Kein Recht für verletzte Demonstrantin
Im Fall der jungen Frau, die an der Tanzdemonstration in Winterthur vom 21. September 2013 am Auge schwer verletzt wurde, wird es zu keinem Prozess kommen. Das hat das Zürcher Obergericht am 1. Juni entschieden. Die Weste der Polizei ist damit reingewaschen.
Was lange währt, wird endlich gut, besagt ein Sprichwort. Für die junge Frau, die vor rund drei Jahren an der Tanzdemonstration in Winterthur ein Teil ihres Augenlichts verloren hat, trifft dies allerdings nicht zu. Die Justiz will sich der Klärung des Falls nicht annehmen. So hat es das Zürcher Obergericht hat am 1. Juni entschieden. Die Beweislage sei zu dünn, heisst es. Somit bleibt der jungen Frau das Recht auf die Aufarbeitung der Umstände, die zu ihrer Teilerblindung geführt haben – «Gummischrot mögliche Ursache», heisst es im Arztbericht – verwehrt. Die Polizei wird sich für ihr massives Vorgehen in Winterthur wohl nie verantworten müssen.
Verheerender Polizeikessel
Es war der 21. September 2013, als die Dinge ihren Lauf nahmen. Mehrere hundert Personen waren an jenem Abend dem Aufruf gefolgt, um im Rahmen einer Tanzdemonstration unter dem Titel «StandortFUCKtor» auf die Strasse zu gehen und «tanzend ein Zeichen gegen die massiven Einschränkungen im öffentlichen Raum» zu setzen. Was dann geschah, «hinterliess die TeilnehmerInnen in einer erschütterter Fassungslosigkeit», schreiben Betroffene und VertreterInnen von Antirep Winterhtur in einer Mitteilung vom 4. Juli 2016, in der sie die Geschehnisse rund um die Demonstration Revue passieren lassen.
«Der Abend begann am Bahnhofsplatz, eingezäunt mit Absperrgittern in jede Richtung. Ein Grossaufgebot an Polizei in Kampfmontur, Kasten- und Gitterwagen und Wasserwerfer empfingen die Teilnehmenden», schreiben die Betroffenen. «Von Anfang an sollte die Veranstaltung offenbar im Keim erstickt werden. Dabei scheute sich die Stadt nicht, mit massiver Gewalt vorzudringen und
Verletzte in Kauf zu nehmen. Es ging um das Statuieren eines politischen Exempels, das mit allen Mitteln durchgesetzt werden sollte», heisst es weiter.
Kurz nachdem sich der Demonstrationszug in Bewegung setzte, endete er im Kessel: Die Menge sei «mit dem Wasserwerfer wie eine Vieherde in die schmale Gasse zwischen Salzhaus und Theater am Gleis gedrängt und von dort aus mit Gummischrot, Reizstoff-Granaten und Pfefferspray beschossen» worden, erinnern sich die damaligen DemonstrantInnen. Die PolizistInnen hätten dabei «von beiden Seiten des Kessels auf Kopfhöhe» Gummischrot abgefeuert. Mehrere Personen wurden dabei verletzt. Unter ihnen die damals 19-jährige Frau, die seit jenem Abend auf einem Auge fast blind ist.
Urteile gegen DemonstrantInnen
Im Nachgang zur Demonstration reichte die verletzte Frau eine Anzeige aufgrund schwerer Körperverletzung und Amtsmissbrauch ein. Doch bereits von Beginn weg wurde versucht, ein allfälliges juristisches Aufarbeiten des Polizeieinsatzes zu verhindern. So fertigte ein Zuständiger der Zürcher Stadtpolizei, die mit der Voruntersuchung betraut war, einen umfassenden Bericht an, in dem dargelegt wurde, dass von einer Untersuchung abzusehen sei. Die Geschädigte intervenierte daraufhin vor dem Obergericht und erhielt Recht. Die Untersuchung wurde eingeleitet.
Doch während gegen die TeilnehmerInnen des Tanzumzugs eine Strafe nach der anderen ausgesprochen wurde, verlief die Untersuchung im Fall der verletzten Frau – auch ihr wurde eine Busse von 1000 Franken aufgrund der Teilnahme an der unbewilligten Demonstration zugestellt – harzig. Zweimal wurde das Verfahren durch den Staatsanwalt eingestellt. Beide Male erhob die Geschädigte Einsprache. Die letzte Beschwerde verlief erfolglos.
Überhörte Zeugenaussagen
Der Betroffenen hätten sich zahlreiche fragwürdige Hindernisse in den Weg gestellt, «in einem Verfahren, in der ein Polizeikorps das andere untersuchen soll und fast ausschliesslich Beweismaterial verwendet wurde, welches die Polizei, gegen die das Verfahren lief, zur Verfügung stellte», kritisieren die AktivistInnen. Das Videomaterial, das durch die «Sicherheitskräfte» vorgelegt wurde, reiche nicht zur Einleitung eines Strafverfahrens, entschied das Obergericht.
Es hätte weiteres Filmmaterial existiert, das sich für die Geschädigte als unterstützend hätte erweisen können. So hatte das SRF die junge Frau möglicherweise zum Zeitpunkt ihrer Verletzung gefilmt. Diese Aufnahmen hielt das Fernsehen in der laufenden Untersuchung allerdings unter Verschluss, mit der Begründung «als Fernsehanstalt sei man der Neutralität verpflichtet».
Das Obergericht kam somit zum Schluss, ein Schirm oder Ellenbogen wären ein wahrscheinlicherer Grund für die Verletzung der Frau, als ein Gummigeschoss. Dies, obwohl eine Reporterin des SRF, zusammen mit weiteren ZeugInnen, aussagte, dass sich in der unmittelbaren Nähe der verletzten Frau keine weitere Person befand und die Polizei unbestrittenermassen zu diesem Zeitpunkt Gummischrot einsetzte.
Mit der Entscheidung des Obergerichts steht nun aber fest: Es wird keinen Prozess geben. Vor Bundesgericht will die junge Frau nicht ziehen. Die AktivistInnen machen indes klar: «Alle, die an jenem Samstagabend im Kessel waren, wissen, wie es wirklich war.»