Widersprüche klaffen weiter

dab. Die 68er-Bewegung war Protest, politische Radikalisierung und Aktion, Aufbruch, sie suchte Emanzipation und alternative, selbstbestimmte Kultur, wollte verkrustete kapitalistische, konservative und antikommunistische Strukturen und Haltungen aufbrechen. Rebellion fand statt, Revolution nicht. Was fünfzig Jahre danach von all dem noch da ist.

1968 erlebte ich nicht live und direkt, sondern die Auswirkungen auf die bürgerliche Gesellschaft der 70er Jahre. Von Marxismus, Demos, Aktionen, Happenings und Auseinandersetzungen wusste ich noch nichts; ich war in der dritten Primarschulklasse, spielte mit anderen Kindern im Quartier und im nahen Wald und träumte vom Töfflifahren, das erst ab 14 Jahren erlaubt war. Das Töffli war dann eine wichtige erste Verbindung zur Welt und zu einem Gefühl der Freiheit, eine weitere die berauschenden Welten von Pop/Rockmusik und Literatur. Im Gymnasium war die Stimmung eher sozial und aufgeklärt, es gab einzelne links engagierte Lehrer, die in der SP politisierten, die meisten SchülerInnen gaben sich links, an der Uni beschäftigte ich mich wie viele StudentInnen mit Marxismus.
In der zweiten Hälfte der Siebziger gab es viele Demonstrationen, die Bewegungen für Frieden und Abrüstung, Solidarität mit aus dem Kapitalismus ausscherenden lateinamerikanischen Staaten, die Anti-AKW-Bewegung mit Geländebesetzungen und harter Polizeirepression, die HausbesetzerInnenszene in Berlin und den Niederlanden. Die frühe neoliberale Politik von US-Reagan und UK-Thatcher mit ihrer zügigen Zerschlagung des Sozialstaats, der schnellen Verarmung und hohen Arbeitslosigkeit radikalisierte, in England gab es Punk, Riots und Gewerkschaftskämpfe. Die in Europa heftige autonome Jugendbewegung 1980 bis 1982 war nur eine Zuspitzung, Radikalisierung und Popularisierung der ausserparlamentarischen Ereignisse der vorangegangenen Jahre und eine Auflehnung eines grossen Teils der Jugend gegen die scheinheilige Gesellschaft und herrschende Klasse, in die sich ein Teil der 68er-RebellInnen optimal integriert hatte.

Nicht aus heiterem Himmel
1968 war in Europa der Lebensstandard relativ hoch, Widersprüche klafften zuhauf. Es blitzte und donnerte im Mai 68 in Frankreich und anderswo nicht aus heiterem Himmel. Schon in den Sechzigern hatte es private und öffentliche Bestrebungen gegeben, die christlich-liberale, postfaschistische, antikommunistische Nachkriegsgesellschaft aufzulockern und menschlicher zu machen: Existenzialismus, LiedermacherInnen, «Generationenkonflikt», Rock’n’Roll- und Motorradbewegung, performative, politisch-provozierende Kunst.
In den Sechzigern war die Kirche in der Gesellschaft wichtig gewesen; wer dazu gehören wollte, musste mehr oder weniger am kirchlichen Leben teilnehmen. In den Siebzigern bedeutete Distanz zu Kirche und Religion nicht mehr gesellschaftlichen Nachteil. Christliche Sexualmoral und Zweierbeziehung wurden von vielen etwas lockerer interpretiert und gelebt, in vielen Familien verschwanden Ohrfeigen und «Füdlitätsch» aus dem Erziehungs- und Bestrafungsrepertoire.
Sex und Zweierbeziehung ohne Ehe wurde in den Siebzigern möglich, die Frauen- und die Homosexuellenbewegung nahmen Schwung auf, linke Politik etablierte sich am Rand, bürgerliche Politik wurde angesichts der Systemkonkurrenz sozialer und ökologischer. Alternativmode, Alternativ- und Kooperativenbewegung erlebten einen kurzen Frühling. In den Neunzigern bäumte sich die offene sozialliberale Gesellschaft noch einmal auf, um die Jahrhundertwende begannen radikalkapitalistische und völkische Interessengruppen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft neoliberal und konservativ zu überrollen. Der Kalte Krieg wurde nie gedrosselt, der Untote tobt weiter gegen alle, die dem westlichen Neoliberalismus und Imperialismus nicht alle Türen öffnen, ist toll verinnerlicht bei einer Bevölkerungsmehrheit und gehört auch ohne UdSSR, Warschauer Pakt und Rotem China noch penetrant zum Mainstream. Der Inhalt der antikommunistischen Propaganda wird nahtlos auf Iran, Syrien und Russland übertragen.

Ideologische «ewige Liebe»
Die «sexuelle Revolution» der 68erInnen ist weitgehend verebbt, patriarchale Rollenverteilung, Privatisierungs- und Besitzdenken in Beziehungen bleiben Mainstream, sexistische und homophobe Witze sind wieder salonfähig. Der ideologisch mystifizierte Dreiklang Familie, Liebe, Treue ist wieder viel stärker, inklusive Scheinheiligkeit: Ein riesiger Sexanzeigen- und Prostitutions-Markt floriert unter der properen bürgerlichen Oberfläche, auf der man ideologiegeblendet vorgibt, dank der Kraft der ewigen Liebe alles im Griff zu haben. Die Erwähnung von Homosexualität und Transgender löst oft Spei- und Ekelreaktionen aus, als ob einem/r versehentlich das «falsche» Geschlechtsorgan in den Mund geraten wäre. Trotz der peinlichen Homophobie sind homosexuelle Beziehungen in vielen Ländern akzeptiert – aber nur im Rahmen von Zweierbeziehung und Kleinfamilie (da, wo Adoption erlaubt ist).

Scheinfreiheiten
Es gibt mehr Transparenz in Politik und Verwaltung, Umweltschutz dient als Geschäft, Image- und Wahlkampfwerbung. 68erInnen und NachfolgerInnen wurden ins System integriert: Rot-grüne Mitte-Links-Regierungen und Parlamentsfraktionen – die selten Rot-Grünes und öfters Neoliberales anstossen – verwalten und herrschen. Sie sind weit davon entfernt, die neuen Kolonialkriege, den Krieg gegen die Armen und andere AbweichlerInnen oder Artenmorden, Klimakatastrophe, Anstieg der Meere und Temperaturen auf dem Planeten zu verhindern oder zu beenden. Volle Regale und Verschwendung, Illusionen und virtuelle Täuschungen, Scheinfreiheiten und Kommerz mit lässiger Mode, Popmusik und dem Mythos von «Forever young» sind wichtiger als soziale und ökologische Fortschritte und zentral für die Systemerhaltung.

Entfremdung und Schizophrenie
Die Frauenbewegung macht in dieser Stimmung eher Rückschritte als Fortschritte: keine Lohngleichstellung, politische und wirtschaftliche Gremien bleiben von Männern dominiert. Verheiratete Frauen tragen meist Doppelbelastung, viele Alleinerziehende werden von Sozialbehörden kontrolliert und drangsaliert, Gewalt gegen Frauen ist immer noch da, wird aber in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen. Repression und Überwachung durch Behörden und private Subunternehmen werden vorangetrieben, Sozialabbau ebenfalls, Massenarmut wird das Ergebnis sein.
Sehr viel kreative Energie der 68er ging in Mode-, Unterhaltungs- und Konsumindustrie anstatt in die Systemveränderung. Bürgerliche Politik, Wirtschaft und Medien schmücken sich gerne mit fremden Federn, mit den zurechtgestutzten Emanzipationen der Schwarzen, Frauen und Homosexuellen. Entfremdung und Schizophrenie des Kapitalismus bleiben, die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution ebenfalls.

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