Temer und Rousseff
Amy Goodman. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wurde letztes Jahr durch einen parlamentarischen Putsch entmachtet. Ihre GegnerInnen versuchten, sich so den Ermittlungen wegen Korruption zu entziehen. Ein Gespräch mit der abgesetzten Präsidentin.
Letztes Jahr wurden Sie aus dem PräsidentInnenamt enthoben. Wie und weshalb ist das geschehen?
Dilma Rousseff: Meine Absetzung als Präsidentin erfolgte durch einen Staatsstreich, da meinerseits keine Verbrechen und kein Fehlverhalten vorlagen. Drei Gründe waren ausschlaggebend: Erstens hatte es mit Frauenfeindlichkeit zu tun. Zum ersten Mal wurde in Brasilien eine Frau Präsidentin. In der Politik werden Frauen und Männer unterschiedlich wahrgenommen: Frauen sind schroff und gefühllos; Männer sind stark und einfühlsam. Hart arbeitende Frauen werden als obsessiv betrachtet, während Männer einfach harte Arbeiter sind. Alle Mittel, um eine Frau anzugreifen, wurden gegen mich mobilisiert – neben vielen unschönen Worten. Zweitens versuchten die PutschistInnen vom konservativen PMDB und sozialdemokratischen PSDB, die strafrechtlichen Untersuchungen wegen Korruption von sich fernzuhalten. Drittens hat unsere ArbeiterInnenpartei PT vier Wahlen hintereinander gewonnen mit einem Programm, das sich klar gegen die Ungleichheit in der Gesellschaft richtete. Die Ungleichheit ist ein sehr altes Problem in Brasilien. Wir waren das letzte Land in Amerika, das die Sklaverei abschaffte. Und die SklavInnen bekamen nichts. Die Situation in der Sklaverei wurde dadurch weitergeführt. Und es hat mit der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu tun. Armut hat in Brasilien ein Gesicht: Es ist weiblich und schwarz.
Unsere Regierung hat wichtige Errungenschaften erzielt: Wir haben 86 Millionen Menschen aus der extremen Armut gehoben. Wir verkaufen unser Land nicht mehr einfach an ausländische Inves-torInnen. Und vor allem haben wir eine komplette Struktur des sozialen Schutzes errichtet. Unser Programm stärkte die sozialen Rechte und die ArbeiterInnen und das mussten die PutschistInnen stoppen. Das konnten sie nicht mittels Wahlen erreichen, also haben sie es durch das Amtsenthebungsverfahren gemacht.
Was sind Ihre Gedanken zu Eduardo Cunha, der die Anklage gegen Sie geführt hat und dem nun selber 15 Jahre Gefängnis wegen Korruption bevorstehen?
Was ich betrüblich finde, ist, dass alle Beweise, die zu seiner Verurteilung führten, der Justiz bereits vor meiner Absetzung vorlagen. Er ist aber nicht nur eine Person. Er repräsentiert einen sehr gefährlichen Prozess in Brasilien. Cunha ist ein Ultrakonservativer bezüglich der sozialen Rechte, er ist homophob und hat absurde Vorurteile gegenüber Frauen. Er hat die politische Mitte weit nach rechts verschoben. Dass er nun im Gefängnis sitzt, bedeutet nicht, dass die politische Praxis, für die er steht, erledigt ist. Im Gegenteil, Leute wie er sind in der Regierung.
Gegen viele wichtige PolitikerInnen, darunter einen Drittel vom Kabinett des jetzigen Präsidenten Temer, laufen Korruptionsverfahren. Glauben Sie, dass Sie abgesetzt wurden, um die Untersuchungen zu stoppen?
Ich bin nicht die einzige, die das glaubt. Die Medien haben ein Gespräch zweier Senatoren veröffentlicht, in dem wörtlich gesagt wurde: «Wir müssen sie entfernen mit einem nationalen Bündnis, um zu verhindern, dass uns die Untersuchungen erreichen.» Sie haben die Wahlen gegen uns immer verloren, also mussten sie einen Putsch durchführen. Sie wollten Brasilien wirtschaftlich, sozial und politisch neoliberal machen, wir haben das immer blockiert. Sie haben die Amtsenthebung unterstützt, weil sie ihr Programm nicht über demokratische Mittel erreichen konnten. Also mussten sie die Demokratie aushebeln. Es lag kein grösseres Vergehen von mir vor. Die Vorwürfe drehen sich um drei Dekrete im Umfang von 0,15 Prozent der Primärausgaben des Budgets. Ich habe eine Überweisung für ein Hilfsprogramm an BäuerInnen budgetär zurückgelegt, was in Brasilien seit 1994 gemacht wurde.
Ich habe aber auch wirkliche Fehler gemacht. Niemand, der in einem solch komplexen Prozess involviert ist, kann keine Fehler machen. Die Wirtschaftskrise erreichte Brasilien erst 2014. Ich habe damals die Privatunternehmen von Steuern befreit, um Arbeitsplätze zu erhalten. Was haben die Privatunternehmen getan? Sie haben ihre Profite steigern können, ohne die Produktion oder die Beschäftigung zu erhöhen. Dadurch verloren wir Steuereinnahmen. Unser Haushaltsbudget wurde noch unsicherer. Das war ein Fehler. Ein weiterer Fehler war weniger vermeidbar. Man kann ein Land wie Brasilien nicht regieren ohne Koalition. Man bringt alleine keine Gesetze durch. Ein furchtbarer Fehler war die Ernennung meines Vizepräsidenten Temer. Er konspirierte gegen mich und brachte sich so an die Macht. Man kann ihm nicht trauen. Brasilien kann ihm nicht trauen.
Sie waren während der Diktatur als Guerillera im Untergrund aktiv. Können Sie uns etwas über diese Zeit berichten?
Damals wurde Brasilien abgeriegelt. Niemand konnte mehr Kritik äussern, andernfalls wurden sie für eine lange Zeit ins Gefängnis gesteckt. Die Repression war sehr hart. Meine Generation war stark davon betroffen. Also gingen wir in den Widerstand. Der Widerstand konnte nur im Untergrund stattfinden, weil, wenn man zum Beispiel gegen die Verschlechterung der ArbeiterInnenrechte protestierte, man ins Gefängnis gesteckt wurde. Ab 1970 begann die Regierung, AktivistInnen umzubringen. Viele Leute, mit denen ich zusammenarbeitete, wurden in jenen Zeiten umgebracht. Ich bin im Januar 1970 ins Gefängnis gekommen. Ich hatte Glück und überlebte. Trotzdem war es eine sehr schwere Zeit. Man wurde als Gefangene sofort gefoltert, damit man seine GenossInnen verriet. Es war ein Kampf gegen die Zeit. Es gibt keine HeldInnen unter der Folter. Etwas habe ich gelernt aus dieser Erfahrung: Wie man standhält. Die Folter damals und der Putsch heute werden mich nicht unterkriegen.
Wurden die Personen, die Sie und die anderen gefoltert haben, jemals zur Verantwortung gezogen?
In der Übergangszeit von der Diktatur zur Demokratie wurde eine Amnestie für die Folterer verhandelt. Sie wurden also nicht verurteilt. Diese Abmachung wurde unter den Eliten in der Übergangszeit verhandelt. Erst 2011 gab es eine Wahrheitskommission. Bei der Veröffentlichung des Abschlussberichts musste ich weinen. Für mich gab es nicht nur einen politischen, sondern auch einen persönlichen Bezug dazu. Es gibt Menschen, die ich kannte, die nicht überlebt haben, die nicht die Chance hatten, weiterzuleben. Sie hatten nicht die Chance, Kinder und Enkel zu haben.
Sie wussten, dass Sie Ihr Leben riskieren, und haben trotzdem im Untergrund gekämpft?
Was die Leute in einer solchen Situation dazu bringt, zu kämpfen, ist die Überzeugung, dass man für eine bessere Welt kämpft. Wir waren überzeugt davon, wir waren uns absolut sicher, dass wir für eine bessere Welt kämpften. Die Kraft, die uns vorantrieb, war der Glaube an die Demokratie. In Brasilien wurde immer wieder durch Putschs, Notstandsgesetze und «Retter des Vaterlands» die Demokratie reduziert; dadurch wurde auch die Möglichkeit eines sozialen Wandels reduziert oder eliminiert. Ich glaube, wir können nur in der Demokratie gewinnen und wir verlieren, wenn die Demokratie angegriffen wird.