50 Jahre Unabhängigkeit und Frieden

Der Veteran Tran Van Thanh mit seinem Motorrad auf dem Weg in den Süden.

Marius Käch. Vor einem halben Jahrhundert wurde Saigon befreit und damit Vietnam wieder vereint. Der Sieg über den US-Imperialismus beendete einen der grausamsten Kriege des 20.Jahrhunderts. Heute gedenkt Vietnam seiner Opfer, ehrt seine Held:innen und feiert den Frieden.

«Hier ist der Rundfunk der Stimme Vietnams mit einer Eilmeldung. Um 11.30 Uhr heute Morgen haben unsere bewaffneten revolutionären Kräfte Saigon vollständig befreit. Die Fahne der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams weht nun über dem Palast der Unabhängigkeit!», so die Meldung zum Sieg am 30.April 1975.

Der Beginn einer neuen Ära
Vor 50 Jahren schloss sich ein blutiges Kapitel: Das Ende der politischen Unterdrückung, der Folter, der Ermordungen und der unmenschlichen Kriegsverbrechen durch die imperialistischen Aggressor:innen und deren Marionettenregimes war besiegelt. Über 4,7 Millionen Tote in Vietnam, Laos und Kambodscha, mehr als 7,5 Millionen Tonnen Bomben und Granaten sowie über 80 Millionen Liter chemischer Waffen wie Agent Orange – so lautete die grausame Bilanz des Vernichtungskrieges. Rund 20?Prozent der Fläche Südvietnams wurden durch Kampfstoffe verseucht, das Land in vielen Regionen «in die Steinzeit zurückgebombt», wie es das US-Militär stolz verkündete.
Doch mit der Befreiung Saigons und der Wiedervereinigung in der Sozialistischen Republik Vietnam begann der grosse Wiederaufbau. Wie der Generalsekretär der KP Vietnams, To Lam, in seiner Rede zur Parade betonte: «Nach 30 Jahren des entschlossenen Kampfes für Unabhängigkeit, Freiheit und die Wiedervereinigung unserer Heimat wurde ein über ein Jahrhundert andauerndes Zeitalter kolonialer und neokolonialer Fremdherrschaft beendet. Und das Land wurde in eine neue Ära geführt – eine Ära nationaler Unabhängigkeit und des Sozialismus.»

Eine Feier wie nie zuvor
Seit jeher wird dieser Sieg im ganzen Land gefeiert, doch das diesjährige Jubiläum stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten. Sämtliche Flugzeuge, Züge und Busse nach Ho-Chi-Minh-Stadt, dem neuen Namen von Saigon, sowie alle Hotels vor Ort waren ausgebucht. Hunderttausende aus dem ganzen Land kamen zum «Konzert der Nation».
Familien mit Kindern, hochdekorierte revolutionäre
Veteranen – stolz in Uniform, gezeichnet vom Alter und nicht selten vom Krieg – strömten zu den Feierlichkeiten mit dutzenden Feuerwerken, einer 10500 Stücke umfassenden Drohnenshow, Theatern, gemeinsamem Singen und Tanzen sowie der Parade mit mehr als 13000 Soldat:innen, Künstler:innen und der Luftwaffe.
Auf den Zuschauertribünen befanden sich Vertreter:in-nen aus befreundeten und sozialistischen Ländern wie Kuba, Laos, Kambodscha und China. Die letzteren drei sandten im Zeichen von Freundschaft und Stabilität in der Region sogar Militärdelegationen, die bei der Parade mitmarschierten.
US-Diplomat:innen suchte man vergebens, dafür waren langjährige Freunde aus der Antikriegs- und Solidaritätsbewegung sowie kommunistischen Parteien aus aller Welt zu Gast. Darunter auch Anjuska Weil, Präsidentin der Vereinigung Schweiz–Vietnam und Ehrenpräsidentin der Partei der Arbeit Zürich.

Überall erklingt der Sieg
Die Feierstimmung erstreckte sich über das ganze Land. In Stadt und Land schmückten Familien ihre Häuser und Balkone. Überall wurden Gassen und Strassen von Anwohner:innen dekoriert, Fahnen gehisst, Banner aufgehängt und Propagandaplakate mit den wichtigsten Schlagwörtern des Sieges angebracht: Unabhängigkeit, Freiheit – und vor allem Frieden. Auch Cafés und Läden leisteten ihren kleinen Beitrag, indem sie thematische Spezialitäten verkauften, wie Kaffee mit Hammer-und-Sichel-Motiv, oder mit revolutionären Dekorationen zum Fotografieren einluden. Die sozialen Medien explodierten förmlich: Videos von spontanen, selbstorganisierten Märschen auf Dorfmärkten, Veteranen, die ihre Geschichten teilten, und kreative Selbstinszenierungen der Jugend wurden zum Massenphänomen.
Gerade für Jugendliche sind Bilder eine Form der Aufarbeitung und der sichtbaren Solidarität mit der Revolution ihres Landes. Kollektiv wurden Museen, Gedenkstätten oder aufwendig dekorierte Orte besucht, um sich an den Krieg zu erinnern und gemeinsame Fotos mit kämpferischen Posen zu machen – unterlegt mit Liedern der Befreiungsfront oder des Jugendverbands – gerne auch als Technoremix.

Eine Reise für die Gefallenen
Bewegen tun aber die einzelnen Geschichten und Schicksale. Dazu gehört etwa die Reise des 76-jährigen revolutionären Veteranen Tran Van Thanh. Um seiner Kameraden zu gedenken, die es nicht geschafft haben, machte er sich am 17.April von seiner nördlichen Heimat in Nghê An aus auf den Weg zur Parade in den Süden. Seine Familie wollte ihn aus Sorge um seine Gesundheit nicht ziehen lassen. Doch er schlich sich in einer Nacht-und-Nebelaktion aus dem Haus mit seinem alten Moped, «bewaffnete» sich mit ein paar Decken, einem Reiskocher, seiner Fahne, einem Kasten Bier – und fuhr los. Die rund 1400 Kilometer lange Reise war für ihn ein Symbol, um all der Toten zu gedenken – und um mit eigenen Augen die Modernisierung und Wiederherstellung des Landes zu sehen, für das er gekämpft hatte.
War für ihn dieser Weg in seiner Jugend als Soldat gesäumt von Tod, Kugeln und Granaten, so wurde er nun in den Dörfern mit Freude als Held empfangen, als Symbol der Versöhnung. Standen sich früher Feinde gegenüber, so sind es heute Menschen, die zu Freunden wurden. Jahrzehnte des Aufbaus nach der Befreiung und die Vision einer besseren Gesellschaft haben geholfen, das Volk nach Unterdrückung und Krieg wieder brüderlich zu vereinen.
Der Autor lebt zurzeit in Vietnam.

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