Patriarchale Verbrechen

Branka Goldstein. Der Aufschwung der Frauenbewegung in den letzten Jahrzehnten brachte armutsbetroffenen Frauen wenig – in der patriarchalen Leistungsgesellschaft bleiben sie auf der Strecke. Ein Bericht zur Sozialapartheid, zu patriarchaler Gewalt und erniedrigender Sozialarbeit – von erwerbstätigen Frauen.

Ada rief mich an, ihre Stimme zitterte, stockte, sie weinte: «Ich habe überhaupt nichts mehr, auch nichts mehr zu essen für meine Kinder und die Sozialarbeiterin will mir meine Kinder wegnehmen, weil ich keine Wohnung finde …» Was war geschehen? Ada lebte mit ihren beiden Söhnen in einer völlig vergammelten kleinen Notwohnung der Sozialhilfe in einem fremdenfeindlichen Dörfchen im Kanton Aargau. Sie hatte kein Geld auf dem Natel: Nur ein kurzer Anruf – ein Hilferuf. Am nächsten Tag rief ich sie zurück. Völlig verdutzt fragte sie, weshalb ich telefoniere. Ich war platt und verwies auf ihren Anruf. «Tatsächlich, ein Rückruf? Noch nie habe sich jemand darum gekümmert, wenn ich in Not war …» Ich teilte ihr mit, dass sie sofort Besuch von uns bekäme, und bat sie, alle amtlichen Papiere parat zu machen.
Eine abgekämpfte verzweifelte Frau öffnete die zerbeulte Tür. Fein säuberlich geordnet lagen alle Papiere auf ihrem Bett. Alles was sie erzählte, war durch die Papiere belegt. Sie entschuldigte sich, weil es so kalt in der Wohnung war, nur stundenweise funktioniere die Heizung, der Winter drang durch die Ritzen. Im winzigen Badezimmer lag Wäsche, es war ihr peinlich. Sie dürfe die Waschmaschine der Hausbesitzerin nicht brauchen, aber im Moment sei sie zu krank, alles im winzigen Lavabo mit kaltem Wasser zu waschen. Sie zeigte den leeren Kühlschrank, auf dem Herd stand eine Pfanne mit Suppe. Unser langer, gemeinsamer Weg begann.

In Ketten gelegt
Adas Biografie ist gekennzeichnet durch patriarchale Gewalt: Sie wurde in Sargans geboren und wuchs mit ihren fünf Geschwistern in einer 4-Zimmerwohnung auf. Seit frühester Kindheit wurde sie mit Schlägen des Vaters traktiert. Oft hungerte sie, weil die Mädchen meist nur Wassersuppe bekamen. Nur die Jungs bekamen Fleisch. In der Schule verbarg sie die Striemen auf ihrem Rücken. War der Vater besonders zornig, sperrte die Mutter die Mädchen zu ihrem Schutz im Zimmer ein, damit er sie nicht totschlug. Mit 15 Jahren musste sie in die Fabrik und den ganzen Lohn abgeben.
Die Mädchen wurden mit Ketten an den Heizkörper angebunden, damit sie nicht abhauten, als die Eltern die Zwangsheirat vorbereiteten. Ada wehrte sich vehement, einen fremden, viel älteren Mann zu heiraten. Darauf packte sie der Vater, warf sie zu Boden, legte sich auf sie und würgte sie, bis sie ohnmächtig wurde.
Wenig später wurde sie zwangsverheiratet. Durch miese Tricks der Familie wurde sie in die Türkei verfrachtet. Aus dieser Ehe entstanden ihre beiden Söhne. Die Ehe war die Hölle. Trotz tödlichen Drohungen und Kindsentführung setzte sie in der Schweiz die Scheidung durch, während sie mit ihren Buben schwer misshandelt durch ihren Gemahl im Frauenhaus war. All ihr Erspartes hatte ihr Mann noch vor der Scheidung verprasst. Sie wurde sozialhilfeabhängig. Sie bat ihre Eltern, um finanzielle Unterstützung. Der Vater schrie, sie solle sich unter den Zug werfen, die Mutter, sie solle wieder zu ihrem Mann …

Frauensolidarität statt Kindswegnahme
Die Sozialarbeiterin drohte ihr, die Söhne wegzunehmen und sie getrennt in verschiedene Kinderheime zu versorgen. Was war geschehen? Die Zeit der Unterbringung der Familie in der Notwohnung war vorbei. Für das wenige Geld des Sozialamts fand sie keine Wohnung. Sie wurde aus unerfindlichen Gründen vom Sozialamt sanktioniert. Wie sollte sie eine Wohnung suchen – ohne Geld für die Zeitung mit den Inseraten, ohne Guthaben auf dem Natel?
Nachdem wir ihr finanzielles Überleben gesichert hatten, fing einerseits unser Rechtsdienst – die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht – an, die Sanktionen erfolgreich anzufechten. Anderseits besorgten wir ihr eine Wohnung durch das Wohnprojekt der IG Sozialhilfe im Kanton Zürich. So verhinderten wir die Kindswegnahme: Frauensolidarität statt Kindswegnahme! Diese Sozialarbeiterin funktionierte als Rädchen in der patriarchalen Leistungsgesellschaft und entwürdigte sie, wo immer es nur möglich war: Sie kontrollierte selbst ihre Einkäufe im Dorfladen.
Ada geht es gesundheitlich schlecht, sie durfte keinen Beruf erlernen, sodass es ihr seit Jahren unmöglich ist, eine Erwerbsarbeit zu finden. Sie ist gezwungen, in Armut vom Sozialamt zu leben. Panikattacken begleiten sie Tag und Nacht; sie hat Angst, allein das Haus zu verlassen. Ihr einziger Stolz sind ihre Söhne, die mittlerweile eine Berufslehre absolvieren.

Sexuelle Belästigung
Als Sozialhilfeabhängige wird sie gezwungen, für 100 Franken Integrationszulage im Monat 50 Prozent zu arbeiten. Die Zwangsarbeitsprojekte, genannt Integrationsprojekte, in welchen sie arbeitet, werden vom «Hilfswerk» HEKS getragen. Immer wieder reklamierte sie, dass sie aufs Übelste von den Männern im Betrieb angemacht werde. Ihre HEKS-Betreuerin glaubte ihr nicht, sondern drohte ihr, dass sie die Sozialhilfe verliere. Auf ihr Drängen wurde sie in ein Pflegeheim versetzt: Kurze Zeit später erhielt sie von ihrem Chef regelmässig obszöne SMS. Als sie nicht reagierte, fing er an, sie zu stalken. Sie versank in einer schweren Depression. Dann wurde sie an eine Bibliothek weitervermittelt. Ihr Chef nötigte sie, ihn nach der Arbeit zu treffen. Er prahlte, dass er reich sei und sie nicht mehr auf das Sozialamt gehen müsse, wenn sie zu ihm käme. Die Auseinandersetzungen spitzten sich an der dritten Zwangsarbeitsstelle zu und ihre «Betreuerin» vom HEKS wusste nichts Besseres zu sagen als: Sie solle sich doch freuen, dass Männer Interesse an ihr hätten. Einmal mehr eine Frau, die ihre patriarchale Macht auslebt.
Adas grösster Wunsch ist endlich wieder normal erwerbstätig zu sein. Doch die Fabriken sind ausgelagert. Gerne würde sie etwas lernen. Aber niemand finanziert dies. Um Kosten zu sparen, will die Sozialarbeiterin sie an die IV überweisen. Doch durch die restriktiven IV-Reformen hat sie trotz erheblicher psychischer und physischer Leiden kaum eine Chance, berentet zu werden. Sie ist krank und verzweifelt: Vor wenigen Tagen fragte sie mich: «Wohin wollen sie mich entsorgen?»

Die IG Sozialhilfe unterstützt und begleitet armutsbetroffene Frauen mit extremen Schicksalen. Gerade auch für diese schwer misshandelte Frau brauchen wir dringend Spenden. Spenden an: IG Sozialhilfe, 8032 Zürich, PC 80-47672-7

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