Doppelte Diskriminierung

lmt. Vom 25. November bis 10. Dezember engagieren sich über 300 Organisationen in der Schweiz gegen geschlechts-spezifische Gewalt. Jedes Jahr rückt sie ein anderes Thema in den Fokus. 2025 steht eine Realität im Zentrum, über die kaum jemand spricht.

Jedes Jahr wird zwischen dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und dem Tag der Menschenrechte geschlechtsspezifische Gewalt in all ihren Formen ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Dieses Jahr steht endlich jene Realität im Zentrum, die viel zu oft übersehen wird. «Frauen mit Behinderungen gelten oft als geschlechtslos, als asexuell, als schwach», erklärt eine Fachfrau der Kampagne. «Diese Zuschreibungen machen sie besonders verletzlich.» Tatsächlich sind viele Betroffene gleich mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt – dies schafft Strukturen, die Gewalt begünstigen und ihre Aufarbeitung verhindern.
Gerade deshalb setzt das diesjährige Fokusthema der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» ein starkes Zeichen: Es macht eine Form von Diskriminierung sichtbar, die lange im Schatten stand – und über die kaum jemand spricht: die Gewalt an Frauen und queeren Menschen mit Behinderungen.

Die doppelte Unsichtbarkeit
Frauen und queere Personen mit Behinderungen erleben zwei- bis viermal häufiger Gewalt als Menschen ohne Behinderung. Besonders gefährdet sind jene, die auf Unterstützung angewiesen sind, in Institutionen leben oder mit unsichtbaren Behinderungen leben. Die Formen der Gewalt sind vielfältig – Übergriffe, Kontrolle, Vernachlässigung, Machtmissbrauch. Viele dieser Gewalttaten finden dort statt, wo eigentlich Schutz und Unterstützung versprochen werden.
Eine Frau, die nicht «Nein» sagt, weil sie sonst ihre Assistenz verliert. Eine queere Person im Rollstuhl, der nicht geglaubt wird. Bewohner:innen in Institutionen, deren Grenzen täglich überschritten werden. Das sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck eines strukturellen Problems. Gewalt, die nicht gesehen wird, kann sich ungestört weiterwirken.
Menschen mit Behinderungen sind in der Öffentlichkeit kaum sichtbar – weder in Medien noch in der Politik. Sie fehlen in Statistiken, in Schutzkonzepten, in der Vorstellung dessen, wer als «Betroffene:r» gilt. Frauen und queere Menschen mit Behinderungen werden zudem oft als geschlechtslose Wesen dargestellt. Das ist nicht nur diskriminierend, sondern gefährlich: Wer als nicht-sexuell wahrgenommen wird, gilt auch nicht als mögliches Opfer sexualisierter Gewalt.
So kreuzen sich Diskriminierungen – Geschlecht, Behinderung, Migration, Sexualität oder Alter – zu einem Netz, das Betroffene doppelt ausschliesst. Intersektionale Gewalt bedeutet, dass viele gar keinen Zugang zu Schutz oder Unterstützung haben, weil die Systeme, die helfen sollen, sie nicht mitdenken.

Verpflichtungen ohne Umsetzung
Mit der Istanbul-Konvention und der UNO-Behindertenrechtskonvention hat sich die Schweiz verpflichtet, Gewaltprävention inklusiv und diskriminierungsfrei zu gestalten. Auf dem Papier klingt das gut. In der Realität fehlt es an Umsetzung, Ressourcen und politischem Willen. Nur wenige Frauenhäuser sind barrierefrei. Beratungsstellen haben kaum Mittel für Webseiten in leichter Sprache, Gebärdensprachdolmetscher:innen oder Schulungen für Fachpersonen. In Institutionen fehlen klare Präventionskonzepte, Beschwerdemöglichkeiten oder Schutzräume.
Gewaltprävention ist kein Luxus, sie ist ein Menschenrecht. Und sie kostet weit weniger als das Schweigen. Wenn die Schweiz von Gleichstellung spricht, darf sie nicht jene vergessen, die gleich mehrfach ausgeschlossen werden.
Gewalt ist nicht nur Folge, sondern auch Ursache von Behinderung. Vernachlässigung, psychische Gewalt, fehlende Gesundheitsversorgung oder strukturelle Diskriminierung machen Menschen krank. Gewalt an Menschen mit Behinderungen ist damit auch ein Angriff auf das Recht, gesund zu leben. Die Trennung zwischen «Pflege» und «Schutz» ist künstlich. Wer Betroffene wirklich schützen will, muss ihre Lebensrealitäten verstehen – und die Barrieren abbauen, die den Zugang zu Hilfe verhindern.
Um Gewalt zu verhindern, braucht es Sichtbarkeit, Aufklärung und Partizipation. Menschen mit Behinderungen müssen an der Entwicklung von Strategien beteiligt werden – nicht als «Betroffene», sondern als Expert:innen ihres Lebens. Ihre Perspektiven gehören in die Politik, in die Medien, in feministische Bewegungen. Ohne sie bleibt der Kampf gegen Gewalt unvollständig.

Kein Privileg
Geschlechtsspezifische Gewalt und Behinderung sind keine Randthemen. Sie zeigen, wie tief strukturelle Ungleichheit in unserem System verankert ist. Wer diese Gewalt ignoriert, verteidigt den Status quo – und damit auch die Gewalt selbst. «Es ist traurig, dass wir im Jahr 2025 immer noch auf Gewalt gegen Frauen und queere Personen aufmerksam machen müssen. Das habe ich bereits letztes Jahr gesagt und auch die Jahre davor. Solange sich die Geschichte wiederholt, wiederholen wir unsere Forderungen», sagt die feministische Aktivistin Rita Maiorano.
Doch die Geduld ist am Ende. Seit 2018 ist die Istanbul-Konvention in Kraft. Sie verpflichtet die Schweiz, umfassende Massnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu ergreifen – für alle. Doch die Realität zeigt: Die Opferzahlen steigen, die Ressourcen schrumpfen, und der politische Wille verdunstet. Wenn jedes Jahr dieselben Forderungen gestellt werden müssen, ist das kein Zufall, sondern ein Armutszeugnis. Für die Schweiz, für die Politik, für unsere Gesellschaft. Denn Sicherheit ist kein Privileg. Sie ist ein Recht. Und solange dieses Recht nicht für alle gilt, ist kein Mensch wirklich sicher.

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