Von der Empörung zum organisierten Kampf übergehen
sit. Zwei Generalstreiks, der erste am 21.September, der zweite am 3.Oktober, mobilisierten über zwei Millionen Menschen auf die Strassen und Plätze von ganz Italien in Solidarität mit Palästina und der Sumud Global Flotilla. Wie kam es dazu? Und: Was wird oder was kann aus der Bewegung werden?
«Die Empörung über die Art und Weise, wie die Regierung ihre Beziehungen zu Israel gestaltet, und über ihre offen erklärte Komplizenschaft mit einem genozidalen System bilden den auslösenden Faktor», schreibt der Dachverband der Basisgewerkschaften «Unione Sindacale di Base» (USB). Und weiter: «Das Entsetzen angesichts des wiederholten und offen gerechtfertigten Massakers auf der einen Seite und der Ekel über die fortgesetzte Heuchelei jener, die uns regieren, sind die Zutaten dieser Mobilisierung.» Diese Beschreibung widerspiegelt die Stimmung und Gefühlslage vieler Menschen in Italien sehr gut.
Schritt für Schritt
Hinzu kommt die Global Sumud Flotilla. Donatella Della Porta, eine der bedeutendsten Forscherinnen zu sozialen Bewegungen in Italien, bringt es im Interview mit der Tageszeitung «Il Fatto Quotidiano» so auf den Punkt: «Die Flotilla wurde auch von Menschen, die nicht links, nicht politisiert und noch nie auf die Strasse gegangen waren, als etwas Schönes und ‹Eigenes› erlebt.»
Della Porta ist seit 2015 Professorin für Politikwissenschaft an der Universität in Florenz. Im Interview zeigt sie auf, dass in Italien seit Oktober 2023 ein Anwachsen der Mobilisierungsfähigkeit für Palästina zu beobachten war – dies in grossen Städten sowie in der Provinz, an den Universitäten, in den Spitälern und in der Arbeitswelt allgemein. «Schritt für Schritt kam es zu einer Ausdehnung über jene Gruppen hinaus, die sich historisch für Palästina mobilisiert hatten», erklärt sie. Organisationen und Bewegungen, wie etwa die katholische Friedensbewegung, kamen hinzu, die «anfangs vielleicht Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus hatten», so Della Porta.
Nach den eindrücklichen Demonstrationen vom Freitag, 3.Oktober, kommentierte sie in den sozialen
Medien, dass der Angriff auf die Flotilla der «Abzug» gewesen sei, der «die in zwei Jahren des Widerstands und des Ungehorsams angesammelten Energien zur Explosion brachte».
Gesagt, getan
Die ausgewiesene Expertin Della Porta weist auf die «zwei Jahre des Widerstands und des Ungehorsams» hin – und macht damit deutlich, dass die Bewegung nicht einfach spontan entstanden ist. Ein wichtiger Faktor, auf den auch in einem Beitrag auf dem unabhängigen Portal «progettometi.org» eingegangen wird: «Diese Bewegung ist nicht erst gestern geboren. Sie ist geboren in jeder übersetzten und verbreiteten Mitteilung, in jedem verteilten Flugblatt, in jeder Gewerkschaftsversammlung, in jeder Blockade der Häfen, über die bis vor kurzem nicht einmal eine Lokalzeitung ein paar Zeilen schrieb.» Und fast poetisch wird hinzugefügt: «Mobilisierungen, Streiks, Konflikte, die Politik im Allgemeinen – so suggestiv dieses Bild auch sein mag – sind keine Wildpflanzen, keine Quecke, die der Wind verbreitet.» Es seien vielmehr Pflanzen, die aus Samen entstehen, die in die Erde gelegt, gepflegt und gegossen wurden und die, wenn «sie die richtigen Bedingungen finden, spriessen und blühen – unsere tägliche Arbeit zählt».
Zu dieser «täglichen Arbeit» zählen ganz besonders die Arbeitskämpfe der Hafenarbeiter:innen, insbesondere jener in Genua. Die Genoss:innen der Basisgewerkschaft Collettivo Autonomo Lavoratori Portuali (CALP) waren die ersten, die gleich nach Beginn des Genozids im Oktober 2023 unmissverständlich der Welt verkündeten: Wir arbeiten nicht für den Krieg! Immer wieder kam es zu erfolgreichen Blockaden, wenn es darum ging, zu verhindern, dass Kriegsmaterial verschifft wird. Es waren auch die CALP gemeinsam mit der USB, die sich von Beginn weg ohne Wenn und Aber mit der Global Sumud Flotilla solidarisierten und klarmachten: Wird die Flotilla angegriffen, rufen wir den Generalstreik aus. Gesagt, getan!
«Sie glauben ihnen nicht mehr»
Dieses «gesagt, getan» ist von Bedeutung. Denn die «tägliche Arbeit», welche die Massenmobilisierung erst ermöglichte, wurde von Basisgewerkschaften, von selbstorganisierten Kollektiven sowie von Organisationen und Parteien wie «Potere al Popolo» geleistet. Sie haben seit Langem in der Basisarbeit und Mobilisierung eine ihrer politischen Kernaufgaben – und vor allem: Sie tun das, was sie sagen. Ganz im Gegensatz zu den parlamentarischen Oppositionsparteien wie der sozialdemokratischen PD oder der Fünf-Sterne-Bewegung, aber auch zur mitgliederstärksten Gewerkschaft CGIL. Diese nahm am ersten Generalstreik nicht teil – ein Fakt, der von einer gewissen Arroganz zeugt, aber vor allem davon, dass sie den Puls der Bevölkerung gar nicht mehr spürt.
Es steht ausser Zweifel, dass die «linke» parlamentarische Opposition und die CGIL eine solche Massenmobilisierung niemals zustande gebracht hätten– auch
nicht gemeinsam. «Viele tragen noch ihre alte Mitgliedskarte in der Tasche und hören den müden Reden der Anführer:innen einer widersprüchlichen und ausgelaugten Opposition zu», schreibt der Dachverband der Basisgewerkschaften USB dazu. «Sie hören ihnen zu, weil sie nichts anderes zu hören bekommen von ihnen – aber sie glauben ihnen nicht mehr.» Und dies eben, weil zu selten Taten auf Worte folgten.
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
An den beiden Generalstreiks beteiligten sich daher auch viele Arbeiter:innen, die lange keine Orientierung im politischen und gewerkschaftlichen Umfeld fanden. Sie blieben still, ertrugen passiv den Verfall des politischen Lebens, den Rückgang ihrer Rechte und die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren. Mit den Kämpfen der USB fanden viele eine gewerkschaftliche Organisation mit klaren Vorstellungen, der nötigen Entschlossenheit und den Mitteln, das zu tun, was sie auch sagt.
Und so ergibt sich eine Erkenntnis: Die Massenmobilisierung ist eben auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Der USB dazu: «Es besteht kein Zweifel: Das alte gewerkschaftliche und politische Gefüge verfügt heute weder über die Glaubwürdigkeit noch über die Autorität, um die Gefühle auszudrücken, die dieser Strom entfesselter Empörung zum Ausdruck bringt.» Der USB geht hart ins Gericht mit den sogenannten Oppositionskräften des Landes. Der «Vorwurf der Heuchelei und der Komplizenschaft» treffe letztlich auch die Opposition selbst. Denn diese habe, fast in letzter Minute, ihre «Haltung nach und nach geändert, um der Volkswut mühsam hinterherzulaufen», so die USB.
Die Arbeiter:innen treten in den Vordergrund
Wie weiter? Klar ist, dass man nicht über Monate hinweg Bahnhöfe besetzen kann. Und der Blick in die Geschichte der letzten 30 Jahre zeigt: Ob No Global, Occupy, MeToo, Black Lives Matter oder die Klimabewegung – alle verloren über kurz oder lang ihre Mobilisierungsfähigkeit und verschwanden wieder. Warum sollte es diesmal in Italien anders sein?
«Der moralische Schock führt zu Überlegungen, die den Kopf betreffen, nicht nur das Bauchgefühl. Es geht nicht nur darum, den Genozid zu stoppen, sondern eine gerechtere und fairere Gesellschaft aufzubauen», erklärt die Expertin Della Porta im Interview mit «Il Fatto Quotidiano». Sie glaubt, dass «diese Bewegung überleben» wird – vor allem wegen ihrer Fähigkeit, «Koalitionen zu bilden». Sicher ist sich Della Porta, dass die Bewegung «längerfristige Folgen» haben wird. Sie hält fest: «Dies geschieht immer, wenn junge Menschen in einer Zeit hoher ethischer Spannungen politisiert werden – zum Beispiel 1968 oder während des Vietnamkriegs.»
Doch das wichtigste Element in dieser Bewegung nennt die Gewerkschaft USB: «Durch die USB treten die Arbeiter:innen wieder in den Vordergrund – jene, die scheinbar endgültig von der Bühne verschwunden waren.» Die Arbeitskämpfe fungierten als Initiator, sind ein zentrales Element sowie Bezugspunkt dieser Bewegung und wohl ihre grösste Stärke. Und dieser Fakten ist gleichzeitig der entscheidende Unterschied zu den genannten Bewegungen wie No Global oder Occupy.
«Die Empörung, die wir auf den Plätzen sahen, ist die Tochter eines grossen sozialen Unbehagens», schreibt die USB. In der Tat: Die Zahl der Menschen, die in Italien in absoluter Armut leben, erreichte 2023 mit 5,75 Millionen (9,8 Prozent der Bevölkerung) einen Höchststand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2014. Rund ein Viertel der Bevölkerung lebt knapp über der Armutsgrenze. Das heisst: Wenn überhaupt, reicht das Geld nur knapp bis zum Monatsende für das Notwendigste zum Überleben. Und: 10,3 Prozent der Beschäftigten leben in Armut – so die Zahlen des staatlichen Statistikinstituts ISTAT. Fast gleichzeitig verkündete hingegen die Banca d’Italia, also die Zentralbank, dass die «grösseren Banken» im Land für 2025 mit einem Profit von rund 26 Milliarden Euro rechnen können.
So gibt die USB die Richtung für die Zukunft vor: «Ausgehend von den Arbeitsplätzen ist es nun an der Zeit, eine Welle loszutreten, die den Kampf gegen die Aufrüstung mit den Themen Löhne, Arbeitsbedingungen sowie dem Schutz öffentlicher Dienstleistungen verbindet. Es geht darum, von der Empörung zum organisierten Kampf überzugehen.»
Beste Voraussetzungen
Um dies zu erreichen, ist die «alltägliche Arbeit» notwendig, denn – wie bereits erwähnt – können Bahnhöfe und Plätze nicht über Monate hinweg besetzt
werden. Nur durch die tägliche Basisarbeit kann der organisierte Kampf zum Erfolg werden. Also jene mühsame Arbeit, die vielen Bewegungen nach ihrem Höhepunkt nicht gelang – die Klimabewegung in der Schweiz ist ein Beispiel dafür. Doch auch in diesem zentralen Punkt für das Überleben einer Bewegung gibt es in Italien einen Unterschied: Diese Arbeit wird von den Basisgewerkschaften, von den Kollektiven und Parteien wie «Potere al Popolo» bereits seit Jahren geleistet. Und, es sei wiederholt: Sie führte zur Massenmobilisierung am 21.September und am 3.Oktober. Beste Voraussetzungen dafür, dass es auch in Zukunft wieder gelingen wird.