«Ich kann bald nicht mehr!»

flo. Der Arbeitstag ist zu lang, die Personaldecke hingegen zu dünn: Massenhafte und systematische Verstösse gegen das Arbeitsrecht sind vor kurzem bei Coop bekannt geworden. Es ist nur die Spitze des Eisbergs. Der Branche geht es schlecht und die Chefetagen geben den Druck an die Arbeiter*innen weiter.

Verstösse gegen das Arbeitsrechts sind in manchen Branchen nicht Ausnahme, sondern Regel. Dass es so auch im Detailhandel steht, zeigt nun ein publik gewordenes internes Dokument von Coop. Im letzten November wurden alleine in der Region Bern beim Grossverteiler 475 Verstösse gegen das Arbeitsrecht festgestellt. Für die Arbeiter*innen bedeutet dies konkret die Nichteinhaltung von Höchstarbeitszeiten, Ruhezeiten, die nicht wahrgenommen werden können, Tage bei denen zwischen Arbeitsanfang und Feierabend gerne mal 14 Stunden vergehen können.

Rechtsbruch mit System
Dass es um die Arbeitsbedingungen im Detailhandel deprimierend bestellt ist, bestätigt dem vorwärts auch die Verkäuferin Ursina, die im Kanton Zürich bei Denner arbeitet: «Der häufigste Satz, den ich in den Pausen von meinen Kolleginnen gehört habe war: ‹ich kann bald nicht mehr›.» Ihre Mitarbeiterinnen seien psychisch und körperlich am Limit gewesen. Und: «Dass alle 14 Stunden am Tag herumrennen müssen, wird dabei von Oben weder gesehen noch gewürdigt.»
Zwar ist die Branche mit 240000 Angestellten, die Mehrheit davon Frauen*, die drittgrösste des Landes doch laut einer Studie des interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung der Universität Bern, stellen vor allem die Verlängerung der Arbeitszeiten über die Flexibilisierung bei den Öffnungszeiten bei gleichzeitigem Personalabbau Probleme dar. In dieser Situa-tion müssen Angestellte auch bei Teilzeitanstellung de facto Vollzeit zur Verfügung stehen. Das hat auch Denner-Verkäuferin Ursina so erlebt: «Im Sommer fielen gleich zwei Kolleginnen, die Vollzeit arbeiten, aus. Damals musste ich 100 bis 120 Prozent arbeiten, dabei bin ich für 40 Prozent angestellt.»

Krank zur Arbeit, die krank macht
In solchen Situationen würde laut der Denner-Mitarbeiterin die Gesundheit der Mitarbeiter*innen, die zur Arbeit gehen, zusätzlich gefordert. Nicht nur wegen der langen Arbeitszeiten: «Mehrere Kolleginnen konnten in diesen Wochen zum Beispiel nicht zum Arzt, weil die Zeit fehlte.» Zusätzlich würden viele aus Solidarität auch krank arbeiten gehen, da sonst die anderen Angestellten ihr Pensum übernehmen müssten. Ein Teufelskreis: Um das Pensum der erkrankten Kolleg*innen aufzufangen, müssen viele in einem Ausmass arbeiten, das selber krank macht. Besonders pikant daran: Laut Arbeitsrecht haftet eigentlich das Unternehmen dafür, wenn Angestellte durch Arbeitsstress krank werden. Zum Beispiel, wenn – in vielen Detailhandelsbetrieben gang und gäbe – kein Ersatz für Ausfälle durch Krankheit vom Betrieb organisiert werden.

Knautschzone Belegschaft
Die schlechten Arbeitsbedingungen finden ihren Ursprung in der gegenwärtigen ökonomischen Situation. Während Ungleichheit und Armut in der Schweiz grösser werden, verschärft sich der Konkurrenzkampf innerhalb des Kapitals, wo ein harter Wettbewerb um die bei vielen kleiner werdende Kaufkraft stattfindet. Dass seitens des Kapitals politisch Druck gemacht wurde, möglichst lange offen haben zu können, ist ebenso Ausdruck dieser Entwicklung wie der Abbau von Personal, um Kosten zu sparen. Durch das hohe Preisniveau sind Schweizer Detailhändler tendenziell schon anfällig auf günstigere Konkurrenz aus dem Ausland. Ausbaden müssen das die Angestellten. Es muss immer schneller gearbeitet werden, gleichzeitig mehr Aufgaben übernommen werden und was dann eben liegen bleibt, muss nach Ladenschluss abgearbeitet werden. Viele Arbeiter*innen in der Branche sind den Prekarisierungen ausgeliefert, wie Ursina dem vorwärts erklärt: «Die Frauen, mit denen ich arbeitete, waren aus unterschiedlichen Gründen auf diesen Job angewiesen. Vor allem fehlende Alternativen, da sie alle keine ‹richtige› Lehre oder Ausbildung abgeschlossen haben.»

Gewerkschaft und Linke in die Offensive!
Die Situation für die Arbeiter*innen in der Branche ist miserabel und Aussicht auf Besserung besteht aktuell nicht. Dass der bürgerliche Staat die Aufgabe wahrnimmt, die Umsetzung des Arbeitsrechtes auch durchzusetzen, ist derweil nicht zu erwarten. Dafür wären die kantonalen Arbeitsinspektorate verantwortlich. Diese arbeiten ebenfalls mit viel zu dünner Personaldecke. Mit einer Handvoll Stellen müssen sie zehntausende Betriebe kontrollieren. Der bürgerliche Staat hat dabei gar kein Interesse, allzu genau hinzuschauen, wo die Parlamente doch von den Steigbügelhalter*innen des Kapitals dominiert werden. Für die Angestellten bedeutet dies, einen Job zu habne, der nicht nur missbräuchliche Arbeitsbedingungen hat, sondern auch krankmacht, dem sich aber viele nicht entziehen können, weil sie auf die Stelle angewiesen sind. Was es braucht, damit die Situation sich bessert, ist für Ursina jedenfalls klar: «Dringend nötig ist ein verbindlicher GAV für die ganze Branche. Und viel mehr Aufklärungsarbeit bei den Mitarbeitenden, die oft nicht wissen, dass es Möglichkeiten gibt, sich zu wehren.» Damit ständen die Gewerkschaften in der Pflicht. Der Detailhandel wurde von den Vertretungen der Arbeiter*innenschaft hierzulande aber viel zu lange mit viel zu viel Gleichgültigkeit behandelt. Dabei wäre es elementar, dass sich etwas in der Branche tut. Wenn nötig eben auch mit dem Mittel des Streiks. Am Frauen*streik haben in Bern Verkäuferinnen den Anfang gemacht: Sie organisierten Walkouts und liessen ihre Arbeit liegen.

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