«Näher als sie scheinen»
Kai Degenhardt. Auch meine fünfte Platte ist selbstverständlich wieder ein politisches Liedermacher-Album – was sonst? Allerdings nicht im Sinne, dass ich zur Klampfe singend tagespolitische Themen erörtere. Ich zähle meine Musik zu dem Genre, das die Anglo-Amerikaner «Singer-Songwriter» nennen und das bei uns unter «Liedermacher» läuft.
Musikalisch basieren weite Teile des Albums auf Geräusch-Samples – vom Mülltonnendeckel über Katzen-Gemieze zum Schlagschrauber. Ich bin tatsächlich in den letzten zwei Jahren meiner Umwelt häufig dadurch auffällig geworden, dass ich mit einem mp3-Recorder durch die Gegend lief und alle möglichen Alltagsgeräusche aufgenommen habe. Ausschliesslich aus solchen Schnipseln habe ich dann am Rechner die Beats für die Stücke des neuen Albums gebastelt. Der entstehende Verfremdungseffekt ist natürlich Sinn der Angelegenheit. Aber keine Sorge, auch klassische Musikinstrumente werden noch gespielt, und zwar Gitarre, Bass, Klavier, Melodica und Laptop.
«Näher als sie scheinen» ist aber auch ein Album im hergebrachten Sinn des Wortes, weil die darauf enthaltenen Stücke inhaltlich zusammengehören. Die seit nunmehr fünf Jahren andauernde und stetig sich verschärfende globale Systemkrise bildet den übergeordneten thematischen Bezugsrahmen für die insgesamt 16 Stücke. Ob heute wieder gilt, dass «wenn alles beim Alten bleiben soll, sich alles ändern muss» – wie es die Lampedusa in seinem Roman «Der Leopard» schrieb, oder doch schon ein Szenario zu erkennen ist, «dass die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen» (Lenin) – das versuche ich auf der Platte, sozusagen en passant, poetisch zu erörtern.
Zwischen Morricone und modalem Jazz
Dabei möchte ich gerne das ganze Spektrum der persönlichen Konnotationen meiner HörerInnen wachrufen, auf dass diese sich mit Text und Musik irgendwie verzahnen. Dazu gehören Emotionen und Erinnerungen an frühere Erfahrungen und Wahrnehmungen (Näher als sie scheinen, Über den Mond) genauso wie das Durchspielen der inneren Möglichkeiten zu den in den Songtexten gemachten Vorschlägen hinsichtlich der Aneignung von Gegenwart und Geschichte (Herbst 1918, Zum Verbrechen, Vom Machen und Überlegen, Die Karawane). Konzeptalbum? Na klar.
Die zwischen den längeren Songs eingesetzten Miniaturen werfen ihre Streiflichter auf die individuellen Innen- und Aussenräume, wo die politische Grosswetterlage, die voranschreitende gesellschaftliche Fragmentierung und Entsolidarisierung sich ins so genannte Persönliche übersetzen (Frau Gesangsverein, Michael) und sich mitunter eine allgemeine soziale Statuspanik Bahn bricht (Auf Augenhöhe, An den Kufen des Hubschraubers, Wendehammer-Bohème).
Bänkelsong oder doch Ballade? Egal, die klassischen Disziplinen werden jedenfalls auch gepflegt: «Die Ballade vom Bernie Strauss» ist die 12-strophige Erzählung einer postfordistischen Aufsteiger-Biographie und ihres Endes, zu einem geloopten Flamenco-Buleria-Fake im 12/4-Takt. Und in «Nach der Sperre» greife ich das Genere «Bewaffnetes Road-Movie» von der letzten Platte wieder auf und setzte die Geschichte fort: Es ist ja auch wirklich nicht meine Aufgabe, mitzuteilen, was in meinem Leben real geschieht, sonder davon zu erzählen, was mir nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit passieren könnte.
In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts hatten sich beträchtliche Teile der kulturellen Opposition aus dem Geist von 1968 in die neoliberale Kapitalismus-Restauration eingeschrieben. Mit dem Platz der Immobilien-, Finanz- und anderer Blasen sind manche davon heftig abgestürzt und auch aufgeprallt. Der 18-minütige XXL-Schluss-Song «Unwetter in Blau» aus der Gattung des epischen Ein-Akkord-Rollen-Liedes erzählt das «Fleddern» eines so Gestürzten: In Raum und Zeit gedehnte Textmalerei zu programmierten Sound- und Geräuschschleifen, drüber live eingespielte, improvisierte Instrumentalstimmen von Klavier und spanischer Gitarre, genremässig irgendwo zwischen Morricone und modalem Jazz.
Ich
Ich zähle meine Musik zu dem Genre, das die Anglo-Amerikaner «Singer-Songwriter» nennen und das bei uns unter «Liedermacher» läuft. Wenn eine Musik und die Texte heute anders klingen, als das zu Zeiten der Burg-Waldeck-Festivals in den 1960ern der Fall war, so verdeutlicht es das nur. Purismus und Tradition sind zwei grundverschiedene Angelegenheiten. Und natürlich mache ich politische Lieder. Ich schreibe und singe von mir und Gott und der Welt und wie das alles zusammenhängt. Im landläufigen TV-Talk-Sinne aber ist und bleibt meine Musik absolut unpolitisch: Weder die Bundespräsidenten-Affäre noch der Fiskalpakt werden von mir auch nur im Ansatz textlich oder musikalisch behandelt.
Geboren 1964, wurde ich in den Siebziger und frühen Achtzigern entscheidend musikalisch sozialisiert, bin also mit Folk, Rock, Punk, Wave, Reggae und so weiter gross geworden, aber natürlich auch mit den Liedern meines im November letztes Jahres verstorbenen Vater Franz Josef Degenhardt. Mit ihm habe ich 20 Jahre als Arrangeur und Gitarrist zusammengearbeitet. Von 1987 an habe ich auf sämtlichen seiner Alben und diversen Tourneen mitgewirkt. Natürlich hat mich das künstlerisch stark geprägt.
Seit 1997 habe ich fünf eigene Alben veröffentlicht. Das letzte, «Weiter draussen», wurde 2008 von der Jury der Liederbestenliste zur CD des Monats November gewählt, und die Vereinigung «Preis der deutschen Schallplattenkritik» wertete es als eine der künstlerisch herausragenden Neuveröffentlichungen des Tonträgermarktes.
Kai Degenhardt spielt am Montag, 2.April in Basel im Hirscheneck, 20.00 Uhr.
Einziges Konzert in der Schweiz