Vom Säen und Ernten in Palästina

Subcomandante Moises

Redaktion. Subcomandante Insurgente Moisés der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) äusserte sich aus den Bergen Mexicos zum Krieg Israels gegen Palästina. Wir veröffentlichen sein Schreiben, in dem er an eine Rede des verstorbenen Supcomandante Marcos aus dem Jahr 2015 erinnert, als Palästina einmal mehr bombardiert wurde.

Vor fast 15 Jahren, genauer am 4.Januar 2009, wurde in unseren Worten vor diesem Alptraum in Palästina gewarnt. Es war während eines Seminars – und es war durch die Stimme des verstorbenen SupMarcos, dass wir sprachen. Los dann, erinnern wir uns an seine Worte:

Vielleicht hat das, was ich sagen werde, nichts mit dem zentralen Thema dieser Arbeitsgruppe zu tun, vielleicht aber doch. Vor zwei Tagen, als unsere Worte sich auf die Gewalt bezogen, erklärte die unsägliche Condoleezza Rice, Funktionärin der nordamerikanischen Regierung, das was in Gaza geschehe, sei die Schuld der Palästinenser – wegen ihres gewalttätigen Wesens. Was wir jetzt hören, ist der Gesang von Krieg und Mühsal. Nicht weit von hier, in einem Ort, der Gaza genannt wird, in Palästina, im Mittlerer Osten, hier um die Ecke, setzt eine stark bewaffnete und ausgebildete Armee – die Armee der Regierung Israels – ihren Vormarsch des Todes und der Zerstörung fort.
Die Schritte, die bisher erfolgt sind, sind die eines militärisch-klassischen Krieges der Eroberung: Zuerst eine intensive und massive Bombardierung, um die militärischen «neuralgischen Punkte» (so lautet es in den militärischen Handbüchern) zu zerstören (…). Dann kommt der Sturm-Angriff, der die Stellungen erobern soll, indem der Feind vernichtet wird; daraufhin erfolgt «die Säuberung» der möglichen «Nester des Widerstandes». Schritt für Schritt folgen die eindringenden militärischen Kräfte dem militärischen Handbuch des modernen Krieges, mit einigen Variationen und Ergänzungen.
Wir verstehen von alldem nicht viel, und sicherlich gibt es Spezialisten des sogenannten «Konflikts im Mittleren Osten». Aus diesem Winkel hier müssen wir jedoch etwas dazu sagen: Nach den Fotos der Nachrichtenagenturen sind die von der Luftwaffe der Regierung Israels zerstörten «neuralgischen« Punkte» Wohnhäuser, Hütten, zivile Gebäude. Wir haben zwischen all dem Zerstörten keinen Bunker, keine Kaserne, keine Geschützbatterien gesehen. Somit denken wir, entschuldigt unsere Unwissenheit, dass die Bordschützen der Flugzeuge schlecht zielen oder dass in Gaza diese militärischen «neuralgischen« Punkte» nicht existieren.
Wir haben nicht die Ehre, Palästina zu kennen, wir nehmen jedoch an, dass in diesen Häusern, Hütten und Gebäuden Leute gelebt haben: Männer, Frauen, Kinder, Alte – und keine Soldaten. Wir haben auch keine Befestigungsanlagen des Widerstands gesehen – nur Trümmer und Schutt (…).
Jedoch wartet. Es ist uns gerade eingefallen: Vielleicht sind diese Männer, Frauen, Kinder und Alten für die Regierung Israels feindliche Soldaten – und als solche stellen die Häuser, Hütten, Gebäude, die sie bewohnen, Kasernen dar, die zerstört werden müssen.
Das Artilleriefeuer, das heute in der Morgendämmerung über Gaza niederging, diente also sicherlich dazu, den Vormarsch der Bodentruppen der Armee Israels vor diesen Männern, Frauen, Kindern und Alten zu schützen. Und die feindliche Garnison, die sie mit der Einkreisung und Belagerung rund um Gaza schwächen möchten, bedeutet nichts anderes als die palästinensische Bevölkerung, die dort lebt. Und dass der Angriff versuchen wird, diese Bevölkerung zu vernichten. Und dass jeder Mann, jede Frau, jedes Kind oder jeder alte Mensch – der/die es geschafft hat, diesem vorhersehbar blutigen Angriff zu entkommen oder sich zu verbergen – danach «gejagt» wird, damit die Säuberung vollständig ist und der militärische Befehlshaber der Operation seinen Vorgesetzten melden kann: «Wir haben die Mission erfüllt.»
Entschuldigt noch einmal unsere Unwissenheit, vielleicht ist das, was wir sagen, in der Tat nicht der Fall oder die Sache, je nach dem. Und anstatt das Verbrechen, das gerade geschieht, zurückzuweisen und zu verurteilen – als Indígenas und Krieger, die wir sind – sollten wir diskutieren und Position beziehen innerhalb der Diskussion, ob «Zionismus», ob «Antisemitismus» – oder dass am Anfang die Bomben der Hamas standen.
Vielleicht ist unser Denken sehr simpel, und es fehlen uns die bei Analysen so notwendigen Nuancierungen und Randbemerkungen – denn für uns Frauen, Männer, Zapatistas, gibt es in Gaza eine professionelle Armee, die eine wehrlose Bevölkerung ermordet.
Wer von unten und von links könnte weiterhin schweigen? Nutzt es, etwas zu sagen? Halten unsere Schreie irgendeine Bombe auf? Unser Wort, rettet es irgendeinem palästinensischen Kind das Leben? Wir denken, ja, es ist nützlich – auch wenn wir keine Bombe aufhalten, unser Wort sich nicht in ein Schutzschild verwandelt, welches verhindert, dass eine Kugel mit den am Boden eingravierten Buchstaben «IMI» (Israelische-Militär-Industrie) – in die Brust eines Jungen oder eines Mädchens eindringt. Aber wir denken, dass es nützlich ist, weil vielleicht unser Wort es erreicht, dass Andere in Mexiko und in der Welt sich versammeln. Und vielleicht verwandelt es sich zuerst in ein Raunen, Flüstern und dann in einen Schrei, den sie in Gaza hören.
Ansonsten wird passieren, was passieren wird: Die Regierung Israels wird erklären, sie hat dem Terrorismus eine schweren Schlag versetzt, sie wird ihrer Bevölkerung das Ausmass des Massakers verbergen, die grossen Waffenproduzenten werden eine ökonomische Atempause erhalten, um der Krise zu trotzen und die «weltweite öffentliche Meinung» – dieses gefügige und immerzu gefällige Wesen – wird wieder wegschauen. Jedoch nicht nur. Es wird auch geschehen, dass der palästinensische Pueblo widerstehen und überleben wird und fortfährt zu kämpfen, und er wird für seine Sache weiterhin die Sympathie von unten erhalten. Und vielleicht überleben ja auch ein Junge oder ein Mädchen von Gaza. Vielleicht wachsen sie heran, und mit ihnen der Mut, die Empörung, die Wut. Vielleicht machen sie sich zu Soldaten und Milizionären einiger Gruppen, die in Palästina kämpfen. Vielleicht stellen sie sich kämpfend (dem Staat) Israel entgegen. Vielleicht mit einem Gewehr schiessend. Vielleicht mit einem Dynamit-Gürtel um die Hüften sich selbst opfernd.
Dann werden sie dort oben über das gewalttätige Wesen der Palästinenser schreiben, werden Erklärungen herausgeben, die diese Gewalt verdammen und es wird erneut diskutiert: ob Zionismus, ob Antisemitismus. Und somit wird niemand fragen, wer das gesät hat, was geerntet wird.

So die Worte von SupMarcos. Diejenigen, die damals vor fast 15 Jahren Kinder waren, und überlebt haben, nun… Es gibt welche, die für das, was gesät wurde und heute geerntet wird, verantwortlich sind – und es gibt jemand, der ungestraft die Aussaat, das Säen wiederholt. Diejenigen, die noch vor wenigen Monaten die Invasion der Ukraine durch Putins Russland mit dem Hinweis auf «das Recht, sich gegen eine potenzielle Bedrohung zu verteidigen» gerechtfertigt und verteidigt haben, müssen nun jonglieren (oder auf Vergessen setzen), um dieses Argument angesichts Israels für nichtig zu erklären. Wie auch vice versa, umgekehrt.
Heute gibt es in Palästina und Israel – und überall auf der Welt – Kinder und Jugendliche, die das am Lernen sind, was der Terrorismus lehrt: Es gibt weder Begrenzungen noch Regeln, weder Gesetze noch Beschämen. Keinerlei Verantwortungen, keinerlei Haftung. Weder Hamas noch Netanyahu. Der Pueblo Israels wird weiterleben. Der Pueblo Palästinas wird weiterleben. Sie müssen sich nur eine Möglichkeit geben und darauf hartnäckig bestehen.
Indessen wird jeder Krieg weiterhin nur das Vorspiel des folgenden Krieges sein: noch grausamer, zerstörerischer und unmenschlicher.

Aus den Bergen des Südosten Mexikos.
Subcomandante Insurgente Moisés.,
Oktober 2023.

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