Krieg gegen die, die Leben retten

Alice Froidevaux. Kriegsführende Staaten wie die USA, Türkei oder Israel töten, foltern und inhaftieren gezielt medizinisches Personal und bombardieren Krankenhäuser. UN-Expert:innen sprechen von einem «Medizid»: Die systematische Zerstörung des Gesundheitssystems.
«Menschen bleiben dort, wo sie Zugang zu medizinischer Versorgung haben», sagt Dr. Bassam Zaqout von der wichtigsten nichtstaatlichen palästinensischen Gesundheitsorganisation Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Im Zuge der israelischen Grossoffensive im September 2025 sahen er und seine Teams sich gezwungen, Gaza-Stadt zu verlassen. «Viele sagten uns: Wenn die PMRS ihre Zentren schliesst, gehen auch wir.»
UN-Expert:innen sprechen von «Medizid»
Krankenhäuser und medizinisches Personal stehen unter besonderem Schutz des Völkerrechts – dennoch werden sie weltweit zunehmend gezielt angegriffen. Laut der Safeguarding Health in Conflict Coalition (SHCC) wurden 2024 weltweit 3623 Angriffe auf das Gesundheitswesen dokumentiert – seit 2022 ein Anstieg von 62 Prozent. Besonders betroffen waren Einrichtungen im Libanon, in Myanmar, im Sudan, in der Ukraine und in den besetzten palästinensischen Gebieten.
In Gaza haben Angriffe auf das Gesundheitssystem ein neues Ausmass erreicht. Zwischen Oktober 2023 und Oktober 2025 verzeichnete die WHO 825 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen; 985 Tote, 1640 Verletzte, 169 beschädigte oder zerstörte Einrichtungen, darunter 36 Krankenhäuser.
Bereits 2016 prägte The Lancet den Begriff «weaponisation of health care», die Instrumentalisierung von medizinischer Versorgung als Waffe. Die Zerstörung von Gesundheitsstrukturen ist längst kein Kollateralschaden mehr, sondern gezielte Strategie. Wo Krankenhäuser bombardiert werden, verlieren Menschen nicht nur
lebenswichtige Behandlung, sondern ihren letzten Zufluchtsort. Zahlreiche Expert:innen und Organisationen – darunter Amnesty International und die Internationale Vereinigung der Genozidforscher:innen (IAGS) – kommen zum Schluss, dass das Vorgehen israelischer Staatsorgane gegen die Zivilbevölkerung in Gaza der völkerrechtlichen Definition von Genozid entsprechen. In einem Statement vom August 2025 bezeichneten UN-Expert:innen die gezielte Zerstörung des Gesundheitssystems in Gaza als zentralen Bestandteil des laufenden Genozids: «Wir werden Zeug:innen eines Medizids – Gesundheits- und Pflegekräfte werden systematisch angegriffen, inhaftiert, gefoltert und wie die übrige Bevölkerung gezielt ausgehungert.»
In einem Bericht dokumentiert die israelische Menschenrechtsorganisation Physicians for Human Rights Israel (PHRI) den Medizid in Gaza seit Oktober 2023 und stellt ihn in den Kontext einer seit Jahren bestehenden «medizinischen Apartheid», in der Israel das Gesundheitswesen – Patient:innentransporte, Medikamentenzufuhr, Fachkräfteausbildung – in den palästinensischen Gebieten umfassend kontrolliert.
Vom Einzelfall zur Routine
Beim ersten Luftangriff auf ein Spital am 17.Oktober 2023, bei dem Hunderte Menschen auf dem Parkplatz des al-Ahli-Krankenhauses getötet wurden, galt als umstritten, ob Israel wirklich zu einem solchen Angriff fähig sei. Israel führte die Explosion auf eine fehlgeleitete Rakete der Palästinensischen Islamischen Dschihad
zurück, was die Gruppe bestritt.
In den folgenden zwei Jahren mehrten sich die Horrorgeschichten über bombardierte Krankenhäuser, in denen Menschen eigentlich Schutz suchten, und über gezielte Tötungen von medizinischem Personal. Im April 2024 gingen Bilder des Al-Shifa-Krankenhauses um die Welt, einst das grösste medizinische Zentrum Gazas. Zwei Wochen lang war es durchgehend von der israelischen Armee belagert und angegriffen worden; heute liegt es in Trümmern, zerfurcht von Kratern.
Ende März 2025 wurde bekannt, dass in Rafah 15 palästinensische Sanitäter getötet wurden, darunter acht Mitarbeitende des Palästinensischen Roten Halbmonds, der dem Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) angehört. Ihre Leichen wurden erst eine Woche später in einem Massengrab gefunden. Im August 2025 traf ein sogenannter Double-Tap-Angriff der Israelischen Streitkräfte das Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis und tötete 22 Menschen, darunter fünf Journalist:innen.
Bei dieser perfiden zweistufigen Taktik wird ein Ziel zunächst bombardiert und kurz darauf erneut angegriffen – oft genau dann, wenn Rettungskräfte oder Medienschaffende vor Ort sind. Zuletzt zerstörte die israelische Armee im Rahmen ihrer Offensive in Gaza-Stadt im September 2025 Einrichtungen der Palestinian Medical Relief Society und des Gaza Community Mental Health Programme. «Ärzte ohne Grenzen» sah sich gezwungen, ihre Klinik zu schliessen und Personal zu evakuieren, da Panzer bis unmittelbar an die Gebäude heranrückten.
Was einst als umstrittener Einzelfall galt, ist mittlerweile zur Routine geworden. Die israelische Regierung macht schon lange kein Hehl mehr aus diesen Angriffen. Begründet werden sie stets mit der angeblichen Präsenz von Hamas-Kommandostellen oder Kämpfern in den Einrichtungen – und die internationale Staatengemeinschaft lässt sie gewähren.
Terror-Rhetorik als Waffe
Die Rechtfertigung für Angriffe auf Krankenhäuser und medizinisches Personal folgt einem global etablierten Muster: dem seit 2001 von den USA ausgerufenen «Krieg gegen den Terror». Dieses Narrativ hebt die Grenze zwischen Kombattant:innen und Zivilist:innen auf und erklärt das Gegenüber nicht mehr zur Kriegspartei mit Rechten, sondern zum «auszulöschenden Feind». Unter diesem Vorwand bombardierte die Regierung im Sri-Lankischen Bürgerkrieg 2009 Krankenhäuser, die USA zerstörten 2015 das Krankenhaus von «Ärzte ohne Grenzen» in Afghanistan – und seit Jahren rechtfertigt die Türkei Angriffe auf das Gesundheitswesen in Nordostsyrien mit dem Kampf gegen «kurdischen Terror».
Trotz der UN-Resolution 2286 von 2016, die Angriffe auf medizinische Einrichtungen als mutmassliche Kriegsverbrechen einstuft und ein Ende der Straflosigkeit fordert, setzt sich diese Entwicklung fort – etwa durch Russland in der Ukraine und nun Israel in Gaza. Die Aggressoren berufen sich auf Artikel 19 der Genfer Konvention, wonach der Schutz von Gesundheitseinrichtungen entfällt, wenn sie zu militärischen Zwecken missbraucht werden. Doch Beweise fehlen meist und das Kleingedruckte wird ignoriert. Damit ein Angriff rechtmässig wäre, müsste nachgewiesen werden, dass alles dafür getan wurde, Schäden für Patient:innen und medizinisches Personal zu minimieren.
Die israelische Armee folgt stets einem Muster: erst eine unrealistisch kurze Evakuierungsaufforderung, gefolgt von unverhältnismässig massiven Bombardierungen. Beweise für die angeblichen Hamas-Kommandoposten in Kliniken? Bis heute Fehlanzeige. Eine SRF-Recherche legt nun sogar offen: Um Angriffe zu rechtfertigen, liess die israelische Armee 3D-Animationen produzieren, die den Eindruck von Faktentreue und Authentizität vermittelten.
Ausschaltung von Zeug:innenschaft
Westliche Regierungen und viele Medien – auch das SRF selbst – haben das Narrativ der israelischen Armee in den letzten zwei Jahren weitgehend unkritisch übernommen und trugen so dazu bei, das humanitäre Völkerrecht systematisch auszuhöhlen. Es ist bekannt, dass Israel keine internationalen Journalist:innen nach Gaza lässt und gezielt palästinensische Medienschaffende tötet, die es als «Terrorist:innen» diffamiert. Auch medizinisches Personal wird nicht nur gezielt verfolgt, weil es Leben rettet, sondern auch, weil es Zeugnis ablegt. Ärzt:innen dokumentieren Verletzungen, berichten über Kriegsverbrechen und widersprechen so Propaganda und Entmenschlichung. Ihre Zeugenschaft wird damit zu einer Bedrohung für die Angreifenden.
Im laufenden Genozid hat Israel über 1800 Gesundheitsarbeiter:innen getötet oder willkürlich inhaftiert; Berichte über Folter in Gefängnissen zeigen das Ausmass der Repression. Am 17.Oktober 2025 ordnete ein israelisches Gericht – trotz des verkündeten Waffenstillstands – an, Dr. Hossam Abu Safiya, Direktor des Kamal-Adwan-Krankenhauses, weiterhin inhaftiert zu lassen. Seit Dezember 2024 wird er ohne Anklage festgehalten – gemeinsam mit mindestens 17 weiteren Ärzt:innen und Dutzenden Pflegekräften. Menschenrechtsorganisationen wie die PHRI oder Amnesty International fordern die sofortige Freilassung.
Keinen Frieden ohne Gerechtigkeitund Befreiung
Die verkündete Waffenruhe in Gaza ist brüchig und bringt kaum Ruhe. Auf erste Erleichterung folgte Ernüchterung: Gaza liegt in Trümmern, Hilfslieferungen bleiben begrenzt, Lebensgrundlagen sind zerstört. Die Zerstörung des Gesundheitswesens und die gezielte Tötung medizinischen Personals haben langfristig katastrophale Folgen. Selbst bei einem Wiederaufbau sind die verlorenen Fachkräfte kaum zu ersetzen. Abhängigkeiten von Geberländern und Hilfsorganisationen werden verstärkt und die Gesundheitsversorgung bleibt ein Kontrollinstrument für die Besatzungsmacht Israel.
Auch die aktuellen Debatten über «Frieden» werden von westlichen Regierungen aus ihrer gewohnten Position der Macht geführt – von oben herab und auf Grundlage globaler Ungerechtigkeit. Doch echter Frieden kann nur auf Gerechtigkeit beruhen: auf der Befreiung und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, dem Ende der illegalen Besatzung und der Aufarbeitung der Verbrechen aller Seiten. All das fehlt – wenig überraschend – im sogenannten Trump-Friedensplan.Trotzdem erklärte der Schweizer Bundesrat am 5.November 2025 seine «sofortige Unterstützung» für diesen Plan – und reiht sich damit ein in das Komplizen- und Kontrollspiel westlicher Politik. Um echten Frieden, der Freiheit und Gerechtigkeit voraussetzt, geht es offenkundig nicht.
Der Genozid in Gaza ist mehr als eine geopolitische Krise: Er ist eine ethische Bewährungsprobe, die unsere kolonialen und rassistischen Strukturen offenlegt und uns zwingt, zu fragen: Wohin steuert die Weltgemeinschaft – und was ist unsere Rolle als Zivilgesellschaft?
Erstveröffentlichung: daslamm.ch
