Kommunalwahlen in der Türkei: Ein Sieg für die kurdische Bewegung

Zürcher Wahlbeobachtungsdelegation. Die kurdische DEM-Partei hat eine internationalistische Delegation eingeladen, die Kommunalwahlen am 31.März in den kurdischen Gebieten in der Südosttürkei zu beobachten. Eine Reportage über die historische Niederlage des Erdogan-Regimes trotz illegitimer Wahlmanipulationen und die wertvollen Begegnungen mit der kurdischen Bewegung.

Amêd (Diyarbak?r), 30.März 2024, 16 Uhr: Aus ganz Europa treffen immer mehr Menschen im Konferenzsaal im ersten Stock des Hotels Demir im Zentrum von Amêd ein. Der Raum ist prunkvoll dekoriert und mit einem roten Teppich ausgekleidet, auf der Bühne steht ein Redner:innenpult und ein Konferenztisch. Zwischen 18 und 70 ist vermutlich jedes Alter vertreten, die Ankommenden tragen Anzug oder Trainerhosen und reden in kleinen Gruppen in diversen Sprachen über den kommenden Tag. Es ist der Vorabend der türkischen Kommunalwahlen, die Aufregung spürbar. Die etwa 120 Menschen bilden eine Delegationen von internationalen Wahlbeobachter:innen, die auf Aufruf der «Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie» (DEM) zusammenkommen. Sie tritt in den Wahlen mit den Hauptpfeilern Basisdemokratie, Dezentralisierung und Geschlechtergleichheit an. Dies zeigt sich auch im System der Co-Präsident:innenschaft, welches die DEM verteidigt.
Aus der Schweiz sind wir mit einer Gruppe von 33 Leuten angereist, um am Wahlsonntag mit Mitgliedern der DEM die Wahllokale in Bezirken von Amêd (Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin), Sirnex (S?rnak) und Êlih (Batman) zu besuchen. Wir sind uns einig, dass unsere Delegation dem Aufruf der DEM-Partei nicht gefolgt ist, weil wir über Expertise in demokratischen Wahlprozessen verfügen, sondern um uns solidarisch mit der kurdischen Freiheitsbewegung zu zeigen und deren Demokratieverständnis und Widerstandskraft uns beeindruckt. Unsere Anwesenheit dient insbesondere dazu, dass die Mitglieder der DEM am Wahltag der Kontrolle und Beobachtung des Wahlhergangs nachgehen können, indem sie internationale Beobachter:innen dabeihaben. Viele von uns sind zudem angereist, um ein Verständnis des politischen Kontexts zu bekommen, in dem unsere Genoss:innen für Freiheit kämpfen.

Ein wichtiges Ereignis
Dass die DEM den Wahlprozess selbst überwachen will, hat triftige Gründe. Denn die offizielle Delegation des Europarates beschränkt ihre Beobachtungstätigkeit auf die türkischen Metropolen wie Ankara oder Istanbul und Umgebung. Selten kommen sie in die kurdischen Gebiete, in denen die DEM und ihre Vorgängerin, die HDP, stetiger Repression und unfairen Wahlvorgehen ausgesetzt waren und sind. Erst im Dezember 2023 trat die DEM die Nachfolge der von einem Verbotsverfahren bedrohten HDP an. Das Verbotsverfahren ist Teil einer breiten Strategie der AKP-Regierung, oppositionelle Politiker:innen systematisch davon abzuhalten, Politik zu machen. Diese aktive Behinderung oppositioneller Kräfte hat seit der Machtübernahme der AKP stetig zugenommen.
Im Hotel Demir erzählen die Vertreter:innen der Frauenstruktur TJA, der lokalen Parteisektion der DEM und die beiden Co-Bürgermeisterkandidat:innen auf türkisch und kurdisch von der Bedeutung des kommenden Wahltages. Ein Jahr nach den Präsidentschaftswahlen sind die Kommunalwahlen ein wichtiges Ereignis für die Opposition. Von Ortsvorsteher:in bis Oberbürgermeister:in werden die Ämter neu besetzt. Bei den letzten Kommunalwahlen 2019 konnten die Oppositionskandidat:innen trotz Wahlmanipulationen grosse Erfolge erzielen, die linke HDP gewann viele kurdische Gemeinden. Durch die Ämter als Bürgermeister:innen und Ortsvorsteher:innen war es den HDP-Mitgliedern möglich, in den jeweiligen Städten und Regionen sowohl die soziale Sicherheit als auch die demokratische, politische Mitbestimmung der Bevölkerung zu stärken. Es folgte eine massive Repressionswelle. Wie schon 2016 setzte die AKP daraufhin eigene, regimetreue Leute als Zwangsverwalter:innen ein, sogenannte Cayuns. Gerade deshalb sind die Wahlen von sehr grosser Bedeutung, denn die DEM könnte dadurch die zwangsverwalteten Städte und Bezirke zurückerlangen und mit demokratischer Legitimität soziale Politik betreiben.

Wahltag, 31.März, 6 Uhr
Die verschiedenen unabhängigen Delegationen, welche die Nacht noch in Amêd verbracht hatten, machen sich zusammen mit Dolmetscher:innen und Fahrer:innen in den frühen Morgenstunden auf in die ihnen zugeteilten Ortschaften. Auf dem Weg fahren wir an unzähligen Militär- oder Polizeiwagen vorbei. Oftmals sind die Wagen für ungeübte Augen nicht zu unterscheiden: Denn auch die Polizei verfügt über massiv gepanzerte Fahrzeuge in verschiedenen Grössen, Farben und Ausstattungen. Auffallend sind jedoch insbesondere grössere Ansammlungen weisser Minibusse. Damit bestätigte sich, was bereits im Vorfeld vermutet wurde: Stimmtransfers. In der Türkei ist es möglich, Soldaten, die im Dienst sind, in anderen Provinzen zur Wahl zu registrieren. Vertreter:innen der DEM hatten uns in den Tagen zuvor erklärt, dass dieses Vorgehen bereits im September vorbereitet wurde. Gerade in jenen kurdischen Provinzen und Regionen, in denen die DEM nur knappe Mehrheiten hat, wurden hunderte bis tausende ortsfremde Soldaten neu registriert. Diese könnten mit ihrer Stimme für die AKP von Erdogan dann das Zünglein an der Waage spielen und die Wahlen entscheidend beeinflussen – so die Strategie. Diese Transfers seien zwar nicht neu, fänden dieses Jahr jedoch zum ersten Mal in solchem Ausmass, so zentral geplant und organisiert statt. Mehrere Gruppen aus unserer Delegation beobachten in verschiedenen Bezirken diese Transfers.

Egil/Sirnex, 31.März, 9.30 Uhr
In Egil können wir bereits in der ersten Schule, welche als Wahllokale dienen, zwei weisse Minibusse voller Soldaten vor dem Eingangstor ausmachen. Es scheint sehr plausibel, dass diese nicht in Egil oder der Umgebung wohnen, sondern im zuvor umregistriert wurden. Vor dem Hintergrund des direkten Einflusses der Kommunalwahlen für die lokale Bevölkerung zeigt sich umso mehr die Absurdität, dass externe, militarisierte Kraft über die Lebensgrundlagen der Bevölkerung vor Ort bestimmen sollen. Laut der DEM-Vertreterin, welche unsere Gruppe begleitet, waren es alleine in der kleinen Stadt Egil 1200 Soldaten, die neu registriert wurden. Ausser den Soldaten, welche meist zivil, seltener in Uniform unterwegs sind, sind Schulhof und Strassen leer; die Angst und Einschüchterung scheinen zu wirken. Die Bewohner:innen schleichen ruhig in die Schule und verlassen das Gelände direkt wieder.
Auch die Gruppe in Sirnex Stadt schickt Videos von einer ganzen Kolonne weisser Busse und Minivans voll mit zivilen Soldaten auf dem Weg in die Stadt. Ebenso erreichen uns Videos, die den repressiven Umgang mit Kritik in Sirnex zeigen. Vor den Wahllokalen versammeln sich kritische Stimmen aus der Bevölkerung, die lautstark auf die offensichtliche Manipulation aufmerksam machen. Die Polizei reagiert darauf in einem Fall mit Tränengas und einer Verhaftung. Wie sich am Abend zeigen wird, ging die Rechnung für die AKP in Sirnex auf: Hier verlor die DEM knapp. Die Siegesfeier der AKP/MHP- Anhänger:innen, welche dort am Sonntagabend bereits beginnt, war für unsere Gruppe vor Ort beängstigend. Plötzlich konnten sich Anhänger:innen der Grauen Wölfe auf den Strassen versammeln und der Vorsitzende, mit welchem wir am Tag noch bei Çay lange diskutierten, wurde direkt vor dem Parteibüro verhaftet.

Çermik, 31.März, 11 Uhr
Doch nicht nur die Abgeordneten der DEM, auch wir als Wahlbeobachter:innen sind an diesem Sonntag Repression ausgesetzt. Oft werden wir nicht in die Schulen eingelassen, kontrolliert oder sogar von der Polizei verfolgt. In Egil beispielsweise werden wir bereits an der ersten Schule abgewiesen. Weil wir in Egil nirgends eingelassen werden, gehen wir weiter nach Çermik. Dort können wir die erste Schule besuchen, werden aber direkt beim Verlassen abgefangen. Unsere Ausweise werden eingesammelt und fotografiert. Während der Kontrolle kommen stetig neue Polizist:innen und Soldaten hinzu: Wir zählen schlussendlich fünf Polizisten, einen Soldat, drei Zivilpolizisten inkl. des Polizeichefs (wie uns später mitgeteilt wurde) sowie ein Mitglied der TEM, die Anti-Terror-Einheit der Polizei. Sie alle markierten Präsenz, um uns mitzuteilen, dass wir ohne Akkreditierung des türkischen Staates die Schulen nicht betreten dürften und das Gelände umgehend zu verlassen hätten, was wir gezwungenermassen tun. Bei der nächsten Schule, die wir besuchen, stehen dann die gleichen Polizisten wieder da. Ausserdem werden wir beim Eintreten von einem mutmasslichen AKP-Mitglied auf Video festgehalten, der vor der Schule Wahlzettel verteilt. Er hat eine Bodycam installiert und nimmt nicht nur uns, sondern jede Person, die Wählen kommt, auf.

DEM-Parteizentrale, Amêd, 1.April, 14 Uhr: 
Am Montag nach den Wahlen treffen wir die Vertreter:innen der anderen Delegationen im Parteibüro der DEM und tauschen uns über Beobachtungen aus. Es wird klar: Die amtierenden Regierungsparteien AKP und MHP setzten alles daran, diese Wahlen zu gewinnen und scheuten nicht vor dem Einsatz der geballten Staatsmacht. Die Dreistigkeit der Regierung ist nicht überraschend, aber erschreckend. Eine Person stellte bestürzt fest: «Das ist nicht einfach Wahlbetrug einer Partei, sondern des kompletten Staates.»

Die Repression bleibt
Die Kommunalwahlen in der Türkei sind entschieden, unsere Aufgabe so weit erledigt. Erdogan muss wohl oder übel eine Niederlage eingestehen. Die grösste Oppositionspartei, die CHP, gewinnt sowohl in den grossen Städten Istanbul und Ankara sowie in den allermeisten Regionen der Westtürkei klar. In den Schlagzeilen aller grossen Medienhäuser ist von einer vermeintlichen Zeitenwende zu lesen.
Eine Zeitenwende stellen die Kommunalwahlen vom 31.März allemal dar. In den osttürkischen Regionen, in Nordkurdistan, konnte massive Wahlmanipulation in einem neuen Ausmass beobachtet und nachgewiesen werden. Die Regierung Erdogan gibt sich demokratisch, gesteht Fehler ein und beteuert, die Ergebnisse als Wille der Bevölkerung zu analysieren. Doch sie spielt ein doppeltes Spiel. Demokratische Fassade und brutale Unterdrückung, militärische Besatzungen und innere Kriegsführung gegen jegliche Bestrebung kurdischer Freiheitsbewegungen. Die Regionalwahlen vom 31.März und die undifferenzierte Berichterstattung bestätigen dieses doppelte Spiel. Während offizielle Wahlbeobachter:innen in den Grossstädten und den Provinzen der westlichen Türkei unterwegs waren und keine Unregelmässigkeiten beobachtet zu haben scheinen, zeichnen unsere Beobachtungen und die der anderen unabhängigen Wahlbeobachtungsdelegationen in Nordkurdistan ein Bild von Wahlbetrug, Einschüchterung, Repression und Intransparenz. Diese öffentlich zu machen und anzuprangern, ist jetzt zentral.

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