Der 80.Hiroshima-Gedenktag aus feministischer Perspektive

Redaktion. Frauenorganisationen wie die «Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit» haben zum Jahrestag eines der grausamsten Verbrechen der Geschichte der Menschheit ein Dokument veröffentlicht. Der vorwärts publiziert eine leicht gekürzte Fassung – um niemals zu vergessen!

Der 6.August markiert jedes Jahr den Hiroshima-Gedenktag – ein weltweites Symbol für die Schrecken des Krieges und die zerstörerische Kraft von Atomwaffen. Aus einer feministischen Perspektive bietet dieser Tag nicht nur Anlass, an das Leid der Opfer zu erinnern, sondern auch die Rolle von Frauen in Krieg, Frieden und Erinnerungskultur kritisch zu beleuchten. Es geht darum, patriarchale Strukturen zu hinterfragen und das Engagement von Frauen für Frieden und Gerechtigkeit hervorzuheben.

Frauen und Kinder überproportional betroffen
Die Explosion und die Feuerstürme töteten am Angriffstag 45’000 Menschen, von denen Überreste auffindbar waren; weitere 14’000 Menschen verschwanden spurlos – fast ausschliesslich Zivilist:innen und von der japanischen Armee verschleppte Zwangsarbeiter:innen. An Folgeschäden starben weitere 130’000 Menschen. Zu den Opfern von Hiroshima gehören auch jene, die danach an den Folgen von Strahlenkrankheiten (35’000), Verbrennungen (60’000) und mechanischen Verletzungen (78’000) litten oder starben. Tiefe Schuldgefühle erfasste die Überlebenden, die oft über Monate und Jahre in apathischer Resignation verharrten: Sie hatten in vielen Fällen schwer verletzte Menschen oder sogar Angehörige zurücklassen müssen, als sie in panischer Angst flohen, sie schüttelten Freund:innen ab und konnten Nachbarn im Feuersturm nicht helfen. Schwere Traumata waren die Folge.
Als am 6.August 1945 die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen wurde, waren Frauen und Kinder überproportional betroffen. Viele Männer waren als Soldaten im Krieg oder an anderen Orten, sodass zahlreiche Frauen die Hauptlast der Katastrophe trugen. Sie trugen die körperlichen und psychischen Narben nicht nur am eigenen Leib, sondern auch im gesellschaftlichen Gefüge. Die Auswirkungen der Strahlenkrankheit, der Verlust von Angehörigen und die traumatischen Erlebnisse prägten das Leben vieler Frauen auf eine Weise, die in offiziellen Narrativen oft wenig Beachtung fand.

Unsichtbare Held:innen
Die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki werden als Hibakusha bezeichnet. 1981 lebten in Japan nrund 400000 Hibakusha, von denen knapp 60 Prozent krank und körperbehindert waren. Jährlich werden den Totenlisten von Hiroshima und Nagasaki mehr als 2500 Opfer hinzugefügt, gestorben an den Folgen der Atombombenabwürfe. Besonders die Geschichten der Frauen unter ihnen wurden lange Zeit ausgeblendet. Viele Hibakusha-Frauen litten nicht nur unter den gesundheitlichen Folgen, sondern waren darüber hinaus Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Ihnen wurde zum Teil die Ehe verweigert, Kinder galten als gefährdet und gesellschaftliche Ausgrenzung war alltäglich.Doch es waren vor allem Hibakusha-Frauen, die sich zusammenschlossen, ihre Erfahrungen in Literatur, Kunst und Aktivismus verarbeiteten und sich für eine atomwaffenfreie Welt engagierten.
Trotz ihrer entscheidenden Rolle blieben Perspektiven und Erzählungen von Frauen im kollektiven Gedächtnis über Jahrzehnte im Schatten. Die gesellschaftliche Erinnerung an Hiroshima wurde lange Zeit von Männern dominiert, die sich auf militärische und politische Aspekte konzentrierten, während die alltagspraktischen Überlebensstrategien von Frauen und ihre Initiativen zur gegenseitigen Unterstützung oft wenig gewürdigt wurden. Aber nach 1945 bildeten Frauen Netzwerke, um sich gegenseitig Halt zu geben. Sie organisierten medizinische Hilfe, unterstützten Waisen und leisteten emotionale Fürsorge für ihre Gemeinschaften. Nicht selten entwickelten sich daraus erste Keimzellen für Friedensarbeit, Bildung und gesellschaftlichen Wandel.

Ein ganzheitliches Verständnis
Feministische Analysen zeigen, dass Kriege patriarchale Machtstrukturen festigen und Frauen systematisch zu Objekten von Gewalt – physisch, psychisch und strukturell – machen. Der Hiroshima-Gedenktag fordert uns heraus, diese Konstruktionen zu hinterfragen. Es geht darum zu erkennen, dass Frauen nicht nur passive Opfer sind, sondern aktiv an gesellschaftlichen Transformationsprozessen teilhaben. Sie sind Akteurinnen zur Bewältigung des Leids, zur Pflege von Erinnerungskultur und Friedensinitiativen – häufig in selbstorganisierten Netzwerken und gegen grosse Widerstände. Die internationale Anti-Atomwaffen-Bewegung verdankt ihren Impuls dem Engagement von Frauen.

Eine feministische Betrachtung des Hiroshima-Gedenktags schliesst intersektionale Analysen ein. Soziale Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, Alter und Behinderung bestimmen mit, wie Menschen Krieg und Nachkriegszeit erleben. Koreanische Zwangsarbeiterinnen, indigene Minderheiten und Menschen mit Behinderung litten auf spezifische Weise unter den Folgen der Atombombe und waren mehrfach diskriminiert. Deshalb ist es wichtig, am Gedenktag an die Vielfalt der Opfergruppen zu erinnern und der Versuchung zu widerstehen, Erfahrungen zu vereinheitlichen. Nur so entsteht ein ganzheitliches Verständnis von Geschichte und Verantwortung.

Erinnerungskultur und Zukunft
Gedenken bedeutet aus feministischer Sicht mehr als blosses Erinnern. Es heisst, Strukturen zu hinterfragen, Sichtweisen zu verbreitern und für Gerechtigkeit einzutreten. Die Erfahrungen von Hiroshima zeigen, dass Frauen eine zentrale Rolle bei der Bewältigung von Kriegstraumata und der Entwicklung friedlicher Gesellschaften spielen. Diese Erkenntnis ist auch für die Gegenwart und Zukunft bedeutsam – angesichts aktueller globaler Krisen und wachsender atomarer Bedrohung.
Feministische Erinnerungskultur betont die Notwendigkeit, marginalisierte Stimmen zu stärken, tradierte Geschlechterrollen aufzubrechen und an einer Welt zu arbeiten, in der Frieden, Gleichstellung und Fürsorge im Mittelpunkt stehen. Der Hiroshima-Gedenktag mahnt uns, nicht nur der Opfer zu gedenken, sondern auch Konsequenzen daraus zu ziehen, wie Gesellschaften mit Macht, Gewalt und Verantwortung umgehen.

Die Stimmen der Überlebenden
Der Hiroshima-Gedenktag aus feministischer Perspektive ist mehr als eine Mahnung gegen atomare Aufrüstung. Er ist ein Aufruf, den Blick für neue gesellschaftliche Narrative zu öffnen. Frauen, die Katastrophen bewältigen, Frieden stiften und Erinnerungskultur prägen, stehen exemplarisch für die Kraft widerständiger Menschlichkeit. Ihr Wirken bleibt unverzichtbar – gestern, heute und morgen. Die Opfer von Hiroshima stehen sinnbildlich für das unermessliche Leid, das durch den Abwurf der Atombombe ausgelöst wurde. Es umfasst nicht nur jene, die unmittelbar durch die Explosion und die Feuerstürme ums Leben kamen, sondern auch die zahllosen Menschen, die in den Jahren danach an den Folgen von Strahlenkrankheiten, Verletzungen, Traumata und sozialer Ausgrenzung litten.
Während die offiziellen Gedenkfeiern häufig auf die Zahl der Getöteten und Überlebenden (die Hibakusha) blicken, ist es ebenso wichtig, die individuellen
Geschichten und Erfahrungen zu würdigen. Die Stimmen der Überlebenden berichten von körperlichen und seelischen Narben, von Verlust und Schmerz, aber auch von Widerstandskraft und Hoffnung. In der Erinnerungskultur von Hiroshima nehmen deshalb gerade die Erfahrungen und Erzählungen der vermeintlich «stillen»
Opfer einen besonderen Platz ein. Sie mahnen, dass Kriege und atomare Gewalt immer vielfältige Gruppen treffen und die Verantwortung für eine friedliche Zukunft alle Menschen einschliesst.

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