Die Mauer als Wandzeitung der Revolution
Im Rahmen eines ethnologischen Seminars der Universität Luzern zu Politik und sozialen Bewegungen in Nordafrika wurde der Dokfilm «?Art War?» von Marco Wilms gezeigt. Zuvor berichtete der ägyptische Musiker Ramy Essam von seiner Geschichte, der aktuellen Situation und wie er zum Sänger der Revolution wurde.
Neben renommierten Forschenden haben auch zwei spezielle Gäste aus dem Bereich der Kunst am 20. September am Seminar teilgenommen. Zum einen der ägyptische Musiker Ramy Essam, der durch seine Auftritte auf dem Tahrir-Platz in Kairo während der Revolution 2011 berühmt wurde. Essam Ramy sprach in seinem Vortrag über «Musik und politischer Aktivismus in Ägypten». Zum anderen war der deutsche Regisseur Marco Wilms zugegen, dessen preisgekrönte Dokumentation «Art War» gezeigt wurde. Der Film beleuchtet das Aufkommen von Graffitis, Streetart und Musik als Ausdrucksmittel des Protests während und nach der Revolution in Ägypten.
Der Sänger der Revolution
Zu Beginn erzählt Ramy Essam über sich und wie er zum Revolutionär wurde. Während sein grösserer Bruder schon zuvor aktiv war, spielte er mit der Band «Mashakel» Lieder über den Alltag und die Liebe. «Ich hängte rum, ging in Clubs und interessierte mich für nichts», erzählt Ramy. Als es am 25. Januar 2011 in Folge der tunesischen Revolution auch in Ägypten zu ersten Demonstrationen kam und für den 28. Januar der «Tag der Wut» – der Tag der Revolution – ausgerufen wurde, entschloss sich Ramy, wie viele andere auch, nach Kairo zu reisen. Nach zwei Tagen Revolte und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit hunderten Toten lag das Regime von Hosni Mubarak am Boden, die Sicherheitskräfte verschwanden aus dem Alltag, das Militär schlug sich auf die Seite der rebellierenden Strasse und überall auf den Plätzen wurde gefeiert. Ramy blieb, mit seiner Gitarre bewaffnet, auf dem Tahrir und wartete wie ganz Ägypten, dass Hosni Mubarak nach dreissig Jahren Unterdrückung und Diktatur die Macht abgibt. Er spielte in den Zelten mitten auf dem Platz und unterhielt die Anderen mit seiner Musik, nahm die wütenden Parolen der Strasse auf und baute sie in seine Lieder ein.
Doch Hosni wollte nicht gehen. In einer surrealen TV-Ansprache machte Mubarak klar, dass er keineswegs daran denke, zurückzutreten. Entsprechend niedergeschlagen war die Stimmung auf dem Tahrir, denn nun fürchteten alle noch grösseres Blutvergiessen. Ramy Essam begann zu spielen. Es war der 31. Januar, für Ramy ein Wendepunkt in seinem Leben. Sein Lied «erhal» (hau ab) wollten nun alle hören. Er wurde zuerst aufgefordert, im Stehen zu singen, dann, dass er doch auf die Bühne soll. Doch Nagib, heute ein enger Freund von Ramy, liess ihn nicht auf die Bühne. Mit den Worten: «Ja, ja, aber nicht jetzt, nicht jetzt!», wimmelte er ihn immer wieder ab. Spät in der Nacht durfte Ramy dann doch noch auf die Bühne, «aber bloss ein Song» wurde ihm zugeraunt. Als er die Bühne wieder verliess, war der Sänger der Revolution geboren und Ramy musste plötzlich überall spielen. Heute kennt in Ägypten jedes Kind seinen Namen und seine Musik.
Kunst als politische Waffe
Auch der Dokumentarfilm «Art War», widmet sich ganz der revolutionären Strasse. Der Regisseur Marco Wilms, der zwei Jahre für die Arbeit an seiner Doku die meiste Zeit in Kairo lebte, begleitete AktivistInnen der ägyptischen Kunstszene, MusikerInnen und GraffitikünstlerInnen, die mit Spraydosen, Mut und anarchistischen Agitationsformen die Revolution auf den Wänden und im öffentlichen Raum weiterführen. Marco Wilms, der sich immer wieder selbst Mitten in den Sturm begibt, begleitet Ramy Essam, die Electropop-Sängerin Bosaina und die jungen Künstler Ganzeer, Ammar Abo Bakr, Mohamed Khaled, Alaa Awad und Hamed Abdel-Samad.
«Es gibt im Grunde keine erfolgreiche und auch keine gescheiterte Revolutionen. Revolutionen sind Motoren der Geschichte. Und egal ob sie scheitern oder nicht, sie bewegen was, sie verändern was, aber langfristig», meint der ägyptisch-deutsche Schriftsteller und Politologe Hamed Abdel-Samad zu Beginn des Films, der im November 2011 einsteigt. Damals starben hunderte junge RevolutionärInnen beim Aufstand gegen den damals regierenden Militärrat (SCAF). Der Film zeigt eindrücklich auf, wie die jungen AktivistInnen ihre Kunst als politische Waffe und als Ausdruck ihres Protestes einsetzen. Wilms gelang mit seinem Film, die neu entstehenden Subkulturen mit lebendigen Bildern einzufangen und aufzuzeigen, wie Kunst als Mittel der Unterdrückten und als treibende Kraft, die noch lange nicht vollendete Revolution vorantreibt. «Die Mauer ist die Wandzeitung der Revolution, wann immer etwas passiert, übertragen wir es auf die Wand, damit es das Volk sieht» erklärt Ammar. Oder in Ganzeers Worten: «Alternative Propaganda gegen die Propaganda der Regierung». Der Film berichtet über die Geburt des ägyptischen Graffitis, darüber, wie der öffentliche Raum und die Wände zum emanzipatorischen Schauplatz werden, wo mit Spraydosen und Pinseln versucht wird, die Gesellschaft aufzubrechen und wachzurütteln. Mit seinem Film hat Marco Wilms ein beeindruckendes Zeitdokument geschaffen.
Eine neue Generation
Ramy Essam berichtete in Luzern aber auch von drei Jahren Kampf und von schweren Zeiten mit vielen Verlusten. «Es war ein Fehler, dass wir so früh den Tahrir verlassen haben. Das Regime gelang es, sich neu zu sammeln und die fragmentierte und unorganisierte Opposition zu spalten», erklärt Ramy. Er erzählt von der zweiten Besetzung des Tahrirs und wie diese am 9. März 2011 brutal geräumt und er mit zweihundert anderen verhaftet und während sechs Stunden im Keller des ägyptischen Museums brutal gefoltert wurde. Nur knapp überlebte er damals die Folter, brechen konnten sie ihn nicht. Und Ramy schilderte die aktuelle Situation, wie das Militär und die Mainstreammedien derzeit versuchen, die Revolution in einen islamistischen Putsch umzudeuten und wie er mit seiner Musik dagegen ansingt. Und auch über die kommende zweite Welle und dass viele in Ägypten fürchten, dass die Hungernden und Ärmsten der Armen diese Welle sein könnten. Dass dies ohne Zweifel sehr hässlich werden und es nicht um Freiheit gehen wird, die Bewegung aber trotzdem versuchen würde, diesen Aufstand mit allen Mitteln zu unterstützen. Ramy Essam hegt gleichzeitig grosse Hoffnung in die neue Generation, die anders ist. Auf die, die noch zu jung waren für die Revolution und die nun eifersüchtig, neidisch und wütend sind, dass sie kein Teil des Aufstands waren und dass sie sich in keine der Strassenschlachten werfen konnten, «um im Kampf sich selbst zu finden», wie es Hamed Abdel-Samad in «Art War» so treffend formulierte.
Mehr Infos zu «Art War» und Ramy Essam: www.facebook.com/ARTWARmovie www.ramyessam.net