Der ungesehene Krieg
Am Anfang steht die Kritik. Die Kritik an der europäischen Öffentlichkeit, die ihren Blick zwar auf Rojava und die kurdische Bewegung gerichtet hatte, als sich deren Selbstverteidigungseinheiten erfolgreich gegen den IS behaupteten; dann aber schwiegen, als sich im Herbst 2015 ein neues Kampffeld auftat.
Nunmehr war es nicht mehr allein der «Islamische Staat», der Hunderttausende KurdInnen aus ihren Häusern vertrieb und Hunderte ZivilistInnen massakrierte, schändete und bei lebendigem Leibe verbrannte. Es waren nicht mehr Städte in Syrien, die unter militärischen Beschuss genommen, dem Erdboden gleichgemacht wurden. Und es waren nicht mehr religiöse FanatikerInnen, die von «Säuberung» sprachen, von Genozid, vom unbedingten Willen, den kurdischen Widerstand endgültig zu zerschlagen.
Es war (und ist) der türkische Staat, innerhalb der eigenen Landesgrenzen – im Südosten des Landes, in Nordkurdistan (Bakur) –, unter Führung des Staatspräsidenten, Recep Tayyip Erdogan, dem «Sultan», dem engen Partner der deutschen Bundesregierung, der Nato und der EU – das Schutzschild für Europa, in der gegenwärtigen «Flüchtlingskrise».
Es ist Krieg, und keiner schaut hin. Das ist die Kritik, die am Anfang steht, zu Beginn dieses Buches, in dem fünf deutsche, türkische und kurdischen AutorInnen mit zahlreichen Berichten, Reportagen, Gedächtnisprotokollen, Analysen und Interviews auf journalistisch-sachliche und persönlich-nahegehende Weise von jenen Ereignissen erzählen, die sonst ungesehen blieben.
Zwei Monate lang, im Januar und Februar 2016, reiste eine Recherchegruppe des Lower Class Magazines durch Nordkurdistan, besuchte die vom türkischen Staat belagerten Städte – die kurdischen Metropolen Diyarbak?r (Amed), Nusaybin und Cizre, das verhältnissmässig kleine aber strategisch wichtige Idil, die Städte Silopi und S?rnak , die als PKK-Hochburg geltende Grenzstadt Yüsekova (Gever) – und wurde Zeuge eines bewaffneten Konflikts, dessen Auslöser über tausend Kilometer weit entfernt und fast genau drei Jahre zurück liegt.
Es begann in Istanbul, im Sommer 2013, mit einer Handvoll UmweltaktivistInnen, die dagegen aufbegehrten, dass der Gezi-Park einem Einkaufszentrum weichen sollte. Die unverhohlene Gewalt, die der türkische Staat gegen diesen Protest an den Tag legte, entfesselte eine unvorhergesehene Dynamik: Aus einer kleinen Widerstandsbewegung wurde innerhalb von wenigen Tagen ein Volksaufstand, an dem sich insgesamt mehr als 8 Millionen Menschen beteiligten. «Was bis dahin sehr gut funktioniert hatte, brach wie ein Kartenhäuschen in sich zusammen und die Opposition gegen die zunehmende Repression, den zunehmenden Autoraritismus und die zunehmenden materiellen Nöte (…) brach die Mauer der Angst und schlug geballt zu», schreibt Alp Kayserilioglu im Rückblick auf die Geschehnisse von damals.
Der Weg zur Autonomie
Mit dem Gezi-Aufstand war auch die «Isolationsmauer um die kurdische Bewegung» gefallen. «Die Akzeptanz für die demokratischen Anliegen der KurdInnen war gestiegen, das Ansehen der AKP schwer angeschlagen», eine Entwicklung, die sich in der darauffolgenden Zeit, etwa mit der Erstarkung der pro-kurdischen Partei HDP, weiter fortsetzte.
Das, und die erfolgreichen Kämpfe der Volksverteidigungseinheiten YPG gegen den IS in Syrien, stärkte das Selbstbewusstsein der Bewegung in der Türkei und führte mit dazu, dass sich die KurdInnen – nach dem Bombenanschlag auf die HDP-Wahlveranstaltung in Diyarbakir, nach dem Attentat des IS auf sozialistische Jugendliche in Suruç, nach den darauf folgenden türkischen Luftangriffen auf kurdische Stellungen in Syrien und den flächendeckenden Razzien gegen vermeintliche AnhängerInnen von «Terrororganisationen», womit vorwiegend die PKK gemeint war, in der Türkei – vielerorts vom Staat lossagten.
Bis Ende August 2015 wurde in «mindestens 16 Städten und/oder Stadtbezirken» die Autonomie ausgerufen. «Die Autonomieerklärung war hierbei nicht als Kriegserklärung gedacht. Sie ist einfach eine logische Konsequenz», wie der linke Rechtsanwalt Tamer Dogan in einem Interview vom September 2015 erläutert.
Erdogan sah das anders. Am 4. September 2015 wurde über Cizre, «zwecks ‹Säuberung der Stadt von Mitgliedern der separatistischen Terrororganisation› (gemeint ist die PKK)», die erste, achttägige Ausgangssperre verhängt. Auf Cizre folgten andere. Bis im Frühjahr 2016 verzeichnete die «Türkische Menschenrechtsstiftung» (TIHV) 65 Ausgangssperren; die längste in Sur, der Altstadt von Diyarbakir, mit über 140 Tagen.
Was die Recherchegruppe auf ihrer Reise durch Nordkurdistan unter dem Begriff «Ausgangssperre» antraf, war ein Belagerungszustand. Die Versorgung der abgeriegelten Gebiete war fast gänzlich unterbrochen worden, die Wasserleitungen gekappt oder verseucht und Hilfsgüter wurden nicht durchgelassen. Ärzten, die Verletzten Hilfe leisten wollten, wurde mit dem Tod gedroht. Zehntausende Polizeieinheiten, Militärs und Sondereinsatzkommandos kontrollierten die Städte, in die sie mit Panzer einmarschiert waren. Scharfschützen schossen zu den Sperrzeiten auf alles, was sich bewegte, selbst auf Kinder. Ganze Stadtteile wurden unter Artilleriebeschuss genommen. «Nur die Luftwaffe fehlt (noch)», ist in einem Beitrag von Alp Kayserilioglu vom Februar 2015 zu lesen.
Hinter den Barrikaden
Doch wo Angriff ist, ist auch Widerstand: Von Diyarbak?r bis Yüsekova trafen die JournalistInnen auf Menschen, die sich hinter Gräben und Barrikaden zur YPS, zu Zivilverteidigungseinheiten, zusammengeschlossen hatten, um die Aggression des türkischen Staates abzuwehren. Es sind vornehmlich Jugendliche, die in der Stadt aufgewachsen sind, jeden Winkel kennen und sich, im Kampf gegen die Belagerungskräfte, zur Guerilla an der Waffe ausgebildet haben. «Jeder Angriff war für die Jugendlichen eine Art Erziehung (…). Die Menschen lernten, indem sie kämpften. (…) Das ist die organisierte Antwort auf die Situation, in der wir uns befinden», erklärt YPS-Kämpfer Semsettin Ertan in einem Interview mit Peter Schaber.
Doch diese «Situation», auch das wird deutlich, ging und geht weit über die Belagerungen hinaus. Was die Menschen im Südosten der Türkei antreibt, ist– nicht anders als in Rojava und in den Kandil-Gebirgen, dem Stützpunkt der PKK, wo die Recherchereise endet – der Wille für einen «demokratischen Konföderalismus», für Selbstbestimmung und Selbstverwaltung – oder, wie es in Schabers Notizen heisst – für ein Lebensgefühl «in dem man den Anderen nicht mehr als Schranke und Begrenzung seiner selbst wahrnimmt, sondern unter Menschen Mensch wird».
Lower Class Magazine (Hg.): Hinter den Barrikaden. Edition Assemblage, 2016, 184 Seiten, ca. 15 Franken