Mit Anlauf in die Repression

flo. Über die Palästina-Demo in Bern vom 11.Oktober wird seit Wochen Empörung zur Schau gestellt. Dabei zeigen Forderungen von rechts, dass die Entrüstung Wasser auf die Mühlen von repressiven Polizeistaatsfans ist.

Vielleicht ist einfach zu lange nichts mehr in der Schweiz passiert. Denn es scheint so, als hätten sich alle Medien, ob Leitmedium oder aus der Nische, entschieden, dass jetzt Zeit für Empörung, Entrüstung und höchstwahrscheinlich auch eine gehörige Portion Übertreibung ist: Der Schreiber dieser Zeilen war im Ausland, als die Demo in Bern stattfand. Ein Glück, könnte man meinen. Denn die Schockwellen der «Gewaltorgie», wie man im Blick las, hätte er sonst vermutlich bis ins Mittelland gespürt. Dass Bern bei seiner Rückkehr noch stand, hätte man aus den Zeitungen auch nicht herauslesen können. » Weiterlesen

Rausgeschmissen

sit. Im Rahmen der Roten Kulturtage in Zürich waren zwei Veranstaltungen zu Palästina im Volkshaus geplant. Doch die Volkshausstiftung hat den Vertrag kurzfristig aufgehoben. Tragisch, auch weil sie im Mai 2023 einen rechtsesoterischen, faschistoiden Anlass zuliess ? wegen der angeblichen Meinungsfreiheit.

Die mediale Hetze, mit welcher der Schrei nach noch mehr Polizeirepression nach den Vorfällen an der Demo in Bern vom 11.Oktober (siehe auch Artikel oben) durchs Land getragen wird, zeigt ihre Auswirkungen: Das Volkshaus Zürich ist vom Mietvertrag mit den Organisator:innen der Roten Kulturtage zurückgetreten. Eine interne Überprüfung habe ergeben, dass bei zwei geplanten Veranstaltungen angeblich Gewalt verherrlicht und Gegner:innen entmenschlicht würden. Diese Inhalte widersprächen dem Leitbild des Hauses, das rassistische, antisemitische oder gewaltverherrlichende Veranstaltungen ausschliesse. » Weiterlesen

Machtkampf um den Schweizer Finanzplatz

dom. Droht der Schweiz nach der CS auch der Verlust der UBS? Gerüchte über einen US-Hauptsitz treffen auf Berns Pläne für härteres Eigenkapital. Der Konflikt dreht sich weniger um Stabilität als Interessenpolitik: Profit vs. Standort – der Kompromiss ist absehbar, die Risiken bleiben.

Gerade mal zwei Jahre nach dem Crash der Credit Suisse droht der Schweiz, dem Land der Banken, der Verlust ihrer zweiten Grossbank. Anfang September behauptete die «New York Post», es hätten Gespräche zwischen der UBS und der Trump-Regierung stattgefunden, die auf eine Verlegung des UBS-Hauptsitzes von Zürich in die USA abgezielt hätten. Die UBS könnte mit dem Kauf einer US-Bank und mit der Übernahme deren juristischen Sitzes zu einer US-amerikanischen Bank werden, spekulierte «Wall-Street»-Reporter Charlie Gasparino. » Weiterlesen

Gebären unter Zwang

lmt. Jede vierte Frau in der Schweiz erlebt Gewalt unter der Geburt – in einem System, das Effizienz über Empathie stellt. Das ist kein Einzelfall, sondern ein Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Frauen, die gebären, fordern jetzt Respekt, Würde und echte Selbstbestimmung.

«Wir hören Sie schon schreien, aber wir haben keine Zeit.» Sätze wie dieser bleiben haften. Gesagt in einem Moment, in dem ein Mensch zwischen Schmerz, Angst und Hoffnung pendelt. Gesagt von einer Fachperson, die helfen sollte – und doch verletzt. Solche Erlebnisse sind keine Ausnahmen. Laut einer Studie der Berner Fachhochschule berichten 27 Prozent der Frauen in der Schweiz, sie hätten während der Geburt Zwang, mangelnde Aufklärung oder Übergriffe erlebt. Manche werden unter Druck gesetzt, in Eingriffe einzuwilligen, die sie kaum verstehen. Andere erfahren Demütigungen, Abwertung oder Missachtung ihres Willens. » Weiterlesen

Von der Empörung zum organisierten Kampf übergehen

sit. Zwei Generalstreiks, der erste am 21.September, der zweite am 3.Oktober, mobilisierten über zwei Millionen Menschen auf die Strassen und Plätze von ganz Italien in Solidarität mit Palästina und der Sumud Global Flotilla. Wie kam es dazu? Und: Was wird oder was kann aus der Bewegung werden?

«Die Empörung über die Art und Weise, wie die Regierung ihre Beziehungen zu Israel gestaltet, und über ihre offen erklärte Komplizenschaft mit einem genozidalen System bilden den auslösenden Faktor», schreibt der Dachverband der Basisgewerkschaften «Unione Sindacale di Base» (USB). Und weiter: «Das Entsetzen angesichts des wiederholten und offen gerechtfertigten Massakers auf der einen Seite und der Ekel über die fortgesetzte Heuchelei jener, die uns regieren, sind die Zutaten dieser Mobilisierung.» Diese Beschreibung widerspiegelt die Stimmung und Gefühlslage vieler Menschen in Italien sehr gut. » Weiterlesen

Nicht in meinem Namen!

sit. «Kein Zürcher Geld für den Genozid»: Mit dieser Petition fordert die Partei der Arbeit, dass die indirekte Mitfinanzierung des Genozids in Palästina durch die Pensionskasse der Stadt Zürich unverzüglich gestoppt wird. Denn diese investiert Gelder in Finanzinstitute, die am Völkermord beteiligt sind.

«Echt jetzt? Mit meinem Geld aus der Pensionskasse wird der Genozid in Palästina mitfinanziert?», fragt Lorena (Name geändert). Ihr Gesichtsausdruck verrät, dass sie es kaum glauben kann. Sie nimmt den Kugelschreiber in die Hand und sagt: «Natürlich unterschreibe ich die Petition.» Und beim Unterschreiben erklärt sie: «Das habe ich nicht gewusst.» So wie es der etwa 30-jährigen Lehrerin geht, geht es auch der grossen Mehrheit der Arbeiter:innen und Angestellten der Stadt Zürich: Sie sind alle bei der Pensionskasse der Stadt Zürich (PKZH) versichert, zahlen also dort ihre Beiträge ein – ohne zu wissen, dass die PKZH Gelder in Finanzinstitute investiert, die direkt am Genozid in Palästina mitverantwortlich sind. Die Petition «Kein Zürcher Geld für den Genozid» der Partei der Arbeit Zürich (PdAZ) fordert unter anderem den «sofortigen Rückzug sowie die Offenlegung» dieser indirekten Investitionen der PKZH in den Genozid. Aber der Reihe nach. » Weiterlesen

Mit dem ÖV in den Sozialismus?

Einen Franken pro Tag für den öffentlichen Verkehr bezahlen? Das haben zwei von drei Stimmbürger:innen der Stadt Zürich vor anderthalb Wochen angenommen. Eigentlich naheliegend: Wenn der öffentliche Verkehr den Bewohner:innen der Stadt Zürich gehört, warum sollen diese pro Jahr Hunderte Franken für das Abo hinlegen? Ist das nicht sogar ein erster Schritt zum Sozialismus? Noch nicht die Fabriken, aber zumindest der öffentliche Verkehr, der real vergesellschaftet wird?

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Früherkennung darf kein Privileg sein

lmt. Oktober ist weltweit der Brustkrebsmonat – ein Moment der Solidarität, des Erinnerns, aber auch des Nachfragens. Denn während in der Schweiz Jahr für Jahr Tausende an Brustkrebs erkranken, entscheidet noch immer der Wohnort darüber, wie früh eine Diagnose gestellt wird – und damit oft auch, ob eine Frau überlebt.

Brustkrebs ist in der Schweiz die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Rund 6500 neue Fälle werden jährlich diagnostiziert, fast 1400 Frauen sterben daran. Dabei wäre vieles vermeidbar: Wird ein Tumor früh erkannt, steigen die Heilungschancen deutlich, und die Behandlungen verlaufen schonender, oft ohne Chemotherapie oder Brustentfernung. Doch die Realität zeigt ein anderes Bild – eines, das an der Kantonsgrenze Halt macht.

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«Allreal schafft Werte»

Das Vitus-Areal in Winterthur

Das Vitus-Areal in Winterthur

dom. Auf dem Vitus-Areal in Winterthur will Allreal aus der ehemaligen Rieter-Fläche einen Innovationsstandort formen: Neben Unternehmen wie der Landi sollen auch Firmen der Drohnen- und Rüstungstechnologie angezogen werden; der politische Rückenwind ist garantiert.

Im Juli 2023 übernahm das Schweizer Immobilienunternehmen Allreal das Vitus-Areal in Winterthur-Töss – für 96 Millionen Franken. Für die vorherige Besitzerin, die Maschinenfabrik Rieter, war das Areal für die eigenen Betriebe uninteressant geworden. «Wir sind überzeugt, dass Allreal der ideale Eigentümer ist, um das Areal gemeinsam mit der Stadt Winterthur weiterzuentwickeln», verkündete damals Thomas Oetterli, CEO der Rieter-Gruppe. Heute, rund zwei Jahre später, wird allmählich deutlich, in welche Richtung diese Entwicklung gehen soll.

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Ignorierte Mehrheiten

Demonstration im November 24 im Tessin für die Einheitskrankenkasse

flo. Mit den explodierenden Prämien verschieben sich auch die politischen Positionen der Schweizer Bevölkerung. Mehrheiten sprechen sich jetzt für eine Einheitskasse und gegen Spitalschliessungen aus. So bald werden sich diese Entwicklungen aber nicht in der politischen Realität umsetzen.

Für alle, die genauer aufs Portemonnaie schauen müssen, waren die letzten Jahre brutal. 2024 stiegen sie im Durchschnitt um 6 Prozent, 2023 waren es gar 8,7 und im Jahr davor 6,6 Prozent: Übers Band zahlt man in der Schweiz rund 25 Prozent mehr für Krankenkassenprämien als noch vor fünf Jahren.

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Familie: das neue Luxusgut

sah. In der Schweiz hinkt die Familienpolitik hinterher: Hohe Kosten, kurze Betreuungszeiten und mangelnde Unterstützung erschweren die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Viele Eltern entscheiden sich deshalb für weniger Kinder. Gleichzeitig hat sich das Familienbild verändert. Teil zwei zum Thema «Familienpolitik».

Alle sprechen von einem historischen Geburtenrückgang in der Schweiz, aber fast niemand tut etwas dagegen. Auf Instagram spricht Vera Perzl, die sich als Hebamme und Mama vorstellt, 2025 von einem Geburtenstreik gegen die unwirtliche Familienpolitik der Schweiz. Erziehungsberechtigte – hier sollen vor allem die Frauen erwähnt werden – finden sich wenige Wochen nach der Geburt dann am Arbeitsplatz wieder.

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Kapital schützt Profite – und wälzt Kosten ab

dom. Pharmakonzerne sichern ihre Profite: Gegen Trumps Zölle schaffen sie US-Kapazitäten, stocken Lager auf, verlagern ihre Produktion – und reichen allfällige Kosten nach unten weiter. Der Bundesrat bietet derweil Rückendeckung und kämpft um den Schweizer Pharmastandort.

Am 25.September verkündete Trump auf seiner Plattform «Truth Social», dass ab 1.Oktober 100 prozentige Zölle auf den US-Import von Original-Medikamenten (Generika ausgenommen) gelten sollen. Im Vergleich zum ersten kam dieser zweite «Zollhammer» weniger überraschend: Die Pharmaindustrie wurde zwar von den im August verhängten 39 Prozent Zöllen ausgenommen, war aber bereits zuvor unter Druck gesetzt worden: Roche und Novartis wurden von Trump brieflich aufgefordert, ihre Preise zu senken und Milliardeninvestitionen in den USA zu tätigen. Er werde hohe Zölle erheben, falls bis Ende September die Preise nicht gesenkt würden – in einem zweiten Schreiben wurden die beiden Pharmariesen kürzlich an den baldigen Ablauf der Frist erinnert.

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Die Welt sagt Nein – die Schweiz schweigt

lmt. Die Weltmehrheit hat entschieden: Atomwaffen sollen geächtet werden. Doch ausgerechnet die Schweiz, Hüterin der Genfer Konventionen, duckt sich weg – und verweigert den Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag. Eine Volksinitiative will das ändern.

Atomwaffen können ganze Städte auslöschen. Sie gefährden die Menschheit, die Umwelt und jede Vorstellung von Zukunft. Dennoch halten einige Staaten und ihre Eliten daran fest – weil die Drohung mit nuklearer Vernichtung ihnen geopolitischen Einfluss und wirtschaftliche Vorteile verschafft. Hier zeigt sich die nackte Perversion des Kapitalismus: Sicherheit und Leben von Milliarden Menschen werden dem Profit und Machtstreben einiger Weniger geopfert.

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Nächste Runde Prämienschock

flo. Am 23.September machte der Bundesrat publik, dass auch im nächsten Jahr die Kranken-kassenprämien steigen werden. Je nach Kanton drohen schmerzhafte Einschnitte – die Versicherungsindustrie wälzt die Kosten auf die Bevölkerung ab. Angesichts der Zustände im Gesundheitswesen ist diese Entwicklung besonders bedenklich.

Kann man schon von einer «Tradition» sprechen? Am 27.September 2023 titelte das SRF online: «Prämienschock 2024 – Berner Familie ‹Wir zahlen so viel Krankenkasse wie Miete›.» Genau ein Jahr später hiess es: «Arena zum Prämienschock – Woran krankt unser Gesundheitssystem?» (Wir haben eine Antwort, dazu später mehr). Und heuer, etwas früher im September, bereits am 23., schrieb das SRF: «Krankenkassenprämien steigen erneut deutlich».

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Mit Butter zu Kanonen

Gaudenz Pfister. In der ersten Sessionswoche hat der Nationalrat beschlossen, die 13. Monatsrente der AHV über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu finanzieren. Letzte Woche hat der Ständerat über die Mehrausgaben bei der Rüstung debattiert. Bei beiden Geschäften geht es darum, wer für Ausgaben bezahlen muss, die unausweichlich sind.

Vor hundert Jahren brauchte es noch den Hurra-Patriotismus, um die Kosten für die militärische Aufrüstung zu verteilen. Der Slogan «Kanonen statt Butter» im deutschen Kaiserreich sollte die Bevölkerung ermutigen, die Armut zugunsten der Aufrüstung zu ertragen. H

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Freisprüche und einschüchternde Anzeigen

Solidarität für die Angeklagten vor dem Gerichtsgebäude.

flo. Bereits zum zweiten Mal innerhalb von vier Monaten werden mehrere Aktivist:innen vor dem Bezirksgericht Winterthur freigesprochen. Die Anzeigen durch die Polizei zielen auf Einschüchterung – scheinen aber vor allem in höheren Kosten und beschäftigten Gerichten zu resultieren.

Landfriedensbruch – der liebste Wackelparagraf der Schweizer Polizei – sieht Strafen von bis zu drei Jahren oder Geldstrafen für Personen vor, die an einer «Zusammenrottung» teilnehmen, von der Gewalt gegen Sachen oder Menschen ausgeht. Das kann ein brutaler Angriff mit Schwerverletzten sein oder eben das Besprayen eines Trams durch Fussballfans – nicht wirklich vergleichbar. Genau das dürfte den Landfriedensbruchpassus aber so interessant für die Polizei machen – er lässt sich als Drohszenario auf unzählige Situationen anwenden. » Weiterlesen

Scherbenhaufen Familienpolitik

sah. Bezüglich Familienpolitik hinkt die Schweiz hinterher. Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter zu verbessern, wären entsprechend neue Rahmenbedingungen nötig. Eine erste Bestandesaufnahme. Teil 2 folgt in der nächsten online-Ausgabe.

Es gibt Leute, die sprechen bereits von einem Geburtenstreik, der in der Schweiz stattfinde – viele Leute checken nicht, was da abgeht!

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Die Schweiz ist mitverantwortlich

sit. Anfang August erhielt der Bundesrat einen eingeschriebenen Brief von 207 Personen. Sie fordern die Landesregierung auf, den sich aus dem Völkerrecht ergebenden Pflichten endlich nachzu-kommen, denn die Eidgenossenschaft hat bisher gegen den Genozid in Gaza nichts Substantielles unternommen, gar das Gegenteil ist der Fall.

«Die Schweizer Regierung ist durch ihre Haltung in Verletzung von Art.1 Genozi-dkonvention mitverantwortlich für den mutmasslichen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung. Wir fordern den Bundesrat deshalb auf, in Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen unverzüglich die dringend notwendigen Massnahmen zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung zu ergreifen», heisst es in den Schlussfolgerungen des eingeschriebenen Briefs vom 9.August an den Bundesrat. Verfasst wurde das Schreiben von den Rechtsanwälten Marcel Bosonnet, Florian Wick und Philip Stolkin. Am Ende unterzeichneten 204 weitere Personen.

Keine Waffenlieferungen, keine Investitionen
Zu Beginn des 17-seitigen Schreibens heisst es: «Die Unterzeichnenden fordern den Bundesrat auf, in Befolgung der Genozidkonvention Art.I unverzüglich folgende Massnahmen zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung zu ergreifen.» Es sind insgesamt elf Massnahmen, sprich klare Forderungen, so wie jene, die als erste genannt wird: «Jegliche Ausfuhr von Waffen oder militärischen Geräten nach Israel ist zu verbieten. Güter mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-Use-Güter) sind durch das Verbot mitumfasst. Ebenso ist der Land- und Luftraum für deren Transfer über das Hoheitsgebiet der Schweiz zu schliessen.» Zweites soll «die Einfuhr aller Produkte und Waren, die aus den israelischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten stammen könnten, verboten werden.» Als Drittes folgt, dass «Investitionen, die zur Aufrechterhaltung der rechtswidrigen Besetzung Palästinas beitragen, soweit die Unternehmen der Schweizer Gerichtsbarkeit unterliegen, zu untersagen» sind. Damit verbunden ist die Forderung: «Jegliche Geldtransfers über Schweizer Banken oder andere von der Schweiz aus operierende Finanzinstitute an Siedler:innen und Siedlerorganisationen in den besetzten palästinensischen Gebieten sind zu unterbinden.» Auch weitere Massnahmen betreffen die wirtschaftliche und finanzielle Kooperation der Schweiz mit Israel. Das hat seinen Grund: Israel ist der viertwichtigste Handelspartner der Schweiz im Nahen Osten und Nordafrika, mit einem Handelsvolumen von 1675 Milliarden Franken im Jahr 2023.

Rechtliche Begründung
Die rechtlichen Begründungen für diese Massnahmen stützen sich unter anderem auf Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) und des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Bereits 2004 stellte der IGH die Rechtswidrigkeit des Befestigungswalls auf palästinensischem Gebiet fest. Auch der UN-Sicherheitsrat bekräftigte im Jahr 2016 die Rechtswidrigkeit der israelischen Siedlungspolitik (Resolution 2334 vom 23.Dezember 2016), basierend auf der Vierten Genfer Konvention. Am 26.Januar 2024 traf der IGH im Verfahren Südafrikas gegen Israel eine einstweilige Anordnung: Israel müsse unverzüglich «alle ihm zur Verfügung stehenden Massnahmen» ergreifen, um einen drohenden Genozid nach Art.II der Genozidkonvention zu verhindern. Konkret müsse Israel Handlungen gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza unterlassen, die Tötung, schwere körperliche oder psychische Schäden, absichtliche Herbeiführung lebensfeindlicher Bedingungen sowie Massnahmen zur Verhinderung von Geburten umfassen.
Ein Völkermord nach Art.II der Genozidkonvention umfasst alle Handlungen, die darauf abzielen, eine nationale, ethnische, «rassische» oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise «als solche» zu zerstören. Laut IGH bestehen hinreichende Anhaltspunkte, dass Israel im Rahmen seiner Militäroperationen in Gaza einige dieser Handlungen begangen hat. Genannt wird in der Begründung auch Artikel 89 Abs.1 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen. Er verpflichtet die Vertragsparteien, und damit auch die Schweiz, bei schwerwiegenden Verletzungen gemeinsam wie einzeln tätig zu werden. «Dennoch hat die Schweiz bislang keine wirksamen Vorstösse unternommen. Art.I der Genozidkonvention von 1948 verpflichtet die Vertragsstaaten, Völkermord zu verhindern und zu
bestrafen – unabhängig davon, ob er in Friedenszeiten oder Krieg begangen wird», ist im Schreiben zu lesen.

Genozidkonvention wiederholt verletzt
Das Schreiben geht dann auf die Lage in Gaza ein. Dabei erinnert es unter anderem daran, dass die gesamte Bevölkerung unter «akuter Ernährungsunsicherheit leidet». Laut der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) der UNO, einem internationalen Bewertungssystem für Ernährungslagen, sind 470000 Menschen von katastrophalem Hunger bedroht, über 71000 Kinder sowie mehr als 17000 Mütter benötigen dringend medizinische Behandlung.
Unter Punkt 3 geht das Schreiben auf die «Haltung der Schweiz» ein und hält gleich fest: «Die Schweiz hat gegen die durch Israel begangenen Kriegsverbrechen bis heute nichts Substantielles unternommen. Vielmehr verhinderte sie, dass solche Massnahmen ergriffen werden. Die Schweiz ist dadurch bis heute ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung nicht nachgekommen und verletzt damit wiederholt die Schutzpflicht der
Genozidkonvention.» Mit der Unterzeichnung der Genozidkonvention übernahm die Schweiz gemäss Art.I eine Schutzpflicht, die auch Völkermord und Kriegsverbrechen im Ausland einschliesst. Erinnert wird aber auch daran, dass sich die «Pflicht zur Durchsetzung des Völkerrechts» auch aus der Bundesverfassung
ergibt: Schweizer Staatsorgane müssen das Völkerrecht im eigenen Verantwortungs-bereich durchsetzen, wenn andere Staaten es verletzen. Die Resolution 60/158 der UN-Generalversammlung vom 16.Dezember 2005 betont, dass Staaten bei der Terrorismusbekämpfung die Menschenrechte und Grundfreiheiten respektieren und gewährleisten müssen. Diese Resolution wird von Israel seit Jahren verletzt, ohne dass die Schweiz wirksame Schutzmassnahmen für die palästinensische Bevölkerung ergreift.

Anklageschrift und Lehrstunde
Wie bereits erwähnt, ist Israel ein wichtiger Handelspartner für die Eidgenossenschaft. Wenn auch nicht explizit so festgehalten, macht das Schreiben Folgendes deutlich: Für die offizielle Schweiz sind die wirtschaftlichen Interessen – und die damit verbundenen Profite der Schweizer Unternehmen – von viel grösserer Bedeutung als das Leiden der Menschen in Gaza. Der Brief hält fest, dass trotz «der Kenntnis über den mutmasslichen Genozid» die Schweiz weiterhin «ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel unverändert» beibehalten hat. Anders als beim Russland-Ukraine-Krieg, wo die Schweiz ab dem 28.Februar 2022 umfassende EU-Sanktionspakete umsetzte, wurden gegen Israel «keine vergleichbaren Massnahmen ergriffen, obwohl ein Schutzgebot der Genozidkonvention besteht.»
Der Brief an den Bundesrat ist eine Anklageschrift und zugleich eine Lehrstunde im Völkerrecht. Er kann auf der Website dieser Zeitung als PDF heruntergeladen werden – es lohnt sich!

Siehe auch Interview mit Marcel Bosonnet

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