligung, kollektive Identität – und kanalisiert all das in die kapitalistische Logik.
Zusammengefasst: Fussball wird zu einer der wirksamsten Formen der Legitimation politischer und ökonomischer Macht, Träger der herrschenden Ideologie. Und die Fifa ist dabei die globale Plattform zur Verwaltung finanzieller, politischer und medialer Interessen.

Die Realität vertuschen
Zurück in die Schweiz zum Sommermärchen, bei dem sich Parallelen zum Milliardenevent Klub-WM finden lassen. Vor allem dort, wo es um die Legitimation der herrschenden Verhältnisse geht. Drei Beispiele dazu: Für die Pokalübergabe nach dem Endspiel in Basel wären Dutzende von Frauen mit ausgewiesenen Verdiensten im Frauenfussball infrage gekommen. Aber nein, übergeben wurden die Medaillen sowie der Pokal vom UEFA-Präsidenten Aleksander Ceferin, der zuvor gerade mal bei einer der 30 Partien anwesend gewesen war. Bei der Übergabe auf dem Podest standen ein Mädchen, zwei Frauen und fünf Männer – einer von ihnen war Prinz William, der zukünftige König Englands. Ach ja: Die Trophäe wurde zuvor von Lara Dickenmann, ehemaliger Schweizer Nationalspielerin und Turnierbotschafterin der EM, auf das Feld gebracht. Eine Frau durfte gütigerweise die Nebenrolle übernehmen, genauso wie es das Patriarchat vorsieht. Zweitens: Die Tatsache, dass Frauen genauso gut Fussball spielen können wie Männer, soll als Beweis dafür stehen, dass es mit der Gleichstellung kräftig vorwärtsgeht, ja, dass schon fast alle gesellschaftlichen
Ungleichheiten sowie Ungerechtigkeiten beseitigt sind. Die Realität ist aber bekanntlich eine andere: Selbst nach bald 30 Jahren seit Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes ist die Lohngleichheit noch in weiter Ferne – nicht nur im Frauenfussball, in der ganzen Arbeitswelt. Und drittens: Das so gern und oft gezeigte Bild der friedlichen Fans steht für eine offene, tolerante Gesellschaft, in der schwule und lesbische Paare selbstverständlich herzlich willkommen sind – niemand wird ausgeschlossen. So, als gäbe es keinen strukturellen Rassismus hierzulande.
Vergessen soll auch gehen, dass kürzlich im Kanton Zürich einer Lehrkraft gekündigt wurde, weil homosexuell. Und eine andere Lehrkraft nicht eingestellt wurde, weil sie ein Kopftuch trägt. So, als ob das Kopftuch entscheidend über die Fähigkeit der Lehrkraft wäre, den Kindern das Einmaleins beizubringen.

Das Märchen der perfektenGesellschaft
So ist festzuhalten: Auch die EM der Frauen diente als perfekte ideologische Maschine, um die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu zementieren, zu legitimieren und die Massen zu entpolitisieren. Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun ziehen? Etwa die, dass es aus fortschrittlicher Sicht gar kontraproduktiv ist, den Frauenfussball weiterhin zu fördern? Nein, auf keinen Fall, denn der Fussball trägt zur Gleichstellung bei. So darf bei aller Kritik nicht vergessen werden, dass es in der Schweiz tausende von Frauen und Männern gibt, die sich in zahlreichen Fussballklubs ehrenamtlich für den Frauenfussball engagieren. Sie vermitteln durch den Sport gesunde Werte wie Respekt, Verantwortung,
Toleranz und Gleichheit. Sie leisten so einen unbezahlbaren Beitrag zur gesellschaftlichen Teilhabe von Mädchen und jungen Frauen.
Die Frauen-EM liefert uns vielmehr eine Bestätigung: Im kapitalistischen System, dessen Grundpfeiler die Ausbeutung (ganz speziell von Frauen) und das Patriarchat sind, kann es keine Gleichstellung und Gleichberechtigung geben. Die angeblich perfekte Gesellschaft ist ein Märchen, das uns vorgegaukelt wird, um jene wenigen in Ruhe zu lassen, die vom System auch wirklich profitieren. Aufgabe von fortschrittlichen Kräften ist es, die vielen Widersprüche aufzuzeigen und zu benennen, die bei so Fussballevents wie der Frauen-EM oder der Klub-WM ans Tageslicht kommen. Dies im Sinne des kritischen Denkens und Hinterfragens – beides Grundvoraussetzungen, um das Bestehende zu überwinden.

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